Stephen King: „Der Anschlag“
Was wäre, wenn…?
Stephen King: „Der Anschlag“ (Roman)
Was wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, in die Vergangenheit zu reisen? Und man darüber hinaus noch die Chance hätte, die Weltgeschichte neu zu schreiben, Meschenleben zu retten und vielleicht alles zum Besseren zu ändern? Wäre man wirklich bereit dazu? Oder ist die Frage eher, welchen Preis man dafür zahlen würde?
Von Stefanie Feineis.
Der frisch geschiedene Englischlehrer Jake Epping bekommt unerwartet die Chance seines Lebens: Sein Bekannter Al enthüllt ihm, dass sich im Keller seines Diners ein Zeitportal befindet, mit dem man ins Jahr 1958 zurückreisen kann. Anfangs ist Jake natürlich mehr als skeptisch, doch ein kurzer Trip in die Vergangenheit überzeugt ihn…
Eine einmalige Chance
Wie Jake am eigenen Leib erfährt, unterliegen Zeitreisen bestimmten Regeln: egal, wie lange man in der Vergangenheit bleibt, in der Gegenwart vergehen stets nur zwei Minuten. Trotzdem altert man selbst weiter, und kehrt also unter Umständen gealtert zurück, wenn man mehrere Jahre in der Vergangenheit zubringt. Zudem ist „jeder Trip der erste“: man landet bei jeder neuen Zeitreise exakt am gleichen Tag, dem 9.September 1958, und es geschehen stets dieselben Ereignisse, die der Zeitreisende jedoch durch sein Verhalten geringfügig verändern kann. Entwicklungen von vorherigen Reisen werden also mit jedem Neustart wieder aufgehoben. Zunächst nutzte Al diese Entdeckung nur, um in der Vergangenheit billige Lebensmittel für sein Diner zu kaufen. Doch nach und nach reift in ihm ein Plan, und er beginnt, zu experimentieren. Als es ihm gelingt, ein Mädchen vor einem Unfall zu retten und somit zu verhindern, dass diese in der Gegenwart im Rollstuhl sitzt, ist er sich seiner Sache sicher. Bevor er jedoch von den Nachforschungen zur Umsetzung seines Planes übergehen kann, wird bei ihm Krebs diagnostiziert. Gesundheitlich schwer angeschlagen setzt er nun alle Hoffnung in Jake.
Ein waghalsiger Plan
Wie sich herausstellt, ist Als Plan nicht gerade ein Kinderspiel: Es geht um nichts Geringeres, als fünf Jahre in der Vergangenheit zu leben, um dann im Jahr 1963 die Ermordung Kennedys zu verhindern. Damit könnte man, so Al, unter anderem den Vietnamkrieg und die schweren Rassenunruhen verhindern, und die Geschichte der USA und der gesamten Welt neu schreiben. In einer besseren Version, selbstverständlich. Jake hat natürlich zunächst Bedenken und entschliesst sich zu einem Experiment, um selbst zu sehen, wie sich eine gravierende Änderung der Vergangenheit auf die Gegenwart auswirkt. Auf seinem zweiten Trip in die Vergangenheit hält er den Vater eines ehemaligen Schülers seiner Erwachsenenklasse davon ab, seine Frau und drei Kinder zu töten und Jakes zukünftigen Schüler zum Krüppel zu schlagen. Diese Rettung gelingt zwar, jedoch ist sich Jake nach der Rückkehr in die Gegenwart und einigen Nachforschungen nicht sicher, ob die Änderung wirklich zum Besseren war… aber bevor er richtig überlegen kann, stirbt Al, und dem Diner droht der Verkauf. Jake ist gezwungen, schnell zu handeln, und reist schliesslich erneut ins Jahr 1958. Was aber, wenn Kennedys zukünftiger Mörder nicht sein grösstes Problem ist? Was, wenn sich die Vergangenheit nicht ändern lassen will?
Mehr als nur eine Zeitreise
Dieses Buch beweist erneut, dass King zu Recht als einer der erfolg- und einflussreichsten amerikanischen Autoren der Gegenwart gilt. Der Leser ist sprichwörtlich in der Geschichte gefangen, und erwartet jede neue Entwicklung mit Hochspannung. Von den 1056 Seiten ist hier nicht eine einzige zu viel. Und das, obwohl das Konzept der Zeitreise schon mehrfach in Filmen und Romanen behandelt wurde und man nicht erst seit „Zurück in die Zukunft“ weiss, dass eine Veränderung der Vergangenheit meist negative Folgen hat und ein Paradoxon verursachen kann. Deshalb muss man davon ausgehen, dass Jakes Plan letztlich scheitern wird. Dennoch bleibt hier natürlich die Frage wie und warum, die King meisterlich zu inszenieren weiss. Und daneben ist dieses Buch kein reiner „Zeitreiseroman“. Stellenweise ist die detaillierte und liebevolle Beschreibung der Epoche fast wichtiger als der eigentliche Plot, und die Zeit von Elvis, Autokinos und Tanzveranstaltungen wird vor den Augen des Lesers genauso lebendig wie bekannte Figuren aus der Geschichte, darunter John F.Kennedy, Lee Harvey Oswald oder J. Edgar Hoover. Daneben schafft es King wie in jedem seiner Werke, seine ganz persönliche Note einzubringen. So führt Jakes erster Trip nach Derry – der fiktiven Kleinstadt in Maine, die allen Fans bestens bekannt sein dürfte. Und auch die Romantik kommt nicht zu kurz, und bleibt dabei doch stets bittersüss – wie man es von King gewohnt ist.
Obwohl King die mysteriösen Umstände von Kennedys Ermordung nicht wirklich aufklärt und die Auflösung nicht gänzlich unerwartet ist, ist dieses Buch unheimlich lesenswert. Fans von King kommen genauso auf ihre Kosten wie Anhänger der Zeitreisetheorie oder alle, die sich für amerikanische Geschichte interessieren. Mit diesem Roman ist klar: King ist zurück. In Bestform.
Titel: Der Anschlag
Autor: Stephen King
Übersetzer: Wulf Bergner
Verlag: Heyne
Seiten: 1056
Richtpreis: CHF 36.90