Miranda July: „Es findet dich“

Wie andere durchs Leben kommen

Miranda July: „Es findet dich“

Eigentlich sollten die Gespräche, die Miranda July in ihrem neuen Buch beschreibt, nur Mittel zum Zweck sein und sie bei der Arbeit an ihrem Drehbuch inspirieren. Doch ihre Neugier und die Faszination, die von ihren Gesprächspartnern ausgeht, gewinnen irgendwann die Überhand – zum Glück, denn ihnen verdanken wir dieses rührende Werk.

Von Lisa Letnansky.

EsFindetDichEs ist das Jahr 2009 und Miranda July, die multitalentierte Performancekünstlerin, Regisseurin und Schriftstellerin, befindet sich in einer Inspirationskrise. Zum einen ist ihr neues Drehbuch noch nicht ganz ausgereift und die heiss ersehnte Eingebung lässt auf sich warten; zum anderen befindet sich auch die Filmindustrie in der Finanzkrise und die Verhandlungen mit möglichen Investoren kommen nur sehr schleppend voran. Wie später die weibliche Protagonistin in ihrem Film „The Future“ klickt sie sich stundenlang durchs Internet und lässt sich in Erwartung der grossen Inspiration von mittelmässigen Filmchen berieseln. Da flattert plötzlich die Rettung ins Haus, ganz unerwartet und unscheinbar in Form des Kleinanzeigen-Heftchens PennySaver, das in Kalifornien wöchentlich in jeden Haushalt geliefert wird.

Geflissentlich beginnt July, jedes einzelne Inserat zu studieren, und wird allmählich neugierig auf die Menschen dahinter. Wer sind diese Leute, die Ochsenfrosch-Kaulquappen, ein siebenundsechzigteiliges Hobbymalset oder eine grosse schwarze Lederjacke verkaufen? „Ich wollte mehr wissen darüber, wie der Lederjacken-Anbieter dachte, wie er so den Tag verbrachte, über seine Hoffnungen und seine Ängste – aber davon stand nichts da. Dafür stand dort seine Telefonnummer.“ Das Vorhaben ist schnell gefasst. July, die keinerlei Berührungsängste zu kennen scheint, ruft die Inserenten an und überredet einige von ihnen zu einem Interview. Sie besucht die unterschiedlichsten Menschen überall im Grossraum Los Angeles und erkennt schnell, dass jeder von ihnen seine ganz eigene Geschichte zu erzählen hat.

Inspiration durch Kontakt

Mit einer entwaffnenden Offenheit lässt July sich auf die Menschen ein und fragt sie nach ihrem Leben aus, nach Kindheitserinnerungen und der Zeit, als sie am glücklichsten waren, immer getrieben von der einen Frage: „Eigentlich möchte ich immer nur eins wissen, nämlich, wie andere Menschen durchs Leben kommen.“ Und die Befragten erzählen und erzählen, als hätten sie nur darauf gewartet, dass sie endlich mal jemand fragt. Das überrascht kein bisschen, denn wer würde bei diesen grossen blauen Augen mit dem fragenden, leicht traurigen Blick nicht auf die Idee kommen, ihnen sein Herz auszuschütten? Überhaupt ist July bei der Lektüre der insgesamt zehn Interviews ständig präsent. Ihre ruhige, etwas spleenige Art, die sanfte Stimme und die aufrichtige Ausstrahlung scheinen geradezu prädestiniert dafür zu sein, noch die hintersten, verstecktesten Geheimnisse eines jeden hervorzulocken.

So erzählt Michael von seiner Geschlechtsumwandlung, die er nun, da er im Ruhestand ist, endlich durchziehen will (und sich darum von seiner Lederjacke trennt), der siebzehnjährige Hobby-Froschzüchter Andrew klagt über das amerikanische Bildungssystem, Ron zeigt stolz seine vielen Rabattmarken sowie seine elektronische Fussfessel, und der zwangsgestörte Domingo erklärt, warum seine riesige Bildersammlung von blonden Mädchen und lächelnden Babys gar nicht so unheimlich ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Und zu Joe, dem 81jährigen pensionierten Maler und Anstreicher, der seiner Frau neunmal jährlich eine selbstgebastelte Karte mit schlüpfrigen Limericks schenkt, entwickelt sie gar eine starke Zuneigung und Freundschaft bis zum Tod.

Wie ihnen allen gerecht werden?

Für July, deren halbes Leben sich im Internet abspielt, tut sich hier eine neue, sehr reale Welt auf, bevölkert von Menschen, die sie ohne den PennySaver ­– für sie ein Relikt aus einer alten, computerfreien Zeit – und ihre Initiative wohl niemals getroffen, geschweige denn kennengelernt hätte. „Es gab kein Gesetz dagegen, ihre Bekanntschaft zu machen, aber es passierte einfach nicht.“ Begleitet wird sie dabei jeweils von der Fotografin Brigitte Sire, deren Porträts der Aussenseiter-Figuren eine Authentizität ausstrahlen, die man sonst nur von Diane Arbus kennt.

Dass sie die hier gesammelten Erfahrungen und Geschichten, die manchmal skurril, manchmal beklemmend, meist aber ungemein rührend anmuten, irgendwie in ihren neuen Film einbauen muss, ist July schnell klar, doch all diesen so unterschiedlichen Charakteren dabei gerecht zu werden, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein: „Ich wusste, wenn ich wirklich die Menschen vorstellen wollte, die ich getroffen hatte, musste ich mich eines Tages an etwas Dokumentarisches wagen.“ Dies liegt nun in „Es findet dich“ vor, wobei sich das Buch nicht nur auf die Interviews beschränkt, sondern auch viel über Julys Leben, ihre Gedanken und ihre Arbeit an dem Film „The Future“ erzählt – den man sich nach der Lektüre unbedingt nochmals anschauen sollte!


Titel: Es findet dich
Autorin: Miranda July
Übersetzer: Clara Drechsler und Harald Hellmann
Verlag: Diogenes
Seiten: 224
Richtpreis: CHF 38.90


Im Netz

Auf Miranda Julys Homepage erfährt man mehr über die aktuellen und vergangenen Projekte des Multitalents. Unter anderem sind dort auch Video-Ausschnitte von den Originalinterviews zu sehen, die sie in „Es findet dich“ beschreibt.

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