Amélie Nothomb: “Den Vater töten“
Bittersüsse Magie
Amélie Nothomb: “Den Vater töten“ (Roman)
In einer Geschichte über Zauberkünste und ödipale Verflechtungen beschwört Amélie Nothomb einmal mehr eine latent bedrohliche Stimmung in einer absurden Erzählwelt hinauf.
Von Marianne Wirth.
Joe Whip ist ein talentierter Junge: Er beherrscht Kartentricks wie kein anderer. Der selbst ernannte Aussenseiter verbringt Stunden damit, sich selber Tricks beizubringen. Joe lebt mit seiner Mutter in Reno, der letzten grossen Stadt, bevor sich die Wüste über Nevada ausbreitet. Sie verkauft Fahrräder für die Gäste des alljährlich in der Wüste stattfindenden Burning Man Festivals. Cassandra ist ein launisches Wesen. So setzt sie ihren Sohn nach seinem 16. Geburtstag kurzerhand vor die Tür, um ihrem neuen Liebhaber Platz zu machen. Joe ist nun auf sich allein gestellt und verdient sein Geld in Hotelbars. Ein Unbekannter erkennt seine Fähigkeiten und schickt ihn zum grossen Meister, der sein Talent fördern soll. So macht sich Joe auf, den grossen Zauberkünstler aufzusuchen, der zufällig auch in Reno lebt. Norman Terrence nimmt den Jungen ohne zu fragen auf und bringt ihm weitere Tricks bei. Mehr noch, er behandelt ihn wie einen Sohn. Joe verliebt sich aber in Normans Frau und setzt es sich zum Ziel, seine ersten sexuellen Erfahrungen mit ihr zu machen. Ein Duell bahnt sich an zwischen der neuen Vaterfigur und dem falschen Sohn. Es steht fest: Die Rollen sind verteilt und der Vater muss getötet werden.
Trickreicher Ödipus
Wie in Sophokles’ Drama „König Ödipus“ sagt ein Orakel – hier in Gestalt eines Bargastes – das Ende der Geschichte voraus. Auch Joe Whip kennt seinen Vater nicht, klammert sich jedoch fortan buchstäblich an die Vorausdeutungen des Orakels. Der unbekannte Fremde schickt ihn zum „grössten Magier der Stadt“, um gut auf die Prophezeiung vorbereitet zu sein. Amélie de Nothomb vermag es mit knappen, pointierten Dialogen eine Welt zu erschaffen, in der sich die Figuren für kurze Zeit aufhalten. Kein Wort zuviel, keine Beschreibung ausufernd. Dies wirkt sich leider auf die Ausgestaltung der Figuren aus; sie wirken dadurch flach und eindimensional. Eine Entwicklung ist nicht möglich, da eine „Gut-Böse-Schiene“ die Handlung vorgibt. Dennoch – wie bei ihren früheren Romanen – liegt das Nothombsche im Schaffen einer bestimmten Atmosphäre. Ihre Erzählung ist von einer Spannung durchzogen. Nothomb ist Meisterin für absurde und skurrile Erzählwelten. Eine latent bedrohliche Stimmung breitet sich aus, ohne dass konkret etwas geschieht. Dies liegt zum Teil an den Gedanken des Jungen, die sich in die Dialoge einflechten, aber schlussendlich gedacht und für die anderen Figuren im Verborgenen bleiben. So entsteht eine Spannung, da der Leser mehr weiss über Joe Whip (was genau, kann nur erahnt werden) als die übrigen Figuren.
Feuerspiele
Joe Whip schickt sich also in das Familienleben des charismatischen Paars und die drei verbringen ein scheinbar idyllisches Jahr, in dem der Junge viel von seinem Ziehvater lernt. Er verfeinert seine Technik und beherrscht den Umgang mit Kartentricks immer besser. Sein persönlich erklärtes Ziel ist jedoch, Christina, die den imposanten Beruf der Feuertänzerin ausübt, zu verführen. Anders als Sophokles’ Ödipus weiss Joe genau, was er tut. Er will den Ziehvater aus dem Weg räumen. Nicht physisch blind, aber blind vor Wut plant er sein Vorhaben minutiös und leidenschaftlich. Die Motive des Jungen bleiben im Dunkeln. Am Burning Man Festival ist es dann soweit. Mithilfe von LSD gelingt es Joe mit Christina zu schlafen. Norman sieht sich herausgefordert und stellt den Jungen. Doch dies war nur der erste Schritt von Joe Whip, seinem selbst ernannten Vater zu schaden.
„Den Vater töten“ ist die Geschichte eines verlorenen Sohnes, der sich seinen Vater selber aussucht. Ausgerechnet sein Ziehvater, der sich des Jungen annimmt, als wäre er sein Sohn, bringt ihm die Vervollkommnung der Zauberkunst bei: Das Täuschen. Ohne es je anzuwenden, warnt der Mentor den Schützling davor, ohne Erfolg. Der falsche Sohn setzt das Täuschen und Tricksen ein wie eine Waffe, um den Ziehvater auszuschalten. Klar, scharf und ohne Umschweife – wie Nothombs Sprache selbst – nähert er sich seinem Ziel. Was als Grande Finale in der Wüste begonnen hat, endet in der Spielhölle von Las Vegas, einem Ort, den der Mentor bis zu diesem Augenblick zu meiden versuchte.
Titel: Den Vater töten
Autorin: Amélie Nothomb
Übersetzung: Brigitte Große
Verlag: Diogenes
Seiten: 128
Richtpreis: CHF 31.90