David Vann: „Die Unermesslichkeit“

Enklaven der Verzweiflung

David Vann: „Die Unermesslichkeit“ (Roman)

Nach „Im Schatten des Vaters“ erweist sich auch der zweite Wurf des in Alaska aufgewachsenen Autors David Vann als Werk von grosser Wucht und Tiefe. Wortgewaltig und mit einem Gefühl für eindrückliche Metaphern steigert er den kriselnden Ehealltag eines frustrierten Paares zu einem monumentalen Werk über die Einsamkeit des modernen Menschen.

Von Lisa Letnansky.

DieUnermesslichkeitIrene und Gary sind Mitte fünfzig, seit gefühlten Ewigkeiten verheiratet, und stehen an einem Scheideweg. Als Gary vor Jahrzehnten eine Auszeit von seiner Doktorarbeit nehmen wollte, packten sie ihre Sachen und fuhren nach Alaska. Dort sind sie noch immer, gestrandet und mittlerweile ein wenig desillusioniert. Sie beginnen, einander gegenseitig die Schuld dafür zu geben, dass ihr Leben nicht so verlief, wie sie es geplant hatten. Während Irene Alaska nie als Zuhause empfunden hat, zieht es Gary immer weiter in die Einsamkeit hinaus, auf der Suche nach einer verlorenen idyllischen Ära. Das Ufer ist ihm nicht genug, also kaufen sie sich ein Grundstück auf einer unbewohnten Insel, wo sie sich eine Hütte bauen wollen, ganz allein, ohne Hilfe, ohne Pläne, ohne Genehmigung, „als wären sie beide die ersten Menschen in dieser Wildnis.“

Frustration und Enttäuschung

Doch der Plan scheint von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Sie beginnen viel zu spät mit dem Bau, der Herbst kommt und eine klirrende Kälte bricht ein, die organisierten Baumaterialien entsprechen auf einmal nicht mehr ihren Vorstellungen und überhaupt erweist sich Garys handwerkliches Geschick als völlig unzureichend. Frustration und Enttäuschung macht sich in den beiden breit, und was mit kleinen Sticheleien beginnt, weitet sich bald in einen handfesten Ehekrieg aus. Irene, die zu allem anderen seit kurzem auch noch von unerträglichen, scheinbar unerklärbaren Kopfschmerzen geplagt wird und deren Ursprünge wohl psychosomatischer Natur sind, gibt sich anfangs in ihr Schicksal, eisern entschlossen, nie wieder verlassen zu werden. Als Kind wurde sie, nachdem sie ihre Mutter nach deren Suizid aufgefunden hatte, von Verwandten zu Verwandten herumgereicht, und nun hat sie sich in den Kopf gesetzt, dass Gary nur noch auf einen Grund wartet, die Ehe zu beenden. Ihre Schmerzen und Verlustängste erhalten langsam, aber sicher paranoide Züge, Gary gerät immer mehr unter Druck, und die Katastrophe scheint unausweichlich.

Innere und äussere Stürme

„Die Unermesslichkeit“ ist ein düsteres Meisterwerk über die Abgründe des Ehelebens, über die Frustration des Alters, verpasste Chancen und verlorene Träume. Davin Vann schildert die Alltagskämpfe eines Durchschnittsehepaars so, dass man als Leser das Gefühl bekommt, dem Psychokrieg zweier Übermenschen beizuwohnen, deren Innenleben sich auch in der Welt um sie herum manifestiert. Die über der Küste tobenden Stürme scheinen Sinnbilder für ihr tobendes Gefühlsleben, der frühe Schnee spiegelt die Kälte, die sich in ihrer Beziehung breit macht, die missratene Holzhütte ist eine Metapher für ein missratenes Leben. Die karge, weite Landschaft Alaskas erweist sich als ideale Projektionsfläche für die menschliche Seele: „Winzige Ortschaften in einer großen Weite, Enklaven der Verzweiflung.“ Das hat Gewicht, hat Wucht und Tiefe. Mehr als einmal stockt dem Leser der Atem, möchte man sich am liebsten abwenden und das Buch zur Seite legen, doch die Spannung und Kraft, die von Vanns Prosa ausgehen, hindern einen immer wieder daran.

Keine Fabel von Gut gegen Böse

Ergänzt wird die Geschichte um Irene und Gary durch jene ihrer beiden Kinder. Mark arbeitet auf einem Fischerboot, raucht gerne mal einen Joint und hält es mit seinen Eltern nicht mehr länger als ein paar Minuten aus. Rhoda wartet sehnsüchtig auf einen Heiratsantrag von ihrem Zahnarzt, obwohl sie fühlt, dass wahre Liebe etwas ganz anderes sein muss. Die vielen Perspektivwechsel erlauben dem Leser, alle Seiten kennenzulernen, wodurch verhindert wird, dass man sich zu stark mit einer einzigen Figur identifiziert. Mit viel Einfühlungsvermögen und Verständnis lässt sich Vann auf jeden seiner Charaktere ein und beleuchtet seine Motivation, seine Sorgen und Ansichten. So wird klar: Es gibt hier keinen „Bösewicht“ und kein klassisches Opfer, jeder ist zugleich Täter und Leidtragender, die Geschichte ist keine von Gut gegen Böse, sondern Schilderung des Scheiterns menschlicher Verbindungen.

Denn die Menschen in „Die Unermesslichkeit“ stehen zwar alle in enger Beziehung zueinander, doch Vann lässt keinen Zweifel daran, dass diese Beziehungen zufälliger und oberflächlicher Natur sind, dass im Prinzip jeder für sich allein lebt, mit seinen Ängsten allein steht und sich selbst der nächste ist. Ein atemberaubendes Werk, ehrlich, schonungslos und eindrücklich.


Titel: Die Unermesslichkeit
Autor: David Vann
Übersetzerin: Miriam Mandelkow
Verlag: Suhrkamp
Seiten: 351
Richtpreis: CHF 32.90

One thought on “David Vann: „Die Unermesslichkeit“

  • 01.05.2014 um 17:51 Uhr
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