NIFFF 2012: Vorschau

Lullabies, Sung In Hell

NIFFF 2012: Vorschau

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Der See, er ruft! Und unter seiner Oberfläche lauert einmal mehr das Abgründige, Staunenswerte und Groteske. Vom 6. bis zum 14. Juli 2012 findet wie jedes Jahr das Neuchâtel International Film Festival statt – und nahaufnahmen.ch ist wie immer mit dabei. Ein Blick auf einige (potentielle) Highlights.

When Musical Rocks
Owen Pallett hat einmal gesagt, das Musical sei die vollkommenste Kunstform in der Menschheitsgeschichte. Das NIFFF scheint zuzustimmen und widmet der fantastischen Spielerart des Gesamtkunstwerks, das sich wie kein anderes un/freiwillig gern bei Trash und Camp ansiedelt, eine Retrospektive. Und was für eine: Selten war die Floskel You name it, they got it treffender. Beginnend mit einer live begleiteten Aufführung von Metropolis wird quer durch das 20. Jahrhundert geschunkelt, und sie sind alle mit dabei: Keinen überraschen wird die Anwesenheit der immer gern gesehenen Grössen wie John Waters Tollen-Streit Hairspray, Sidney Lumets Post-Blaxploitation-Aneignung des Zauberers von Oz (The Wiz) oder die Rocky Horror Picture Show (mit ausdrücklichem Wunsch, die eigenen Strapse für den Time Warp einzupacken). Im Wohnzimmer reissen die üblichen Verdächtigen Witze (Little Shop of Horrors, Monty Python’s The Meaning of Life), während in der Küche Pink Floyd (The Wall), The Who (Tommy) und die Ramones (Rock ‘n’ Roll-Highschool) vor sich hinschloten. Und irgendwo da hinten in der Ecke steht eine Gruppe, mit der nun überhaupt niemand gerechnet hat, aber die man aus dem Winkel mit schruligem Interesse beäugt. (The Apple, Alice in Wonderland: An X-Rated Musical Fantasy, und die Troma-Trashbombe Cannibal! The Musical). Und. Noch. Viel. Mehr – nach dem Besuch des NIFFFs fehlt dann eigentlich nur noch eine Aufführung von Evil Dead – The Musical, und dann darf die Apokalypse ruhig kommen.


Internationaler Wettbewerb
Der internationale Wettbewerb bietet auf den ersten Blick vor allem Hausmannskost: Einen neuen holländischen Versuch, mit Proll-Humor zu punkten (New Kids Nitro); den üblichen auf Handwerk statt Originalität setzenden Horror (When The Lights Went Out) und die alljährlich wiederkehrenden Menschen, die sich ihres Verstandes nicht mehr sicher sein können und sicherheitshalber Richtung Horror abdriften (Citadel, Akam, The Path). Auch die alte Slasher-als-Charakterstudie-Masche darf nicht fehlen – in Maniac Red Band versucht Elijah Wood einmal mehr, sich in blutiger Weise seine Hobbitfüsse zu amputieren. Der voraussichtlich weniger verzweifelte Comeback-Versuch ist allerdings der von Horror-Filmmuse Barbara Steele (in The Butterfly Room).  Wer es gern schöngeister mag, darf versuchen, Zeitgeist abzuleiten aus der Tatsache, dass neben The Mooring (läuft am NIFFF unter der Kategorie Ultra Movies) auch der amerikanische Film Resolution die dunkle Seite des Menschen anhand eines blutigen Suchtentzugs durchexerzieren will – wobei zumindest letzterer zwischen jüngerer US-Indie-Schule und Psychohorror eine interessante Mischung hergeben könnte. Ebenfalls interessant ist der Versuch von Harald’s Going Stiff, ein Krankheits-Drama um einen Rentner mit Zombieelementen zu vermengen.
Müssten wir prophylaktisch einen Sieger küren, mit unserem bleiernen Händchen, das uns in den letzten Jahren zuverlässig zielgerichtet am künftige Gewinnern vorbei zeigen liess – wir würden Excision wählen: Das Portrait einer sehr (!) verwirrten jungen Dame wirkt, als hätte Brian de Palma beim Filmen von Carrie einen Lesezirkel gebildet mit John Waters (der im Film als Priester auftritt) und Alejandro Jodorowsky, in dem vor allem de Sade rezitiert und Meskalin konsumiert wurde. In anderen Worten: Wunderbar over the top.

Asiatischer Wettbewerb
Der asiatische Wettbewerb ist heuer südkorea-lastig: Mit My Way ist die bislang kostspieligste Filmproduktion des Landes am Start (die aber nicht nur durch ihr teal/orange-Entstellung auf den ersten Blick ein wenig bräsig wirkt), mit The Howling ein Thriller, der vorab offen lässt, ob er Standardkost ist oder einmal mehr zeigt, warum das Genre nirgendwo sonst so hart, souverän und doch immer wieder überraschend bedient wird; vervollständigt wird die Triole ist durch die Sci-Fi-Wundertüte Doomsday Book. Zumindest auf den ersten Blick vielversprechender scheinen die zwei japanischen Vertreter im Wettbewerb: Der jüngst als Stargast am NIFFF anwesende Sogo Ishii verfilmt unter seinem neuen Künstler-Namen Gakuryû das Theaterstück Isn’t Anyone Alive, in dem das Ende der Welt aus der Perspektive verschiedener Beteiligter geschildert wird. Wenn der Pate des übernervösen Punk-Kinos mit Volldampf einen Kurswechsel in der eigenen Karriere einschlägt, verlangt das unbedingt Aufmerksamkeit. Persönliche besondere Vorfreude gilt aber vor allem Takashi Miike, der wie jedes Jahr mindestens einen Film ans NIFFF bringt. Heuer ist es die Computerspiel-Verfilmung Ace Attorney, die die reizüberflutendste Spielart japanischen Humors und Überlänge aufzufahren scheint – nicht anders möchten wir es schliesslich auch haben, wenn Gerichtsprozesse mit der Verve eines Eurovision Song Contests ausgetragen werden.

Und sonst noch so…
Wie immer bietet das NIFFF auch Gelegenheit, Filme zu sehen, die noch nicht oder schändlicherweise gar nicht bei uns im Kino gelaufen sind: In diesem Jahr wird Holy Motors vorab gezeigt, mit dem Leos Carax sein lang erwartetes Comeback gab und in Cannes für Verwirrung und Begeisterung sorgte. Und Cabin In The Woods bietet für Buffy-Veteranen die Genugtuung, Drew Goddard und Joss Whedon endlich wieder einmal vereint zu sehen, während unbedarfte Avengers-Fan nachvollziehen können, warum 2012 nicht nur dank Thor und Co. als das Jahr des Whedons gelten darf.
Insgesamt scheint anno 2012 aber die Geschichte der Gegenwart den Schneid abzukaufen am NIFFF: Neben der Musical-Hommage wird auch der Found Footage-Kniff genauer betrachtet, mit dem das Horror-Genre mindestens seit Cannibal Holocaust (der in der ungeschnittenen Fassung gezeigt wird) koketiert; eine Gelegenheit, sich selbst davon zu überzeugen, unter welchen Bedingungen der subjektive Blick mehr sein kann als nur ein Deckmantel für die eigenen beschränkten Möglichkeiten. Und daneben wird dem japanischen Studio Nikkatsu zum 100. Geburtstag ein Kränzchen gewunden –  überreicht wird es ihm von den hauseigenen und weit über Japan hinaus stilprägenden Gangstern alter Schule (A Colt is My Passport, Branded to Kill) und leicht bekleideten Menschen jeglicher Façon: Nikkatsus Hochglanz-Antwort auf den pinku eigas, der euro-phil benannte Roman Porno, wird mit einer kleinen, aber hochkarätigen Auswahl vertreten sein. Nikkatkus Output der 60er bis 80er-Jahre ist zweifelsohne einer der Nährboden für das auf nahaufnahmen bekanntlich schamlos verehrte japanische Genre-Kino – insofern steht uns hier eine Geschichtslektion erster Güte und von höchster Unterhaltungsstufe bevor.


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