NIFFF 2012 – Internationaler Wettbewerb

Hobbychirurginnen, böse Brut und bemitleidenswerte Zombies

NIFFF 2012 – Internationaler Wettbewerb

Citadel

Obwohl uns dieses Jahr kein Film strahlend aus den NIFFF-Kinos kommen und überwältigt ein banales „Geil!“ vor uns hinhauchen liess, darf sich das NIFFF 2012 eines vielseitigen Wettbewerbprogramms rühmen. Der erste Eindruck, viel Horror nach bekannten Mustern zu sehen zu bekommen, bestätigte sich nur halb; einige Filme waren sich der Genreklischees durchaus bewusst und umgingen diese geschickt oder spielten neckisch mit ihnen. 7 der 13 Filme im Internationalen Wettbewerb schafften es in unser vollgepacktes Festivalprogramm – darunter auch der Gewinner.

Von Christof Zurschmitten und Lukas Hunziker.

Citadel (Ciaran Ford, Irland 2012)

Die „Citadel„, welcher dem diesjährigen Narcisse-Gewinner den Titel gibt, besteht aus drei grauen, trostlosen Hochhäusern, die in einem namenlosen irischen Vorort stehen. Aus dem Fenster der Lifttür, die nicht unerwartet wieder einmal klemmt und nicht auf den Knopfdruck reagiert, muss Thommy mitansehen, wie seine schwangere Freundin von drei kapuzenverhüllten Jugendlichen halb tot geschlagen und mit einer Spritze im Bauch zurückgelassen wird. Das Kind kann entbunden werden, die Freundin hingegen stirbt nach einigen Monaten im Koma. Der traumatisierte Thommy leidet ab diesem Moment unter Agoraphobie und ist daher kaum noch im Stande, das Haus, in welches er umgezogen ist (wie die „Citadel“ erneut der reinste architekturgewordener Sozialfall), zu verlassen. Als ihn ein verrückter Priester am Begräbnis seiner Freundin warnt, die Jugendlichen würden zurückkommen und sich das Baby holen, beginnt der Alptraum für Thommy jedoch erst richtig.

Der atmosphärisch dichte und kompromisslose Horrofilm hat seine starken Momente vor allem in der ersten Hälfte. Der agoraphobe, von Aneurin Barnard eindringlich gespielte junge Vater scheint kein anderes Ziel mehr zu haben, als seine Tochter zu beschützen – und doch ahnt man bald, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese in die Hände der maraudierenden Hoodiekids gerät. Die etwas absurde Erklärung für deren Existenz und Ziele nehmen dem Film der zweiten Hälfte allerdings etwas den Reiz, wodurch sich „Citadel“ in die lange Reihe jener NIFFF-Filme einreiht, die sich mit übereifrigen Erklärungsversuchen aller ungeklärten Hintergründe selbst in den Fuss schiessen. Dass der Film zudem dazu einlädt, ihn metaphorisch zu lesen, und auf dieser Ebene ohne Weiteres als exaktes Gegenteil von „Attack The Block“ vestanden werden kann, macht die Sache nicht unbedingt besser.

Dennoch: der Preis für den Film geht in Ordnung, denn an Intensität und Atmosphäre konnte „Citadel“ kaum ein anderer Wettbewerbsteilnehmer das Wasser reichen – eine Atmosphäre, die so abgewetzt, erschöpft und trostlos wirkt, dass der Film zudem eine wichtige Erwartung an sein Genre erfüllen kann: Er macht die diffuse Orientierungslosigkeit einer Nation im Griff der Finanzkrise immerhin andeutungsweise erfahrbar. „Citadel“ ist, nicht zuletzt, ein Horrorfilm mit dem Finger klar am abflachenden Puls seiner Zeit.

„Excision“ (Richard Bate Jr., USA 2012)

Excision

Der durchschnittliche amerikanische Leinwandteenager hat meist auch in der Rolle des hässlichen Entleins noch ein Modelgesicht – meistens  deshalb, weil er im Laufe der Handlung ein Makeover bekommt und zum Schwan wird. Nicht so in „Excision“. Wenn sie nicht gerade von ihrer Mutter (Traci Lord) in ein Kleid und zum Tragen von Make-up gewungen wird (siehe Bild), ist die junge Pauline (AnnaLynne McCord) wirklich ein hässliches Entlein mit allem, was dazu gehört – Akne, fettige Haare, Augenringe, eingefallene Schultern, schlurfender Gang. Doch nicht nur Paulines Äusseres macht sie zur Aussenseiterin; ihre Faszination für Blut, vor allem das eigene Menstruationsblut, teilen die wenigsten in ihrer Klasse – was Pauline sich durchaus bewusst ist, als sie plant, mit dem Freund einer ihrer Feindinnen zu schlafen, während sie menstruiert.

„Excision“ ist einer jener Filme, die halten, was ihr Trailer verspricht. Rabenschwarzer Humor und bissige Gesellschaftssatire paaren sich in Richard Bates Jrs erstem Spielfilm mit surrealen Horrorfantasien und durchaus gelungenem Familiendrama. Faszinierend macht den Film vor allem, dass wir uns, trotz ihrer ziemlich abartigen Neigungen, von allen Figuren am meisten mit Pauline identifizieren, da nur sie so etwas wie eine eigene Persönlichkeit hat und keine Projektion gesellschaftlicher Konsumfantasien ist. Im Gegensatz zu einigen anderen Filmen des Festivals weiss „Excision“ zudem genau, wo er aufhören muss, und dürfte trotz kleinerer dramaturgischer Mängel eines der Highlights des diesjährigen NIFFFs gewesen sein. Bedauerlich, dass sich dies weder in einem Preis noch einer Erwähnung niedergeschlagen hat.

„Resolution“ (Justin Benson/Aaron Moorhead, USA 2011)

Resolution

Neu ist das nicht: Ein Video, aus dem Nichts aufgetaucht, zeigt seltsame Begebenheiten. Ein Mann (Vinny Curran), offensichtlich schwer zugedröhnt, stellt darin just jene Art von Dummheiten an, die konsequenter Weise nur in unglücklichen Unfällen oder noch Schlimmerem enden müssen. Der Betrachter des Videos (Peter Cirella), der beste Freund des Mannes, entschliesst sich zur Rettung aus dem Elend, zu einer Reise zu einer Hütte am Ende der Welt. „Kein Empfang dort“, entschuldigt er sich bei seiner Freundin mit jener Standardlosung, die die vernetzte Gegenwart aus dem Genre des Horrorfilms verabschiedet.

Nein, neu ist das nicht: Das mysteriöse Artefakt, die einsame Hütte, der Krisenfall, der Austritt aus der Zivilisation… kennt man alles, zur Genüge. Doch gerade, als man befürchtet, in das auf Durchschnitt getrimmte Niemandsland der Videothekenmassstäbe abzutauchen, macht Jason Bensons und Aaron Moorheads Film klar: Auch er kennt das alles. Und noch viel mehr.

Kaum ist der Freund, in seiner Crystal Meth-Abhängigkeit so unberechenbar wie heillos verloren, per Handschelle sicher gestellt, macht sich sein Freund daran, das Terrain zu sondieren. Und kann kaum drei Schritte tun, ohne in das nächste Horrorfilm-Klischee zu tappen: Eine Irrenanstalt drüben am Berg, eine unheimlich fremdenfreundliche Sekte, geheimnisvolle Höhlen und ein Indianerreservoir, das die üblichen exotistischen Spiritualitäten und Gerüchte bereithalten soll: Zwischen Kabbeleien, Aggressionen und Heraufbeschwörungen der gemeinsamen Vergangenheit unter Freunden werden vermeintliche Erklärungen im Dutzendpack gestreut. Ironischerweise wird nur das Geheimnis selbst, auf das sie verweisen, nie richtig greifbar. Woher kommt dieser bedrohlichen Unterton, in den der Film getaucht sit? Im Dickicht der falschen Fährten wird immerhin, irgendwann, eines klar: dass die wichtigste, richtigste Spur von (falschen?) Bildern über (trügerische?) Texte hin zu (vermeintlich authentischen?) Ton- und Videoaufnahmen führt. Und, über den Lauf des Films hinweg, schliesslich auch zu einer Erkenntnis: „Resolution“ ist eine vierstufige Rakete Richtung Meta-Ebene, und ein, wie man so sagt, durch und durch cleverer Film.

Dagegen liesse sich, zumal es durchaus spannend und vergnüglich umgesetzt ist, auch gar nichts sagen. Nichts, ausser: „Resolution“ hat leider nicht dasselbe Vertrauen in die Cleverness des Publikums wie in seine eigene. Zwar wirkt seine Tendenz, zunehmend auszudeuten, was besser subtil geblieben wäre, niemals berechnend oder gar herablassend – aber dennoch ist ein In-joke, der erklärt wird, nunmal keiner mehr. Der Hang zur Überdeutlichkeit hindert „Resolution“ trotzdem nicht daran, als einer der besten Filme des diesjährigen Wettbewerbs herauszuragen: Denn die eigentlichen Höhepunkte von „Resolution“ sind nicht seine Ansätze zu echter Bedrohlichkeit oder zu Rundläufen in den Gehirnwindungen des Zuschauers – es ist vielmehr die allmähliche Entfaltung einer komplexen Freundschaft zwischen zwei komplexen Charakteren, die durch zwei überzeugende Schauspieler und ihre intelligenten, aber dankenswert ungekünstelten Dialoge getragen wird.

Einem Horror-Film zu attestieren, dass er in seinen ruhigsten Momenten am aufregendsten wird, mag wie ein vergiftetes Lob klingen – die Tatsache aber, dass es „Resolution“ gelingt, dies nicht als Widerspruch dastehen zu lassen, sondern sich daraus eine eigenwillige, faszinierende Identität zu basteln, spricht für die Originalität dieses letztlich sehenswerten Films.

„The Path“ (Miguel Ángel Toledo, Spanien 2012)

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In vielem das genaue Gegenteil ist der spanische Horror-Thriller „The Path“, der exakt einen eigenen Einfall hat. Er treibt die jüngst so populäre Reduzierung der Farbpalette, jene letzte Ausflucht aller von den Tücken der Farbkomposition heillos überforderten Filmemacher, auf die Spitze: Statt zwei Farben gibt es nur noch eine. Die Blockhütte, die den Schauplatz bildet, die Wälder, die sie umgeben, die Familie, die sie bewohnt – sie alle sind von einem kränklichen bläulich-braun.

Das ist nicht schön, aber durchaus symptomatisch für einen Film, der immer nur den einfachsten Weg nimmt. Die Handlung ist geradezu sagenhaft unoriginell: Ein Mann, dessen Ehe kriselt und dessen Sohn ihm fremd geworden ist, versucht die Kernfamilie zu kitten mit einem Aufenthalt in einer abgeschiedenen Hütte. Und natürlich läuft wie immer alles schief, abgedroschene Dingsymbole hämmern uns mit Nachdruck die Botschaft ein, dass es um die geistige Gesundheit des Protagonisten nicht zum Besten bestellt ist. Und irgendwann läuft  alles, natürlich, auf einen Höhepunkt und Plottwist hinaus, bei dem Menschen sterben werden. Was dem genre-bewussten Zuschauer, der das bis längst durchschaut hat, aber auch nicht mehr nahe geht.

Dass die schauspielerischen Leistungen, ja überhaupt die gemeinhin „handwerkliche Ebene“ genannten Aspekte, durchaus solide ist, wird da nicht zum Trost, sondern eher zum Bedauern über die Vergeudung von Potential. Wohlgemerkt: „The Path“ ist nicht grundschlecht. Aber er ist in derart frustrierender Weise zufrieden damit, sich durchschnittlich zu geben und nur das zu wiederholen, was wir schon hundertmal (und, per Definition, fünfzig Mal davon besser) gesehen haben, dass man nur zu einem Urteil gelangen kann: Ein Film zum Vergessen.

„Akam“ (Shalini Usha Nair, Indien 2012)

Akam

Wie man eine ähnliche Geschichte besser erzählen kann, zeigt die junge indische Regisseurin Shalini Usha Nair, die bislang vor allem als Dokumentarfilmerin tätig war. „Akam“, ihr erster Spielfilm, scheint eine Lektion aus dem Dokumentarischen zu übernehmen, die „The Path“ leider völlig abgeht: Wenn man einen Thriller inszenieren will, in dem der Realitätssinn des Protagonisten allmählich zerstört wird, ist es notwendig, die Realität, in der er lebt, erst einmal überzeugend zu schildern.

In „Akam“ ist die geschilderte Lebenswelt die der privilegierten, westlichen orientierten Oberschicht Indiens. Der Protagnost Srinivas ist ihr geradezu prototypischer Vertreter, ein aufstrebender Architekt, der die Illustration für den Artikel „Erfolg“ im indischen Duden-Pendant stellen dürfte – im Beruf ebenso wie sexuell. Dies wird, wenig überraschend, sehr bald nachhaltig in Frage gestellt, als Srinivas bei einem Autounfall schwer entstellt wird.

Der Konflikt entsteht, als eine Frau in sein Leben tritt: Ragini, auf die der Film die Wörter „schön“ und „mysteriös“ aufstempelt, beginnt sich wider alle Wahrscheinlichkeiten für ihn zu interessieren – und Srinivas stürzt sich regelrecht auf seine vermeintlich letzte Chance, eine repräsentative und attraktive Frau an sich binden zu können. Doch bald bekommt Sriniva Zweifel ob der Verschlossenheit seiner Gattin. Die Ungewissheit darüber, warum sie auf seinen Antrag eingegangen ist, entwickelt sich mehr und mehr zu einer Obsession: Ist Ragini eine „Yakshi“ (so auch der Titel des Romans, der die Vorlage für den Film geliefert hat), ein weiblicher Dämon, der mit seiner Schönheit Männer verführt und danach vernichtet?

„Akam“ lässt diese Frage nicht einmal in der Schwebe; die Antwort interessiert den Film schlicht nicht annähernd so sehr wie das, wofür sie symptomatisch steht: Eine Gesellschaftsschicht in der Identitätskrise, gespalten zwischen rationalistischen, westlichen Idealen und mythologisch-religiösen Atavismen, zwischen emanzipierten Arbeitsbedingungen und patriarchalen Beziehungsvorstellungen. Entsprechend dialoglastig und zuweilen auch etwas spröde und stereotypisch in seiner Anorndung ist Nairs Debütfilm denn auch – zum Horrorfilm taugt er jedenfalls nur bedingt, was ihm vom NIFFF-Publikum durchaus etwas übel genommen wurde.

Exotischen Thrill bietet „Akam“ ebenso wenig wie die üblichen Konventionen des Bollywood-Kinos – im Gegenteil ist er in seiner Ablehnung des Spektakels aber vielleicht, bei entsprechender Erwartung, immerhin ein Fenster zu einer Gesellschaftsschicht im Umbruch, die man im Kino sonst selten zu sehen bekommt.

„Vanishing Waves“ (Kristina Buozyte, Litauen 2012)

Vanishing Waves

Auf eine litauische Sci-Fi Romanze, welche sich hauptsächlich im Unterbewusstsein einer Komapatientin abspielt und im NIFFF-Programmheft dem Genre Erotik zugeordnet war, durfte man zurecht neugierig sein. Der Plot von „Vanishing Waves“ ist schnell umrissen: In nicht allzu ferner Zukunft versucht ein Team von Wissenschaftlern Komapatienten zu kurieren, indem sie diese an einen gesunden Menschen, nun ja, anschliessen, der sich das noch vorhandene Bewusstsein des Patienten im wahrsten Sinne des Wortes etwas näher anschauen kann. Wer sich an Tarsem Singhs „The Cell“ erinnern kann, dürfte das Prinzip schnell verstehen.

Lukas, einer der Wissenschaftler des Teams – unzufrieden mit seiner Beziehung, wie uns bereits die erste Szene zeigt, in welcher er statt seine Frau ins Bett zu begleiten Pornos schaut -, wird auserkoren, die erste Entdeckungsreise in das Komabewusstsein einer jungen Frau zu machen. Da die Ethikkommission dem Forschungsteam im Nacken sitzt, gilt erst einmal: keine Interaktion, sondern neutrales Beobachten – oder anders gesagt: anschauen, aber nicht anfassen. Wie obiges Szenenbild zeigt, bricht Lukas mit dieser Regel relativ schnell und es kommt zu mal engelshaft glückseeligen, mal bedrohlich düsteren körperlichen Annäherungen – die Lukas, wie könnte es anders sein, seinen Vorgesetzten verschweigt.

„The Cell“ mit Erotik- statt Gewaltphantasien, nackten Körpern statt aufgerollten Därmen, einer leicht übersinnlichen Liebesgeschichte statt einer banalen Hollywood-Psychopathenstory? Klingt doch gar nicht so schlecht. Könnte man meinen, ja, doch trotz einer spannenden Grundidee und visuell wie atmosphärisch beeindruckenden Szenen vermag „Vanishing Waves“ nie ganz den Sog zu erzeugen, den es zu erzeugen glaubt. Dies mag daran liegen, dass Marius Jampolskis kaum das schauspielerische Talent des durchschnittlichen NIFFF-Besuchers besitzt, dass der Film etwa eine halbe Stunde zu lang ist, oder dass die Psychologie seiner Handlung und Figuren selbst einer Wikipedia-Zusammenfassung Freudscher Theorie noch nachhinkt. „Vanishing Waves“ hat Potenzial und einige starke Momente, ist insgesamt aber zu unausgereift, um Festivalpreise abzustauben.

„Harold’s Going Stiff“ (Keith Wright, Grossbritanien 2011)

Harold

Gerade als man dachte, man braucht noch einen Zombiefilm ungefähr so dringend wie Leichenstarre am Tag eines Benefizmarathons, kommt Keith Wrights „Harold’s Going Stiff“ des Weges und vollbringt ein kleines Wunder: Nicht nur, dass er den wandelnden Untoten wider allen Erwartens neue Seiten abgewinnt – er wagt sich auserdem auf eine paradoxe Ausgangslage hinaus und meistert diese souverän. „Harold’s Going Stiff“  ist ein Film im Genre der kaltgemachten Ex-Menschen, der ungeheuer warmherzig und menschlich ist.

Sein innovativer Einfall ist es, die Zombie-Seuche als eine tragische degenerative Nervenkrankeit zu behandeln, die den Betroffenen erst ihre Mobilität und dann ihren Verstand nimmt, mit meist blutigen Folgen. Erläutert wird das im faux-Dokustil, der einerseits persönliche Nähe vermitteln soll und es andererseits erlaubt, von sehr unterschiedliche Ebenen und Personen gleichzeitig zu erzählen: Da ist jene Ebene, auf der Forscher im geleckten Populärwissenschaftsjargon ihre Fortschritte im Kampf gegen die Seuche in die Kamera erklären, Szenen, die in ihrer völlig trocken ausgespielten Absurdität oft enorm komisch sind. Da ist die Ebene der Angehörigen der Betroffenen und der sozialen Dienste, die mehr oder minder erfolgreich versuchen, unter Aufbietung des gesamten Gutmenschenapparats die Kranken auch als Menschen ernstzunehmen. Da ist die  Ebene jener eher unbedarften selbsterklärten Beschützer des Gemeinwohls, die in den Erkrankten nichts anderes als Zombies sehen wollen, die zum Wohle aller (und zur Befriedigung der eigenen Mordlust) vernichtet gehören – ein Handlungsfaden, der der guten alten britischen Humortradition gemäss immer wieder gnadenlos, brutal und amüsant ist. Und da ist schliessichdas emotionale Zenturm des Films, Harold Gimble (Stan Rowe): ein Rentner, der mit dem schleichenden Fortschritt der Krankheit zu Recht zu kommen versucht – und Unterstützung bekommt von einer Krankenschwester (Sarah Spencer), die ihre eigenen Probleme in die sich entwickelnde Freundschaft einbringt.

Welchen Gang diese Geschichte nehmen wird, dürfte niemanden überraschen. Eine Überraschung gibt es aber dennoch – die nämlich, wie souverän Wrights Film immer wieder den richtigen Ton trifft, von der Genre-Parodie mühelos übergeht zum Melodrama und dort trotz offenem Mut zur Emotion vor Sentimentalitäten gefeit bleibt. Zu verdanken ist dies nicht zuletzt der absolut überzeugenden Leistung von Rowe und Spencer, die Komik und Tragik gleichermassen souverän meistern und eine Chemie entwickeln, die tausend unterkühlte britische Winter aufhellen könnte.

„Harold’s Going Stiff“ ist ein kleiner, schöner Film. Wie etwa auch „Adrift in Toyko“ vor vier Jahren ist er zu unauffällig, um sich für die offiziellen Ränge aufzudrängen. In der Kategorie der heimlichen Favoriten und der Sieger der Herzen war er 2012 aber ohne Konkurrenz.

Lukas Hunziker

Lukas Hunziker ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch. In seinem Garten stehen drei Bäume, in seinem Treppenhaus ein Katzenbaum. Er schreibt seit 2007 für nahaufnahmen.ch.

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