Charles Yu: „Handbuch für Zeitreisende“
Einsame Sexbots
Charles Yu: „Handbuch für Zeitreisende“ (Roman)
Der Titel klingt nach Science Fiction. Der Inhalt ist Science Fiction. Trotzdem ist „Handbuch für Zeitreisende“ nicht nur etwas für Fans des Genres. Im Gegenteil: Science-Fiction-Fans riskieren, besonders wenn sie angesichts des Covers martialische Laser-Strahl-Schlachten erwarten sollten, eine Enttäuschung. Alle anderen riskieren, mit einer irrwitzigen und dabei anrührenden Geschichte und philosphischen Gedankenspielen bestens unterhalten zu werden.
Von Sandra Despont.
Für Charles Yu sind Zeitreisen Routine, Zeitmaschinen sein Job. Als Zeitmaschinenreparateur kommt er im Kleinuniversum 31, einer von Time Warner betriebenen „Raumzeitstruktur“ samt „Unterhaltungskomplex mit Geschäfts- Büro- und Wohnzohnen“, weit herum. Allerdings verbringt er die meiste Zeit in seiner eigenen Zeitmaschine. Seine einzigen Gefährten sind Tammy, eine Software mit depressiven Tendenzen und einem schwachen Selbstbewusstsein, und sein (nicht real existierender) Hund Ed. Zur Welt ausserhalb hat Charles den Kontakt verloren. Sein Vater ist vor Jahren spurlos verschwunden, seine Mutter lebt in einer einstündigen Zeitschleife, die ihr ein glückliches Abendessen, das nie stattgefunden hat, immer wieder in Erinnerung ruft. Erst als ein verheerendes Unglück passiert, wird Charles klar: Er muss seinen Vater, ein Pionier der Zeitmaschinentechnologie, finden.
Ein Leben ohne das Risiko des Jetzt
Was zuerst einmal nach sinnlosem Gaudi klingt und in einem selbstironischen, sarkastischen Erzählstil daherkommt, offenbart rasch überraschend ernsthafte Seiten: Wie nebenbei kreiert Charles Yu in den Erinnerungen an seine Kindheit das rührende Porträt eines vom Leben und von sich selbst enttäuschten Mannes, sinniert über das Wesen der Zeit, ihre Erbarmungslosigkeit und darüber, was wir verlieren, wenn wir die Chronologie zu überlisten suchen.
Charles Yu ist mit seinem Beruf als „zertifizierter Netzwerk-Techniker für chronogrammatische Personenfahrzeuge der T-Klasse“ ganz zufrieden. Er führt „ein Leben ohne Gefahr…ohne das Risiko des Jetzt“ – und er findet das gut so. Chronologisches Leben beurteilt er als „Lüge“, da es die meisten Menschen sowieso nicht schaffen, in der Abfolge der Ereignisse zu leben, sondern ständig zurückblicken. Doch Charles gibt sich verdächtig oft Erinnerungen an seine Kindheit hin, obwohl diese alles andere als glücklich war, was er nicht müde wird zu betonen. Trotzdem: An die tagelangen Basteleien mit seinem ehrgeizigen Erfindervater, an die sorgfältige Beschriftung von stapelweise Millimeterpapier, an die Aufregung bei der Präsentation eines Zeitmaschinenprototyps denkt er fasziniert zurück. Damals hat er Schmerz und Leidenschaft, Liebe und Mitleid, Hoffnung und Enttäuschung gefühlt, hat er gelitten, seinen sensiblen Vater unbedacht verletzt und dies dann bitter bereut. Damals, so wird dem Leser klar, hat er richtig gelebt.
Eine undifferenzierte Pfütze namens Zeit
In Rückblenden wird greifbar, wie sich die Existenz der Menschen durch die Erfindung der Zeitmaschinen und die Möglichkeit eines Lebens jenseits von Realität und chronologischer Abfolge von Ereignissen verändert hat. Im Kleinuniversum 31, wo alles möglich scheint, wo die Menschen die Herren über die Zeit und über ihre eigene Geschichte sind, haben sich Einsamkeit und Sinnlosigkeit breit gemacht. Denn „so zu leben“, erkennt Charles, „heisst, dass dem Jahr keine Bedeutung mehr zukommt, ebenso wenig dem Monat und der Woche. Die Daten fallen von den Tagen ab wie Glas“ und verschwimmen „zu einer undifferenzierten Pfütze“. Dass Zeitmaschinen nicht die Antwort auf alle Probleme sind, wird Charles täglich vor Augen geführt. Denn nicht selten sind die gestrandeten Zeitreisenden, denen Charles helfen soll, bei einem ebenso verzweifelten wie vergeblichen Versuch, die Vergangenheit zu verändern, in ihre schwierige Lage geraten. Sie hoffen, wie Charles’ Mutter sagt, dass sich beim Aussteigen aus der Zeitmaschine „die Welt verändert hat. Oder zumindest sie selbst.“ Doch dies passiert nicht. Stattdessen verlieren die Menschen auf ihrer Hetze in Vergangenheit und Zukunft die Gegenwart und vereinsamen. Das Kleinuniversum 31 ist ein trostloser Ort, ohne jede menschliche Wärme. Erinnerungen haben hier Kaugummiform, Sehnsüchte werden als Duftsprays verkauft, „sogar die Sexbots sind hier einsam.“
Mehr als ein Weltraumabenteuer
Immer wieder finden sich – neben zahlreichen mit physikalischen Fachbegriffen überfrachteten Zeilen – nachdenkliche, philosophische, tiefgründige Passagen, die Phänomene der Zeit und unseres Umgangs mit ihr auf schnoddrige, aber äusserst präzise Weise auf den Punkt bringen. „Handbuch für Zeitreisende“ liest sich daher keineswegs nur wie ein groteskes Weltraumabenteuer, sondern bietet eine Tiefe, die weit über diejenige von technisch aufgepeppter Spannungsliteratur hinausgeht. Zwar kann man bei all den Metaebenen und Zeitschlaufen schon mal den Überblick verlieren, doch der Kern des Romans, die Erinnerungen Charles Yus und seine Gedanken über die Zeit nehmen einen immer wieder gefangen.
Und die vielen kindisch-furchterregenden Waffen des Covers? – Tatsächlich verfügt Charles Yu über eine Kanone, die „nichts fürs Damenhandtäschchen“ ist. Bisher hat er sie noch nie benutzt. Bis zum Ende des Romans benutzt er sie genau einmal – im allerdümmsten Moment. Das wars dann aber auch schon mit der Ballerei. Und das ist gut so.
Titel: Handbuch für Zeitreisende
Autor: Charles Yu
Übersetzer: Peter Robert
Verlag: Rowohlt Polaris
Seiten: 267
Richtpreis: CHF 21.90