„Genesis – Die Bibel, Teil 1“ | Schauspielhaus Zürich, Schiffbau

Die Bibel im Director’s Cut

„Genesis – Die Bibel, Teil 1“ | Schauspielhaus Zürich, Schiffbau

Bildlegende: Jörg Ratjen, Julia Kreusch, Michael Neuenschwander (vorne), Timo Fakhravar, Simon Kirsch, Susanne-Marie Wrage | Foto/Copyright: Toni Suter, T+T Fotografie
Bildlegende: Jörg Ratjen, Julia Kreusch, Michael Neuenschwander (vorne), Timo Fakhravar, Simon Kirsch, Susanne-Marie Wrage

Stefan Bachmann inszeniert im Schiffbau die “Urquelle unserer Erzählkultur“: die Genesis. Und das von Anfang bis Ende, schonungslos ungekürzt. Das Ergebnis ist mal bildgewaltig, mal befremdlich, mal überraschend komisch ­– und vor allem lang.

Von Lisa Letnansky.

Ein düsterer Cowboy schreitet würdevollen Schrittes mehrmals um einen riesigen nebelumwaberten Berg aus Lehm und holt nach und nach Requisiten auf die Bühne: eine Flasche Wasser, einen Stuhl, einen Ständer für das Buch. Kein Wunder (denkt sich da der Zuschauer), dass dieses Stück fünf Stunden dauern soll, wenn es schon in diesem Tempo losgeht. Doch als der Cowboy schliesslich zu lesen beginnt, sind die vorschnell gefassten Vorwürfe schnell wieder vergessen. Denn obwohl wir die Schöpfungsgeschichte ja alle mehr oder weniger kennen, ist die Lesung des Bärtigen fesselnd – kein bisschen Pathos schwingt in seiner Stimme mit, dafür aber stets ein klitzekleines Fragezeichen. Der altbekannte Text regt dadurch zum Nachdenken an und es werden Details erfasst, die einem bis anhin komischerweise nie aufgefallen waren. Ist das zum Beispiel ein Aufruf zum Vegetarismus, wenn Gott sagt: “Seht da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise?“ Und was hat es eigentlich mit der dritten Person Plural auf sich, in der Gott die ganze Zeit spricht? Ist das der Pluralis Majestatis oder doch vielleicht ein Überbleibsel aus polytheistischen Zeiten? So vergeht der Auftakt dieses Stücks – die Welt ist zwar nach 15 Minuten erschaffen, es vergehen aber immerhin 45 Minuten, bis sich der Cowboy zum ersten Mal wieder erhebt und genau eine Stunde, bis die zweite Figur auf der Bühne erscheint – überraschend schnell.

Bildlegende: Niklas Kohrt, Susanne-Marie Wrage
Bildlegende: Niklas Kohrt, Susanne-Marie Wrage

Ein mächtiger Text
Die Theaterbühne wird hier zum Textlabor, die Genesis – nicht nur die Urquelle unserer Erzählkultur, sondern auch der kleinste gemeinsame Nenner dreier Weltreligionen, zwischen denen aktuell ein Unfriede herrscht wie schon lange nicht mehr – soll den Zuschauern als Text neu zugänglich gemacht werden. Es gehe um die Frage, warum gerade dieser Text so viel Macht erlangt habe, also was seine Wirkung ausmache, erklärte der Dramaturg Lukas Bärfuss in einem Interview. Dieses Vorhaben ist zweifellos gelungen. Nicht nur wird das Bibelwissen des Publikums aufgefrischt, die Geschichten werden auch mit allerlei Tricks und Effekten in neue Bezugsrahmen gestellt. Hier ist wirklich alles vorhanden, Hass und Liebe, Intrigen, Bruderzwist, Machthunger, Ehebruch und Mord. Als Zuschauer dieses Theater-Kolosses nimmt man die etwas abwechslungsreicheren bild- und wortgewaltigen Szenen dankbar an: das viele nackte Fleisch, das furiose Playback-Panflötensolo, das spritzende Blut bei Abrahams Akkordbeschneidung (man beachte den aktuellen Bezug), die Figur des Esau, der aussieht wie dem “Texas Chainsaw Massacre“ entsprungen, und sogar den etwas kitschigen “Jöö-Effekt“ der (echten) Schafe in einer Hirtenszene. Die Schauspieler meistern dieses Geschichten-Konglomerat mit Bravour – allen voran Julia Kreusch als zittrig-gebrechliche Sara und Michael Neuenschwander, der den Schöpfer-Gott in all seinen Diskrepanzen, einer chaotisch wirkenden Mischung aus Unbarmherzigkeit, Überforderung und Unvorhersehbarkeit verkörpert. Echte Begeisterung kommt auf bei Jakobs Traum von der Himmelsleiter, an deren oberem Ende Gott in seiner ganzen Bedrohlichkeit emporragt, oder bei der Zerstörung Sodom und Gomorrhas, wenn die Cowboy-Engel ihr imaginäres Benzin um die Zuschauer herum verteilen und den etwas irritierten Sündenpfuhl unter dramatischen Musikeffekten symbolisch demolieren, sodass die Schiffbauhalle in ihren Grundfesten erzittert.

Bildlegende: Julia Kreusch, Simon Kirsch
Bildlegende: Julia Kreusch, Simon Kirsch

Epische Ausmasse
Diese Szenen haben ganz sicher Wucht, andere sind wirklich komisch und wieder andere herrlich trashig. Doch insgesamt sind die Phasen dazwischen, in denen Geschichten epischen Ausmasses vorgelesen und ellenlange Genealogien runterdekliniert werden, leider Gottes einfach zu lang. Die Leistung der Schauspieler, die grosse Teile dieses Textungetüms auswendig gelernt haben (Chapeau auch an Marek Harloff und Margrit Sengebusch, die kurzfristig für den erkrankten Timo Fakhravar einsprangen), ist sicherlich grandios. Schlussendlich ist dies aber Theater und kein Leistungssport; einige wenige Kürzungen und Straffungen hätten das grosse Vorhaben zwar ein wenig heruntergespielt, dem Stück selbst aber sehr wahrscheinlich doch mehr Gewinn als Schaden eingebracht. Nicht einmal der leckere Kichererbseneintopf in der Pause reichte als Stärkung aus – nach fünf Stunden verlässt man den Schiffbau wie erschlagen. Man weiss: man hat einer Geschichte von urtümlicher Bedeutsamkeit beigewohnt, hat auch etwas gelernt und könnte nun so einiges von einem neuen Standpunkt betrachten. Doch die persönliche Auseinandersetzung mit dem Stück muss bedauerlicherweise auf die folgenden Tage verschoben werden, denn dafür ist man an diesem Abend eindeutig zu erschöpft.


Besprechung der Vorstellung am 18. September 2012
Weitere Vorstellungen bis am 23. Oktober 2012
Dauer: etwa 5 Stunden, eine Pause

Besetzung
Christian Baumbach, Fritz Fenne, Marek Harloff, Simon Kirsch, Niklas Kohrt, Julia Kreusch, Michael Neuenschwander, Jörg Ratjen, Susanne-Marie Wrage

Regie: Stefan Bachmann
Bühne: Simeon Meier
Kostüme: Annabelle Witt
Musik: Max Küng
Licht: Markus Keusch
Video: Christoph Menzi
Dramaturgie: Barbara Sommer, Lukas Bärfuss
Regieassistenz: Margrit Sengebusch

Im Netz
www.schauspielhaus.ch

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