Paul Auster: „Sunset Park“

Die abhanden gekommene Rebellion

Paul Auster: „Sunset Park“ (Roman)

Finanzkrise, Immobilienblase und persönliche Schicksalsschläge: In „Sunset Park“ verkörpern einige im Scheitern begriffene junge Menschen die „letzten Aufrechten“ Amerikas. Paul Austers Aufruf zu mehr Menschlichkeit und Widerstand verhallt jedoch im Leeren.

Von Lisa Letnansky.

SunsetParkWir schreiben das Jahr 2008. Der 28-jährige Miles arbeitet in Südflorida für eine Entrümpelungsfirma, eine der wenigen noch rentablen Branchen, nachdem die Immobilienblase geplatzt ist und viele Familien ihre Häuser samt Einrichtungen verlassen mussten. Miles’ fotografische Dokumentation der zurückgelassenen Gegenstände zeugt von einer Art unpersönlicher Nostalgie, ansonsten „treibt ihn nach bestem Wissen keinerlei Ehrgeiz“. Nach drei Jahren auf dem College hatte er mit seiner Familie gebrochen und sich entschlossen nur noch im Jetzt zu leben, nicht an das Morgen oder Gestern zu denken, seine persönlichen Bedürfnisse auf ein Minimum zu reduzieren. Das gelingt ihm auch – bis ihm die gleichermassen schöne und intelligente, jedoch erst 17-jährige Pilar über den Weg läuft und er in ihr die grosse Liebe seines Lebens findet.

Unschöne Verwicklungen, in denen Gier, Neid und Bestechung eine Rolle spielen, führen jedoch bald dazu, dass Miles Florida verlassen muss und erst wieder zurückkehren kann, wenn Pilar volljährig ist. Hals über Kopf fährt er nach New York, wo er die „sechsmonatige Gefängnisstrafe ohne Abzug wegen guter Führung“ in einem Häuschen am Sunset Park in Brooklyn abzusitzen gedenkt, das sein Jugendfreund Bing zusammen mit zwei Frauen besetzt hält.

Eine Frage der Perspektive

Paul Auster erzählt von diesen im Scheitern begriffenen Existenzen mit grosser Sympathie: Bing, ein kleiner Grossstadtguerilla, der jedoch mit Politik nichts anfangen kann, „der Großmeister der Empörung, der Champion der Unzufriedenheit, Alice, die seit drei Jahren an ihrer Doktorarbeit sitzt und sich mit Nebenjobs nur knapp über Wasser hält, Ellen, die auf der Suche nach Liebe und ihrem Platz im Leben auf dem besten Weg in eine Depression ist, und natürlich Miles. Vier junge Menschen am Rande der New Yorker Gesellschaft, in einer von der Krise gebeutelten Welt, in der Worte wie Selbstverwirklichung und Ambitionen wie blanker Hohn klingen. Das besetzte Haus, in dem sie zu einander finden, steht dabei paradigmatisch für ihre gesamte Situation: „weder vorstädtisch noch historisch, eigentlich ist es nur eine Hütte, ein trostloses Stück architektonischer Dummheit, das sich überhaupt nirgendwo einfügen würde, weder in New York noch außerhalb.“

Ihre Geschichte schildert Auster aus wechselnden Perspektiven, sodass man einen Einblick in das Innenleben aller beteiligten Personen erhält. Und hier liegt auch schon der Hund begraben, denn diese Struktur, die sich schon so viele Male bewährt hat, scheint sich für Austers Vorhaben nicht wirklich zu eignen. Einerseits liegen die so dargestellten Ereignisse zu nah bei einander. Aus den vorherigen Kapiteln wissen wir jeweils bereits, wie die Geschichte weitergeht, und es geschieht nicht genug, um die Neugierde auf die weiter entfernte Zukunft zu lenken. So wirken grosse Teile des Romans wie lange Personeneinführungen, die man hastig überfliegt, um zum Kern der Sache zu gelangen – der ziemlich auf sich warten lässt.

Andererseits führt Austers Wahl der multiplen Perspektive auch dazu, dass er, anstatt den aktuellen Zeitgeist exemplarisch anhand eines Lebenswegs zu verdichten, disparate Schicksalsschläge und spezifische Persönlichkeiten schildert, die zwar nicht ganz uninteressant sind, aber als paradigmatische Verkörperungen einer Gesellschaft völlig ungeeignet. Hinter jeder Figur steht eine zutiefst individuelle Problematik: unterdrückte Homosexualität, Zweifel am eingeschlagenen Lebensweg, eine Sommerromanze mit einem Minderjährigen, der Folgen nach sich zog, und sogar ein Brudermord. Hier wird die Gegenwart zum Randgeschehen und somit völlig bedeutungslos, denn mit Zeitgeist und Krise haben diese Schicksale nicht mehr viel zu tun. Die Suche nach der eigenen Identität und dem Platz in der Welt ist keine genuin zeitgenössische Thematik –  wohl auch vor fünfzig oder hundert Jahren hätten sich Miles und seine neuen Freunde in dieselben Sackgassen hineinmanövriert. Der gross eingeführte moralisch-ethische Rebellion im Kleinen versandet in der Ankündigung, der Freiheitskampf wendet sich nicht gegen die gesellschaftlichen Umstände, sondern gegen das eigene Selbst.

Entlarvung der Subjektivität

Für „Sunset Park“ hat Auster einen realistischeren Ton angeschlagen als in seinen früheren, rätselhafteren und labyrinthischeren Werken. Seine Schicksalsschilderungen wirken aufgrund der Konzentration auf mehrere Personen und der daraus resultierenden fehlenden Tiefe jedoch grösstenteils einfach banal. Da helfen auch die häufigen Exkurse über pseudo-metaphorische Baseball-Legenden und Aufzählungen (zum Beispiel die vor Plattitüden strotzende Liste, was Miles an Pilar alles vermisst) nichts. Interessant an dieser Personenkonstellation sind einzig die immer mal wieder aufblitzenden Momente der Erkenntnis, wenn Auster die subjektive Perzeption demaskiert, wenn also Dinge und Personen von einander ziemlich nahe stehenden Menschen äusserst unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden. Eine ergiebigere Rahmenhandlung hätte aus diesem Ansatz vielleicht einen tollen Roman machen können.


Titel: Sunset Park
Autor: Paul Auster
Übersetzer: Werner Schmitz
Verlag: Rowohlt
Seiten: 320
Richtpreis: CHF 28.50

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