Rimini Protokoll – 100% Zürich | Gessnerallee Zürich
Statistik unplugged
„Rimini Protokoll – 100% Zürich“ | Gessnerallee Zürich

Statistiken, das sind nüchterne Zahlen und trockene Torten-, Balken- oder Kurvendiagramme. Nicht so bei „100% Zürich“! Das Performancekollektiv Rimini Protokoll haucht den faden Fakten Leben ein macht mit Hilfe „eines Darstellers mit 100 Köpfen“ die Stadt Zürich zu ihrer Hauptfigur.
Von Lisa Letnansky.
Ursprünglich wurde es für das Hebbel Theater in Berlin entwickelt, mittlerweile fand das Dokumentartheaterstück „100%“ aber auch schon in Wien, Melbourne, Athen und London grossen Anklang. Auch wenn die Stadt Zürich nicht so gross und urban ist, wie sie manchmal vorgibt zu sein, kann man auch hier als Einzelner schon mal in der Masse untergehen. Das Deutsch-Schweizerische Kollektiv Rimini Protokoll vermischt nun unsere Grasnarbenperspektive mit der Vogelperspektive der Statistik. Das Konzept dazu ist so einfach wie clever: 100 Zürcherinnen und Zürcher – natürlich keine Laien, sondern „Experten des Alltags“ – repräsentieren auf der Bühne ihre Stadt. Dabei bestimmte Rimini Protokoll nur eine einzige Darstellerin selbst: Simone Nuber, ihres Zeichens Direktorin von Statistik Stadt Zürich. Diese wählte aus ihrem Bekanntenkreis den nächsten Darsteller aus, der dann den nächsten und so weiter, bis 100 Personen zusammen waren. Eine „statistische Kettenreaktion“, nennen das Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll. Die Leute am Anfang der Kette hatten noch grosse Auswahlmöglichkeiten, während es mit der Zeit immer schwieriger wurde, jemand Passenden zu finden. Denn am Ende sollen die 100 Personen, was Alter, Geschlecht, Familienstand, Herkunft und Wohngegend anbelangt, dem aktuellen statistischen Stand der Stadt Zürich entsprechen – jeder Darsteller verkörpert 3900 Zürcher.
Voyeurismus und Mitmach-Effekt
Zu Beginn postieren sich alle 100 Darsteller nacheinander in einem Kreis und stellen sich vor. Das erinnert zwar etwas arg an ein zum Leben erwachtes „Freundebuch“ aus Kindertagen mit integriertem „Zeigitag“ – jeder hat einen Gegenstand mitgebracht, der ihn repräsentieren soll –, ist aber nötig und sinnvoll, da die Masse ansonsten anonym und unpersönlich bleiben würde. So erkennt man bereits jetzt Parallelen und Unterschiede zu einem selbst und zu Bekannten, denn hier ist von allem und jedem ein bisschen was dabei. Der eine erklärt, sein Hobby seien Indische Elefanten, die andere konstatiert nüchtern, dass sie in ihrer Freizeit am liebsten gar nichts tue, und die Rentnerin, die stolz erklärt, die älteste Frau in der Runde zu sein, und das, obwohl sie leidenschaftliche Raucherin sei, erntet bereits den ersten Szenenapplaus.
Im Folgenden formieren sich die Repräsentanten zu Gruppen nach Wohngegend, stellen bildlich ihr Alter dar oder geben pantomimisch und im Schnelldurchlauf ihren üblichen Tagesablauf wieder. Das ist eine Zeitlang ganz unterhaltsam, doch für eine 90-minütige Inszenierung hätten die üblichen Statistikwerte wohl nicht ausgereicht. So stellen sie sich schon bald Fragen, die um einiges persönlicher und delikater sind, und hier manifestiert sich der eigentliche Grund für den Erfolg dieses Stücks: die seltsame Mischung aus Voyeurismus und Mitmach-Effekt. Je nach Antwort postieren sich die Personen auf der Bühne entweder auf der einen („Ich!“) oder der anderen („Ich nöd!“) Seite, halten farbige Karten in die Luft oder lassen in der anonymen Dunkelheit ihr Lichtlein leuchten. Auf einem Bildschirm wird die Vogelperspektive visualisiert, indem die Bühne von oben gezeigt und dadurch ein besserer Überblick ermöglicht wird. So kann der im Geiste natürlich alle Fragen auch für sich selbst beantwortende Zuschauer stets seinen statistischen Standpunkt beurteilen.

Keine Statistik ohne Fehler
Die Ergebnisse sind zum Teil mehr als überraschend. So nehmen wir beispielsweise erstaunt zur Kenntnis, dass mehr Leute Medikamente einnehmen als krank sind, dass etwa 75% schon einmal Steuern hinterzogen hat und etwa gleich viele schon einmal fremdgegangen sind. „Krass“, „hoppla“ und ähnliche verdutzte Kommentare murmelt es aus dem Publikum, und von Zeit zu Zeit ist es wirklich ganz schön harter Tobak, der uns hier offenbart wird. Vom Iranischen Flüchtling beispielsweise, über den das Todesurteil verhängt worden war, oder dem ehemaligen Heroinsüchtigen, der während des Entzugs das Sticken als neues Hobby entdeckte.
Natürlich wird aber auch viel gelacht an diesem Abend, denn ganz so ernst wie die Berufsstatistiker nehmen die Durchschnittsmenschen auf der Bühne die Sache natürlich nicht. So ist es auch nicht überraschend, dass die Frage, wer an diesem Abend mindestens einmal falsche Angaben gemacht habe, von fast allen mit einem Handzeichen beantwortet wird. Ja, so ist das halt mit Statistiken – nicht umsonst heisst es im Volksmund: „Vertraue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!“
Besprechung der Premiere am 18. Oktober 2012
Weitere Vorstellungen bis am 27. Oktober 2012
Dauer: etwa 90 Minuten
Besetzung
100 Zürcherinnen und Zürcher
Konzept & Regie: Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel)
Bühne: Marc Jungreithmeier, Mascha Mazur
Video & Lichtdesign: Marc Jungreithmeier
Projektkoordination und Regieassistenz: Romy Rüegger, Nadine Tobler
Assistenz Projektkoordination: Josefine Stähli
Musik: Ongatu
Im Netz
www.gessnerallee.ch
www.rimini-protokoll.de