Serhij Zhadan: „Die Erfindung des Jazz im Donbass“
Das Gestern im Jetzt
Serhij Zhadan: „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ (Roman)
Ein ominöser Anruf eines alten Bekannten: „Hermann, dein Bruder ist weg! – Wahrscheinlich nach Amsterdam. Du musst kommen!“ Hermann zögert, macht sich dann aber auf in die Provinz. Dort erwartet ihn viel, womit er nicht gerechnet hätte. Vor allem Olga. – Sehr lyrisch. Keine leichte Kost.
Von Andrea Müller-Schmuki.
Die Hauptperson in Zhadans neustem Roman ist Hermann, 33. Zusammen mit seinen zwei ehemaligen Studienkollegen Bolik und Lolik arbeitet er in einer eher dubiosen Agentur als unabhängiger Experte – Experte wofür, ist ihm selber nicht wirklich klar. Von der grossen Stadt Charkiv geht er schliesslich zurück in seine Heimat, da er bei der Tankstelle seines Bruders Juri nach dem Rechten schauen möchte.
Im Verlaufe der Geschichte wird dann auch klar, dass nicht der verschwundene Juri, sondern Hermann der Inhaber der Tankstelle ist. Diese liegt sehr gut, da es die letzte Tankstelle ist vor kilometerweitem ungeschütztem Land. Dementsprechend hoch ist das Interesse eines Grossindustriellen, die Tankstelle zu kaufen. Und nicht nur Olga, die Buchhalterin der Tankstelle, in die sich Hermann verliebt, hat etwas dagegen.
Heimat
Der Donbass, also das Donezbecken, ist ein grosses Industriegebiet in der Ukraine und in Russland. Bei Hermanns Reise durch die post-sozialistische Ruinenlandschaft im Donbass wimmelt es nur so von sonderbaren Figuren, denen der Protagonist begegnet.
Hermanns Reise nach Hause, die Suche nach seiner Heimat wird immer wieder auch zu einer Reise in die Vergangenheit. Nicht nur, weil er in dieser Kleinstadt am Rande der Steppe aufgewachsen ist. Es geht um Liebeserlebnisse, um Schwierigkeiten und um Fussballspiele, die erneut erlebt werden. Erinnerungen sind ein grosses Thema – das grosse Thema; die Vergangenheit ist immer da, immer aktuell, immer ein Teil des Jetzt.
Jazz
Was die ganze Geschichte mit Jazz zu tun haben soll, bleibt lange fraglich. – Der Originaltitel „Vorošylovgrad“, der Name einer ostukrainischen Kleinstadt, ist wohl auch passender. Das einzige Element, das lange auf einen Zusammenhang mit Jazz hindeutet, sind die zehn gebrannten Platten von Charlie Parker, die immer wieder vorkommen. Erst später folgt eine Binnenerzählung, die um die Entstehung des Jazz im Donbass geht. Diese hat jedoch auf den ersten Blick nicht viel mit der Rahmenhandlung zu tun. – Höchstens das biblische Motiv des Propheten Jonas, der sich vor seiner Aufgabe drücken möchte und sie dann doch erfüllt, verbindet die Binnenerzählung mit dem Rest des Romans.
Lyrisch
Zhadan erschafft eine poetische Ost-Ukraine, die wie aus der Zeit gefallen scheint. Nur an Details wie beispielsweise MP4-Playern wird klar, dass die Geschichte heute spielt und nicht vor dreissig Jahren. Viele tiefsinnige und ausdrucksvolle Episoden sind oft lose zusammengefügt und ergeben nur durch den Ich-Erzähler Hermann und seine Bemühungen, das Geschäft mit Tankstelle wieder zu ordnen, einen Sinn.
Zhadans Schreibstil ist sehr lyrisch. Dies verhilft dem Roman einerseits zu viel Atmosphäre und Stimmung, andererseits macht es ihn sehr zäh zu lesen. Mehr als 50 Seiten am Stück sind kaum zu bewältigen. Schade – und schön zugleich!
Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autor: Serhij Zhadan
Übersetzer: Juri Durkot / Sabine Stöhr
Verlag: Suhrkamp
Seiten: 394
Richtpreis: CHF 31.50