„Halt auf freier Strecke“ von Andreas Dresen
Ein Tennisball frisst Papa auf
Ein Mann stirbt, und wir sehen ihm dabei zu: Darauf lässt sich der Inhalt von „Halt auf freier Strecke“ herunterbrechen. Der Film zeigt schonungslos das Sterben eines tumorerkrankten Familienvaters und alles, was es mit sich bringt.
Von Annika Janssen.
Frank Lange und seine Frau Simone sind das, was man angekommen nennt: Reihenhäuschen, zwei Kinder – ein Junge, ein Mädchen, acht und 14 Jahre alt -, feste Arbeitsstellen, funktionierende Ehe. Eigentlich ist alles gut, bis bei Frank ein nicht operabler Hirntumor diagnostiziert wird. Trotz Chemo und Bestrahlungen geben ihm die Ärzte nur noch ein paar Monate. Von da an ist alles auf den Kopf gestellt – Frank und seine Familie müssen sich mit seinem baldigen Tod auseinandersetzen, sein Gehirntumor wächst und sein körperlicher und auch persönlicher Verfall schreiten beängstigend schnell voran. Während Frank mitunter schier verzweifelt, versucht Simone, ihm mithilfe von den Kindern sowie ihrer Mutter, häuslicher Pflege und immensem Kraftaufwand, die Zeit, die bleibt, so angenehm wie möglich zu gestalten.
Abschied vom Leben
Es ist nicht die Figur des Frank Lange, die „Halt auf freier Strecke“ sehenswert macht, und die ersten ca. 30 Minuten sind eine Qual. Gleich in der ersten Szene wird der Tumor diagnostiziert, es folgen einige Szenen mit dem schockierten Frank, die berührend wären – wenn denn Sympathie oder Mitleid aufkäme für diesen todgeweihten Protagonisten. Stattdessen wird Frank von Milan Peschel gespielt als ein schlecht gelaunter, selbstmitleidiger Jammerlappen, der viel in sich hinein und in sein iPhone nuschelt und dessen Verzweiflung leider nur vorstellbar, aber nicht nachfühlbar ist. Ein Sympathieträger, um den man am Ende weint, sieht anders aus.
Das Berührtsein und manchmal auch die Tränen kommen eher, weil „Halt auf freier Strecke“ so realistisch ist, wenn er die kollektive Last für Franks Frau und Kinder, Eltern und Schwiegermutter verdeutlicht und weil vor allem Steffi Kühnert den Spagat von Simone zwischen trauernder Ehefrau, fürsorglicher Mutter und überforderter Krankenpflegerin so überzeugend und empathisch spielt. Zudem spart der Film keine Facette und keine Station des krankheitsbedingten Sterbens von Frank aus: Gezeigt werden einerseits die erste Bestrahlung, der „Kahlschlag“ nach der Chemotherapie, die Beerdigungsbesprechung beim Bestatter, Krampfanfälle mit Schaum vorm Mund und Morphium-Spritzen, Windeln wechseln, Sprachstörungen und der letzte Atemzug.
Andererseits aber auch der letzte Familienurlaub, das letzte Mal Spielen im Schnee mit Sohn Mika, das letzte Mal Zusehen beim Sport-Turnier von Tochter Lili, der letzte Sex mit Simone, der letzte Whisky mit der Schwiegermutter und die letzte Umarmung von Frank und seinem Vater, der ihn überleben wird. Man hört Franks Schmerzensschreie, aber man hört ihn auch im Krankenbett Gitarre spielen. Und die ganze Geschichte von der eigentlich heilen Familie, die so plötzlich aus all ihren Gewohnheiten gerissen wird, ist durchgehend authentisch und dennoch so unaufdringlich, dass „Halt auf freier Strecke“ gerade deshalb noch eine Weile hängen bleibt, nachdem er aus ist.
Was dem Film gut getan hätte, wäre eine ruhigere und professioneller wirkende Kameraführung gerade in der ersten Hälfte. Das teilweise unscharfe Gewackel, das eher an eine Handkamera erinnert, passt nicht zum Film und seinem Inhalt – ein paar mehr ruhige Einstellungen und vor allem umfangreiche Nahaufnahmen wären angebrachter gewesen, gerade weil der Film so sehr von den Emotionen seiner Charaktere getragen wird. In der zweiten Hälfte ändert sich dies zum Glück etwas zum besseren.
Was dem Film indes sehr gut tut, ist, dass er mit sehr wenig Soundtrack auskommt. Eine ständige musikalische Untermalung, gerade der „schweren“ Szenen, wäre zu dick aufgetragen gewesen. Gelungen ist auch die gelegentliche Darstellung von Franks Gedanken; sein Tumor wird etwa im Fernsehen von Harald Schmidt interviewt, sein Gesundheitszustand wird im Radio durchgegeben und als Frank einmal erwacht, liegt neben ihm nicht Simone, sondern sein vermenschlichter Tumor. Der Film gewinnt viel durch solche Kleinigkeiten.
Insgesamt ist „Halt auf freier Strecke“ ein berührender, realistischer und sehenswerter deutscher Film, wenn man nach der ersten halben Stunde nicht abgeschaltet hat und ignorieren kann, dass gerade sein Hauptcharakter schauspielerisch so wenig überzeugt. Mit Sicherheit nicht überragend und auch nicht leicht verdaulich, aber in seiner Intensität dennoch über weite Strecken ein sehr gelungener Film über ein Thema, das vielen nicht fremd sein dürfte.
Ausstattung
Die DVD kommt mit recht umfangreichem Bonusmaterial, unter anderem gibt es Interviews mit Regisseur Andreas Dresen und Hauptdarsteller Milan Peschel und entfernte Szenen zu sehen sowie einen Audikommentar von Dresen zu hören. Das Booklet der DVD ist mit 32 Seiten ebenfalls sehr umfangreich ausgefallen.
Seit dem 24. August 2012 im Handel.
Originaltitel: Halt auf freier Strecke (Deutschland 2011)
Regie: Micha Lewinsky
Darsteller: Milan Peschel, Steffi Kühnert, Mika Nilson Seidel, Talisa Lilli Lemke, Ursula Werner
Genre: Drama
Dauer: 110 Minuten
Bildformat: 16:9
Sprachen: Deutsch
Untertitel: Englisch, Französisch, Spanisch
Audio: Dolby Digital
Bonusmaterial: Interviews mit Andreas Dresen und Milan Peschel, entfernte Szenen, Harald Schmidt Show, Audiokommentar von Andreas Dresen, Audiodeskription für Sehbehinderte, Booklet
Vertrieb: Impuls
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Trailer
Offizielle Seite zum Film