Das Kabinett des Dr. Strangelove

Das Kabinett des Dr. Strangelove

Interview mit Berner Videoapotheker

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Stefan Theiler alias Dr. Strangelove (29) kümmert sich seit über zwei Jahren um die Sörgeli und Ängschtli der Berner mit Delikatessen aus der Filmwelt. Als Videoapotheker kuriert er die Menschen mit seiner Medizin: von Almodóvar bis Zinnemann ist für jeden etwas dabei. Ein Gespräch über sprachlose Tagschläfer, den digitalen Rückzug und die heilende Kraft einer Videoapotheke.

Von Naomi Gregoris.

Stefan, sind die Berner krank?

Wie meinst Du das jetzt?

Du hast eine Videoapotheke in der Rathausgasse und 20 bis 30 Kunden pro Tag. Heisst das nicht, dass die Berner Deine Medizin brauchen?

Zwanzig bis dreissig? Woher weißt Du das?

Grad vorher waren innerhalb einer halben Stunde sieben Leute hier.

Aha ja. Aber das war der Buchhändler von nebenan, der mir ein Buch zurückgebracht hat, und die Modis, die das frühere Ali Baba weiter unten in der Rathausgasse zu einem Café machen wollen. Mit denen habe ich ein Gespräch geführt, für die Brunnenzeitung der Rathausgasse. Und dann ist noch Vincent vorbeigekommen, mein bester Freund. Er ist Geiger und hat sich eine Konzerthose gekauft. Und dann noch – stimmt! – zwei Leute, die einen Film gegen mangelndes Selbstvertrauen suchten. Ich habe ihnen Alice von Woody Allen mitgegeben.

Dein Lieblingsregisseur.

Woody Allen ist wahnsinnig gut! Er ist so subtil und witzig und ehrlich in seiner Filmsprache. Ich empfehle viel Woody Allen, besonders wenn Leute Beziehungsprobleme haben oder sich vom Stadtleben erdrückt fühlen.

Die Leute kommen also zu Dir und schildern Ihr Problem, und Du kurierst sie mit einem Film.

Nicht unbedingt. Nicht alle haben Sorgen oder Probleme. Ein Apotheker muss ja nicht nur bei Krankheiten helfen, sondern auch als Energielieferant zur Stelle sein oder wenn die Leute was Wohliges suchen, wenn sie sich gut fühlen wollen. Da hat der Apotheker immer das passende Serum bereit. Genauso läufts bei mir und meinen Filmen. Die Idee habe ich von Erich Kästners lyrischer Hausapotheke, ein kleines Büchlein, wo’s für jedes Problem ein Gedicht oder zwei gibt. Ich bin der Meinung, dass gute Filme Lebensweisheiten vermitteln, die aus der Misere heraus führen können.

Welche Krankheiten sind am häufigsten?

Mehrheitlich geht es um Liebe oder Stress. Das schlimmste Problem ist aber meiner Meinung nach die Vereinsamung. Obwohl natürlich fast niemand hierherkommt und zugibt, einsam zu sein. Die Menschen reden aber nicht mehr miteinander und das ist traurig. Es ist auch ein Grund, weshalb ich mit meiner Videothek immer noch hier bin. Die Leute kommen nicht unbedingt weil sie einen Film brauchen, sondern in erster Linie weil hier jemand ist, mit dem sie plaudern können. Ich rede mit allen, das habe ich von Anfang an so gemacht. Man muss den Menschen in die Augen schauen, sich für sie interessieren. Die ganze Digitalisierung macht sie sonst zu einsamen, sprachlosen Tagschläfern. Schau Dich nur mal auf der Strasse um, alle Menschen haben den Blick gesenkt, niemand schaut Dir mehr in die Augen. Ihr Blickfeld beschränkt sich nur noch auf ihr Smartphone!

Deshalb hast Du auch kein Handy.

Ich hatte als einer der Ersten ein iPhone, hast Du das gewusst? In der Werbeszene, wo ich früher gearbeitet habe, waren alle riesige Gadgetfreaks. Der Creative Director hat damals sofort das erste iPhone aus Amerika bestellt und ich bin natürlich mitgezogen. Aber jetzt habe ich schon seit einiger Zeit kein Handy mehr, und ich sage Dir, es ist so befreiend! Man kann mich nur erreichen, wenn ich zuhause bin. Ich wohne ja hinten im Laden, da habe ich Wohn- und Arbeitsraum vereint. Die Menschen können mich also praktisch immer erreichen, ausser ich bin gerade bei RadioRabe, wo ich meine monatliche Radiosendung habe, oder in der Aare oder am Markt oder so. Es ist meine Art von Rückzug aus der digitalen Landschaft. Ich habe auch seit vorgestern keinen Computer mehr, übrigens.

Wie fortschrittlich.

Ich weiss! Jetzt schreibe ich Briefe auf meiner alten Schreibmaschine oder mit der Tusche, die ich gestern gekauft habe. Die Floristin nebenan hatte eine solche Freude – ich habe ihr einen Brief mit meinem Plan vom Rückzug aus der digitalen Welt geschrieben. Ist doch viel schöner, so ein Brief, da hat man was in der Hand und es ist so persönlich. Viel persönlicher als eine Email, wenn Du mich fragst. Ins Internet geh ich jetzt nur noch alle zwei Tage, genau eine Stunde lang, im Kulturbüro. Da kann ich alles erledigen und bin dann schnell wieder raus.

Die meisten Leute können sich diesen Luxus nicht mehr leisten. Computer sind unentbehrlich geworden.

Stimmt. Aber ich habe mir mein Leben eben anders organisiert. Ich bin nie im Mainstream mitgeschwommen. Und habe auch noch nie nur das gemacht, was andere von mir wollten.

Auch früher, als Du noch als Werber gearbeitet hast?

Das hat mich aus der Werbebranche gerettet! Ich war als strategischer Planer in Zürich bei lowe und hier in Bern bei maxomedia tätig. Ich habe die Kundenbriefings interpretiert und neu umgeschrieben, damit der Texter und Grafiker ein kreatives Sprungbrett hatten. Schon damals habe ich meistens nur gemacht was ich wollte. Mein Chef hat mir gedroht, dass ich gehen muss wenn ich nicht seine Formeln und Strukturen befolgen würde. Am Weihnachtsessen bekam jeder einen Pin. Auf meinem stand „Break the Rules“. Das fanden alle ganz witzig. Nach diesem Weihnachtsessen hatte ich – hier in diesem Haus, im zweiten Stock, wo ich damals gewohnt habe – den Albtraum, der mein Leben gerettet hat. Ich habe geträumt, dass alle 50 Mitarbeiter im Raucherzimmer in einem ovalen Kreis um mich herumstehen und dann musste ich mich rechtfertigen wieso ich nie das mache, was man mir sagt. Der Chefberater – der mir dann tatsächlich drei Tage später in den Rücken fiel – war der Folterknecht und hat Folteranweisungen gegeben, und dann haben sie mich gefoltert, bis in die Genitalien hinein ging das. Als ich dann schweissgebadet aufwachte, habe ich gemerkt, dass ich meine kreative Libido verliere wenn ich weiterhin da angestellt bin. Der Psychiater hat mich dann 2 Monate lang krankgeschrieben und ich habe mir Gedanken gemacht und Ideen gesponnen.

Und dann kam der Laden.

So ist es! Er hat mich gefunden. Denn genau in dieser Zeit wurde hier unten dieser Laden frei und ich habe sofort versucht, mit Briefen und Gedichten meine Vermieterin dazu zu bringen, ihn mir zu vermieten. In der Zeit haben viele Leute von mir Filme ausgeliehen, unter anderen mein Psychiater. Und dann hab ich gedacht, ich könnte mein Filmwissen doch einfach professionell in eine Videothek verwandeln. Ich habe 2‘000 Franken investiert und meine Mietkosten radikal heruntergeschraubt, indem ich in den Laden gezogen bin. Seither bin ich jeden Tag hier, ausser wenn ich in den Ferien bin oder bei meiner Freundin in Wien. Dann schaut Vincent nach dem Laden.

Wie überlebst Du mit einem so kleinen Laden in einer verschlafenen Gasse?

Die Rathausgasse ist überhaupt nicht verschlafen, sie ist eine Schatzkiste! Hier findet man nicht nur tolle Läden und Beizli sondern die interessantesten Menschen, direkt vor der Haustüre, man muss nur raus und die Augen aufmachen und schon hat man ein super Gespräch. Als Student bist Du manchmal fast ein bisschen wie in einem Bildungskloster oder einer Sekte. Alle sind in etwa gleich alt wie Du, ihr befasst euch alle mit der gleichen Materie, lauscht alle dem gleichen Guru, lest alle die gleichen Bücher. Aber es könnte anders sein, man kann sich auswählen was man wissen will, man kann ausbrechen. Die Neugier ist eine der besten Tugenden die es gibt, sie ist meine liebste Eigenschaft. Deshalb habe ich Erfolg mit meinem Laden. Ich interessiere mich für Menschen. Bei mir gibt’s nicht nur einen Film sondern ein Gespräch, Ideen, Gedankenaustausch. Das ist weit mehr wert als ein paar Floskeln und einen öden Blockbuster.

Die Berner sind also nicht krank, sie brauchen bloss mehr Gedankenaustausch.

Genau. Und ganz viel Woody Allen.

Infos

Dr. Strangelove’s Videoapotheke
Stefan Theilers Videoapotheke an der Rathausgasse 38, Bern, hat täglich von 14:00 – 22:00 Uhr geöffnet. Besuche, Anrufe, Brieftauben und Augenkontakt werden herzlich empfangen und sind wärmstens empfohlen.





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