Andrea Camilleri: „Die Sekte der Engel“
Oh, ihr Behüter der Unschuld!
Andrea Camilleri: „Die Sekte der Engel“ (Roman)
Patriarchen schützen die Ehre der Familie, Priester die der Kirche, die Anwälte suchen noch danach. In seinem Roman „Die Sekte der Engel“ tischt uns der sizilianische Autor Camilleri einen Skandal auf, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt.
Von Noemi Jenni.
Fromm sollten sie sein, fromm und keusch, die sizilianischen Töchter – ein regelrechter Frömmigkeitswettbewerb herrscht unter ihnen. Doch das hier ist eine Männergeschichte. Denn im Städtchen Palizzolo gibt es um den Beginn des 20. Jahrhunderts den exklusiven Herrenverein „Ehre & Familie“, in dem sich Adel und Grundbesitzer um den Ruf, die Tugend und die Führung des Städtchens sorgen. Die Patriarchen regieren mit straffer Hand und zücken schon einmal die Pistole. Das sizilianische Palizzolo beherbergt acht Kirchen und siebentausend Einwohner. Sieben der Kirchen haben Adel und Grundbesitzer untereinander aufgeteilt, die achte, die Kirche zum Gekreuzigten Heiland, ist für die Bauern und die armen Leute bestimmt. Don Mariano Dalli Cardillo ist dort Pfarrer, er ist siebzig und gutherzig, die anderen sieben Pfarrer sind noch relativ jung und agil.
Von Busse und Sünde
Rare Dinge beginnen ihren Lauf zu nehmen, als der Marchese Cammarata nicht mehr zum Vereinstreffen erscheint und auch im Hause des Barons da Mascolo die Läden geschlossen bleiben. Don Anselmo Buttafava schliesst daraus, dass es sich um Cholera handeln müsse und schon beginnen die Gerüchte das Städtchen in Aufruhr zu versetzen. Der Advokat Teresi forscht auf eigene Faust nach und der Capitano Montagnet, der Polizeipräfekt von auswärts, zur Aufklärung ins Nest geschickt, beginnt auch in den dunklen Machenschaften zu grübeln. Sogar seine Exzellenz Egilberto Martire wird hineingezogen in den Strudel, denn schlussendlich scheinen die acht Pfarrer seiner militärisch disziplinierten Hand bedürftig. Zu allem Durcheinander kommen dann noch ein paar junge, unverheiratete Frauen, die behaupten, vom Heiligen Geist geschwängert worden zu sein. Sind sie gar die Quelle des Übels? Wo bleiben da Vernunft und Moral?
„Betrachten Sie sich als geohrfeigt“
Diese Aufforderung zum Duell fällt nicht nur ein Mal. Camilleri erzählt uns von Hitzköpfen in einer Gerüchteküche, in der nicht nur heiss gekocht, sondern auch gegessen wird. Mit den vielen Verwirrungen und diversen Protagonisten erinnert dieser Kriminalroman am Rande an eine Shakespeare’sche Komödie. Die Herren der Geschichte sind unglaubliche Schwatzmäuler, listig, stolz und ein wenig hilflos.
Der Roman ist einfach geschrieben, als würde er gerade so draussen auf dem Dorfplatz an einer Strassenecke erzählt – Klatsch am Abend. Die Sätze und die Wortwahl sind simpel, doch die Geschichte ist umso verstrickter. Camilleri hält seinen leichten und schwungvollen Stil bis zum Ende durch und bleibt gekonnt oberflächlich. Die Zufälle häufen sich, ergreifende Ereignisse und sensible Gefühle gibt es nicht, da wegen dem rasanten Tempo keine Zeit bleibt, überhaupt welche zu entwickeln. Der Spannungsbogen ist vorhanden, leben tut die Geschichte aber vor allem von ihrem Humor und der spitzen Zunge des Autors und natürlich von den schockierenden und mysteriösen Ereignissen, die nacheinander ans Tageslicht kommen. Zum Schluss dürfen wir erfahren, dass sich diese Geschichte so ähnlich wirklich zugetragen hat.
Titel: Die Sekte der Engel
Autor: Andrea Camilleri
Übersetzerin: Annette Kopetzki
Verlag: Nagel & Kimche
Seiten: 240
Richtpreis: CHF 26.90