Dirk Kurbjuweit: „Angst“

Dünne Haut

Dirk Kurbjuweit: „Angst“ (Roman)

Nichts ist normal, nichts selbstverständlich, nichts sicher – das war früher einmal. Dirk Kurbjuweit zieht uns hinein in Ereignisse, die einen unscheinbaren Bürger zum Mörder machen und uns gnadenlos vor die Frage stellen: Könnte ich das auch?

Von Noemi Jenni.

Hast du etwas zu verlieren?

angstEigentlich hat Herr Tiefenthaler alles: eine gutbezahlte Arbeit, eine schöne Frau, zwei süsse Kinder, eine schicke Eigentumswohnung. Doch plötzlich beginnt es an allen Fronten zu bröckeln, dem studierten Architekten drohen die Wände über dem Kopf einzustürzen. Es zieht sich vor seiner Frau zurück, unmerklich, aber stetig, ein unangenehmer Nachbar macht die Wohnung zur belagerten Höhle und die Kinder sind mittendrin.

Herr Tiberius wohnt unter der Familie Tiefenthaler und beginnt sie mit obszönen Beschuldigungen des Kindsmissbrauchs zu drangsalieren. Er meldet vermeintliche Vorfälle bei der Polizei und schon befindet sich die Familie in einer Lage, in der sie dem guten Willen der Behörden ausgeliefert ist. Diese können jedoch nicht eingreifen, da keine Handgreiflichkeiten vorliegen und so wird die Familie weiter mit Briefen, perversen Gedichten und ab und zu einem Besuch der Polizei belästigt. Herr Tiefenthaler fühlt sich schutzlos, bedrängt und schwankt zwischen Lähmung und der geschäftigen Suche nach Alternativen, um Herrn Tiberius legal zu vertreiben. Die Beziehung zu seiner Frau, schon vor den Vorfällen eher eisig und distanziert, wird noch einmal auf die Probe gestellt. Zum Schluss bleibt entgegen jeglicher Moralvorstellungen und Rechtsgläubigkeit nur der Mord an Tiberius.

Könnte ich es?

Kurbjuweit konstruiert die Geschehnisse als Reflexionen Tiefenthalers, der nach dem Tod von Tiberius die ganzen Abläufe rekonstruiert und niederschreibt. Dabei sucht er nach Gründen für seine Angst, seine Beziehung zu Waffen und seine Grundwerte. In Tiefenthalers Gedanken dominiert die zweite wichtige Figur, der Vater, der Waffen sammelte, immer eine unter der Achsel dabeihatte und seine Kinder im Schiessen unterrichten wollte – der Vater, der schon immer Angst hatte, und der Vater, der nun den Totschlag an Tiberius im Gefängnis absitzt.

Wie weit prägt uns unsere Kindheit? Könnte jeder einen Mord verüben? Könnte ich es? Wann ist der letzte Tropfen im Fass? Diese Frage stellt uns der Autor gnadenlos eindringlich. Bei Kurbjuweit gibt es keine grossen Helden oder Bösewichte, alle Figuren sind so, dass sie unsere Nachbarn sein könnten, extrem realitätsnah und fassbar mit ihren Fehlern und Schwächen. Dies ist wohl die grosse Stärke dieses Romans – seine Unmittelbarkeit.

Minutiös und unprätentiös

Sicherheit wird zum unerreichbaren Luxusgut und die einzige Alternative, die dazu bleibt, ist gespielte Sicherheit und gespielte Normalität. Feinfühlig spinnt Kurbjuweit die Fäden und verbindet sie, bis sie zu einem undurchdringbaren Netz werden, in dem der Anfang nicht mehr sichtbar ist und scheinbar nur noch ein Ausweg bleibt. So nah und fassbar wurde Angst noch selten beschrieben. Der Protagonist wird so minuziös dargestellt, dass wir jede seiner Entscheidungen nachvollziehen können und schlussendlich froh sind, dass es nur ein wahnsinnig straff erzählter Roman ist, der beeindruckt, aber auch beängstigt. Ein Frontalangriff auf jeder Ebene. Nach diesem Buch ist die Moral nicht mehr dieselbe und der Leser hat sich Fragen ausgeliefert, von denen er nur hoffen kann, ihnen nie in der Realität zu begegnen.


Titel: Angst
Autor: Dirk Kurbjuweit
Verlag: Rowohlt Berlin
Seiten: 256
Richtpreis: 27.50 CHF

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