Das globale Archiv Internet soll vor der Zerstörung bewahrt werden
Digitales Gedächtnis unter der Erde

Das grösste Wissensreservoir unserer Kultur ist gegenwärtig das Internet. Trotzdem ist es wenig geeignet als kulturelles Gedächtnis, das die Zeit überdauern könnte. Es bedarf aufwändiger Archivierung, um das weltweite Kurzzeitgedächtnis in einen langfristigen Kulturspeicher zu verwandeln. Nicht zuletzt braucht es auch Orte, wo Server vor Zerstörung sicher sind. Am besten unter der Erde.
Von Lucia Michalcak
Wem heutzutage daran gelegen ist, nicht vergessen zu werden, der braucht keinen aufwändigen Grabstein, keine Pyramide wie die Pharaonen im alten Ägypten. Es reicht, ein Facebook-Profil einzurichten. Bekanntlich vergisst das Web nichts, auch nicht die Toten. Verschiedentlich haben Medien in letzter Zeit darüber berichtet, wie schwer sich Facebook damit tue, Profile Verstorbener zu löschen, so sehr sich Hinterbliebene auch darum bemühten.
Die Firma Mywebwill.com hat sich dieses Problems angenommen: Sie setzt auf Wunsch von Usern eine Art digitales Testament auf. Darin legt der Kunde fest, was mit einem Profil zu geschehen hat und Mywebwill kümmert sich um die Einhaltung des letzten Wunsches. Bis vor Kurzem gab es auf Facebook eine Seite – In 100 Jahren gibt es auf Fb 2 Millionen tote User – , welche an die „untoten“ Profile erinnerte. Seit einigen Tagen ist sie allerdings nicht mehr aufrufbar – in diesem Fall ist Facebook das Löschen offensichtlich leichter gefallen.
Sollen persönliche Daten im Netz nicht verloren gehen, tut der Internetnutzer gut daran, sie irgendwo unterzubringen, wo sie von wirtschaftlichem Nutzen sind. Zwar verzichtet er damit in der Regel auf die Rechte der eigenen Angaben. Doch kann man im Gegenzug davon ausgehen, dass sie bei einem Unternehmen wie Google oder Facebook sicher vor dem Vergessen sind.
Ein etwas anders gelagertes Beispiel zeigt dies besonders deutlich: Wer Musik, Filme oder elektronische Bücher von i-Tunes bezieht, sollte die Geschäftsbedingungen genau lesen. Das Eigentumsrecht an den eingekauften Dateien ist nämlich nur vorübergehend und geht nach dem Tod des Käufers zurück an Apple. So geisterte letztes Jahr eine Meldung durch die Presse, der Schauspieler Bruce Willis habe vor, die Firma deswegen zu verklagen. Wahr oder nicht, Apple hat das letzte Wort bei der privaten Computermediathek.
Das Internet vergisst doch
Angesichts solcher Tatsachen verwundert es wenig, wie schnell in den Medien der Mythos vom Internet, das nichts vergisst, entstanden ist. Wer jedoch nachforscht, stellt fest, dass auf den Grossteil der Daten im Netz das Gegenteil zutrifft: Das Internet vergisst mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Lucy Burgess von der britischen Nationalbibliothek spricht sogar vom „digitalen schwarzen Loch“.
Eine Studie der amerikanischen Old Dominion University aus dem Jahr 2012 legt nahe, dass nach einem Jahr bereits elf Prozent der Webseiten nicht mehr auffindbar sind, nach zwei Jahren ganze 27 Prozent. Das registrieren insbesondere jene Einrichtungen, die sich den Erhalt und die Archivierung des Internets zur Aufgabe gemacht haben. Und so der Menschheit sozusagen ein kulturelles Gedächtnis für das Netz zur Verfügung stellen wollen.
Ein derartiges Projekt verfolgt die britische Nationalbibliothek mit ihrem UK Web Archive. Das grösste jedoch befindet sich mit The Internet Archive in San Francisco. Dort wird nicht nur das Ziel verfolgt, möglichst umfassend das Internet abzuspeichern. Zusätzlich bietet die sogenannte Wayback Machine die Möglichkeit, Webseiten in ihrer zeitlichen Entwicklung nachzuverfolgen – inklusive aller vollzogenen Veränderungen .
Kampf der Vergänglichkeit
Im Bezug auf das Internetzeitalter spricht Aleida Assmann, Professorin für Englische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz von einer Aufmerksamkeitskultur, welche die vom Buchdruck geprägte Gedächtniskultur abgelöst hat. Durch das Netz wird nur solches Wissen erinnert, d.h. zugänglich gehalten, das genügend Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann, um mit der allgemeinen Informationsflut konkurrieren zu können. Das führt vor Augen, worum es beim kulturellen Gedächtnis des Internetzeitalters tatsächlich geht: Wissen soll trotz Aufmerksamkeitsökonomie der Vergänglichkeit entzogen werden, ganz wie in der Antike der Wissensbestand in der Bibliothek von Alexandria – bis sie abbrannte.
Und wenn nun durch einen vergleichbaren Unglücksfall ein Server zerstört wird? Dann ist auf einen Schlag eine weitaus grössere Informationsmenge vernichtet, als dies beim Brand in Alexandria der Fall war. Denn Server sind die materiellen Träger des Internets.
Sicherheit unter der Erde
Daher werden auch Server inzwischen immer häufiger auf altbewährte Weise an einem sicheren Ort platziert: unter der Erde. Die Server von Wikileaks beispielsweise stehen in einem alten Atombunker 30 Meter unterhalb der Erdoberfläche in Stockholm. Einem letztjährigen Bericht von Schweiz Aktuell zufolge wurden am Vierwaldstättersee ehemalige Militäranlagen bis zu tausend Meter unter der Erde zu Rechenzentren umfunktioniert. Das Angebot umfasst „digitale Safes“, d.h. geschützten Speicherplatz für sensible Firmendaten, aber auch solche von privaten Internetnutzern.
Doch sind die gespeicherten Daten des ganzen Internets nicht mindestens so sensibel wie die heiklen Daten von Wikileaks oder von Unternehmen und verdienen ein entsprechend sicheres Lager? Eigentlich gehörten Internetarchive wie das in San Francisco oder in London ebenfalls unter die Erde, damit der Zugriff künftiger Generationen auf ein kulturelles Gedächtnis gewährleistet ist. Und was könnte zu diesem Zweck würdiger sein als die Haltbarmachung in einer Grabkammer tief unter der Erde, über welcher sich pyramidengleich die Berge erheben – unsterblicher noch als jedwedes altertümliche Denkmal?
Im Netz
Artikel in seite3.ch: Wikileaks: Server in ehemaligem Atombunker
Bericht von Schweiz Aktuell: Kommandoposten bunkert jetzt Daten
Artikel in der Basler Zeitung: Warum Tote bei Facebook zu Problemfaellen werden
Artikel in ZeitOnline: Das Netz vergisst doch
Artikel in Library Essentials: Das löchrige Gedächtnis des Internets
Ebenfalls mit dem Thema der Vergänglichkeit unseres kulturellen Gedächtnis befasste sich ein Nahaufnahmen-Kommentar von 2010: Die vergessene Zukunft
Das Prinzip der Aufmerksamkeit:
Aufmerksamkeit als Organisationsprinzip kennzeichnet bekanntlich auch die Art und Weise, wie Suchmaschinen Suchresultate aus dem Netz anordnen: An erster Stelle ist stets das zu finden, was bisher auch am meisten gesucht wurde oder die zahlreichsten Links zu anderen Webseiten aufweist – eben die grösste Aufmerksamkeit erfährt. Das gilt im Übrigen nicht nur für das Internet sondern für die öffentlichen Medien im Allgemeinen. Nur worüber die meisten Medien berichten, wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Eine solche Gedächtniskultur ist kaum viel mehr als ein Kurzzeitgedächtnis. Daher rühren auch die Anstrengungen seitens von Internetarchiven Informationen dauerhaft zu speichern und verfügbar zu machen.