The Walking Dead – 400 Days (Telltale Games)

Gedankenspiele

The Walking Dead – 400 Days (Telltale Games)

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Mit 400 Days hat die Zombie-Mär The Walking Dead jüngst ein neues Kapitel bekommen. CHRISTOF ZURSCHMITTEN argumentiert beiläufig, dass die Stärken der Serie darin wie in einem Brennglas gebündelt werden – und dass The Walking Dead mehr denn je als eines der ersten wirklichen Rollenspiele für den Computer gelten darf.

Während viele, viele Menschen in Telltales The Walking Dead eines der besten Spiele des letzten Jahres erkannten, zupfte eine kleine, laute Fraktion ihre elend eng sitzenden Unterhose zurecht und monierte: „Das ist gar kein Spiel, weil Interaktivität und  grummelgrummel.“ Diesen Adepten der platzarmen Stirnhöhle wurde, völlig zurecht, ein bestechendes Argument entgegengeschleudert: „Schnauze, Alter!“ ich heute zwei Stunden mit dem just erschienenen zusätzlichen Kapitel  400 Days, möchte ich hinzufügen: „Alter, nenn The Walking Dead, wie du willst. Ich nenne es das erste Rollenspiel, das mir auf dem Computer begegnet ist.“

Allerdings lässt sich der Begriff nicht wie üblich nach Zahlen malen: Von den Nummernhubereien, die seit den Tagen des Nicht-Computers im Rollenspiel-Genre für Realität einstehen müssen, gibt es hier nichts zu sehen. „Rollenspiel“ reimt sich in The Walking Dead eher auf Doktorspiel (auch wenn die einzige Erotik die der Endzeit-Romantik ist), oder auf den Übereifer des Arbeitspsychologen, Eheberaters und Sozialarbeiters. Gewürfelt wird hier nicht, auch wenn die Würfel ständig schon gefallen scheinen, Rechnungen bleiben zwar teilweise offen, nur hat das mit Mathematik nichts tun.

Stattdessen kann ich eine Rolle einnehmen, schlicht und ergreifend. Vor The Walking Dead war mir nicht bewusst, wie selten dies im Medium eigentlich ist. Die so gerne beschworene Minimalidentifikation mit jedem Avatar? Geschenkt, wenn ihr mir im Gegenzug eine Erkenntnis lasst: Die nämlich, dass ich in diesem Medium bislang kaum je einen Mensch gespielt habe, dessen Leben, dessen Entscheidungen eine Rolle spielen. Damit wir uns verstehen: Ich kenne und herze das hier aus Gründen linguistischer Klarheit „RPG“ genannte Genre seit den Tagen von New World Computing und Attic Entertainment. Aber ich kann die Fälle, in denen eine Entscheidung mir Empathie statt Kalkül abverlangt hat, an einer Hand abzählen. Wo so oft das Schicksal ganzer Welten auf dem Spiel steht, spielen Dinge wie Menschen und ihr Leben oft keine wirkliche Rolle.

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Nicht so im vor die untoten Hunde gegangenen Südosten der USA, in dem The Walking Dead spielt. Zwar mag man Oli Welsh rechtgeben, wenn er bemerkt, dass die gelegentlich schlurfende Erzählung als so aussergewöhnlich nur in einem Medium gelten kann, in dem gute Geschichten seltener sind als ein saftiges Steak tadelloser Herkunft in einem postapokalyptischen Diner. Dennoch hält The Walking Dead seinen Kurs. Auch wegen der insgesamt eben doch beachtlichen Qualität der Geschichte, aber mehr noch wegen der Position, die der Spieler darin einnimmt. Wie weit das Resultat einer Handlung von einem vorgegebenen Pfad abspreizt, ist dabei letztlich Nebensache. Entscheidend ist nur, dass wir aufgefordert werden, die Handlungen, die diesen prekären Pfad pflastern, so gründlich zu überdenken, wie die Notlage es erlaubt.

The Walking Dead ist vor allem anderen ein Gedankenspiel. Und weil seine Welt eine wiedererkennbare ist, die nur zentimeterweise von einer irrealen, aber jederzeit als möglich vorstellbaren Realität abweicht, sind die uns abgeforderten Gedanken ebenfalls wiedererkennbar. Die emotionale Härte von The Walking Dead ist ganz wesentlich der Tatsache geschuldet, dass die Spieler das Spiel, seine Ereignisse und Katastrophen persönlich nehmen können. Die über allem schwebende Frage lautete hier, mehr als in jedem anderen mir bekannten Spiel: „Was würde ich tun?“ Die Antworten darauf waren selten angenehm, die Gefühle, die sich daraufhin einstellten, ebenso wenig.

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In 400 Days, das mit der bisherigen Geschichte in (noch) keinem erkennbaren Zusammenhang steht, wagen Telltale etwas Neues: Sie wechseln die Gattung. Anstelle der Erzählung steht nun erstmals die Kurzgeschichte, im beinahe vollen, im Deutschen nie richtig wiederzugebenden Wortsinn von short story. Die wichtigsten Kennzeichen sind allesamt da: Die Kürze, natürlich – 400 Days kann in knapp zwei Stunden durchgespielt werden und beinhaltet dabei fünf Geschichten, um fünf unterschiedliche Protagonisten. Aber da ist auch die massive Verdichtung von Zeit und Handlungsort. Und was an diesen Orten passiert, ist, gattungsgerecht, dass die Scheisse nach einer kurzen Ruhe vor dem Shitstorm ganz ordentlich am Dampfen ist.

Der häufige Perspektivenwechsel in 400 Days lässt uns die Apokalypse neu erfahren, mit einer ungekannten Freiheit. Denn die erste Staffel hatte Clementine, diesen anbetungswürdigsten aller Moral-Barometer. Unter ihrem Blick fiel es schwer, den Protagonisten Lee anders zu verkörpern als emotional und physisch vernarbten, aber letztlich doch irgendwie anständigen Menschen. In 400 Days ist nun aber – endlich? – alles offen. Entbunden von der Vorbildrolle lautet die Frage nicht länger: „Was würde ich tun?“ Sie lautet erstmals, oder wenigstens mehr denn je: „Was würde ein vereinsamter, verängstigter, schwarzer Teenager in dieser Situation tun?“, oder: „Würde diese Drogenabhängige ihren Geliebten anlügen?“

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Wie erfolgreich das formale Experiment ist, zeigt sich nur schon darin, dass die verkürzte Dauer, die wir mit den ständig am schmalen Grad der absoluten Überforderung laborierenden Protagonisten verbringen, nicht in Gleichgültigkeit umschlägt. Im Gegenteil: Wir spüren, dass wir aus der Zeit, die uns mit ihnen gegeben ist, das Beste machen müssen. Die Flüchtigkeit des Augenblicks erlaubt es uns, uns auf diese Protagonisten und die Gegenwart einzulassen, uns in ihre Rolle zu versetzen, in diesem einen Augenblick.

Am Ende gibt uns das Spiel die Quittung dafür, in typischer, und doch neuer Weise: Wir bekommen nicht den Menschen vorgeführt, dessen Wesen und Existenz entscheidend geprägt wurde vom einen Moment, in dem wir ihn beobachtet und beeinflusst haben. This ain’t no Bildungsroman: Wenn die Untoten die Welt zernagen, ist eh jeder Tag judgement day, und unser Augenblick zusammen nur eine Extremsituation unter vielen. Das Schlusstableau, 400 Tage später, zeigt uns deshalb nicht das Resultat unserer Handlung. Es zeigt uns vielmehr einen Menschen, der bereits einer war, bevor wir eingegriffen haben, und der einer blieb, nachdem wir die Finger von ihm liessen. Unser Einfluss beschränkte sich darauf zu entscheiden, wer dieser Mensch ist, und wie er mit der Hölle auf Erden umgeht. Am Tag, an dem wir ihn gegängelt haben, aber auch in den hundert Tagen danach.

Insofern legt 400 Days den moralischen Kern der gesamten Serie frei: Das Böse ist nichts anderes als eine fatale Frage, die nicht länger ignoriert werden kann, und all die Antworten darauf, die wir nicht verstehen können oder wollen.

 

Bereits erschienen.

Originaltitel: The Walking Dead – 400 Days
Plattformen: PC, Mac, XBOX Live Arcade
Genre: Adventure „Rollenspiel“, Empathiesimulator
Entwickler: Telltale Games
Veröffentlicht von: Telltale Games

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