Sonnenbad mit Text

Sonnenbad mit Text

18. Internationales Literaturfestival Leukerbad 5. bis 7. Juli 2013

Bei schon fast tropischen Temperaturen lasen 19 Autoren und 10 Autorinnen während drei Tagen in höchst stimmigen Lokalitäten, umgeben von der imposanten Bergkulisse Leukerbads. Besonders überzeugen konnten neben Salman Rushdie und Jonathan Safran Foer insbesondere Katja Lange-Müller, Connie Palmen und Antjie Krog. Einziger Tiefpunkt der Veranstaltung war die Lesung eines ansonsten gefeierten Schweizer Dramatikers.

Von Christoph Aebi.

LiteraturfestivalLeukerbad„Der Text ist ganz frisch, ich nicht so“, begrüsste Lukas Bärfuss die zahlreich erschienenen Literaturinteressierten, die es sich im Garten eines Leukerbader Hotels auf den mit gelb-weiss gestreiften Sitzkissen komfortabel gepolsterten Plastikstühlen gemütlich gemacht hatten. Bärfuss, der erfolgreiche Dramatiker, war nach Leukerbad gekommen, um zum ersten Mal aus dem Manuskript seines zweiten Romans mit dem Arbeitstitel „Malinois“ zu lesen. Darin sinniert ein 42-jähriger Ich-Erzähler über einen Kostenvoranschlag für die Reparatur seines Gebisses („Länger als 40 Jahre sollte keiner mit einem solchen Gebiss verbringen müssen“) und darüber, dass er sich nicht daran erinnert, wie seine Mutter ihn früher wusch („Wieso hat das Gehirn gerade diese Erinnerung gelöscht?“). An einem Novemberabend trifft dieser sinnierende Erzähler auf „einen schweren Mann mit grosser innerer Hitze“, einen Möbelrestaurateur, dessen Geschäfte mehr schlecht als recht laufen. Dieser glücklose Geschäftsmann, auf dem Weg, sich eine Kugel vor die Stirn zu setzen, rammt mit seinem Fiat Ducato einen Malinois, diese Varietät eines Belgischen Schäferhundes, der dem Roman seinen Titel gibt. Besagter Malinois, „ein Ungeheuer, auf der Suche nach Gott“, jetzt schwer atmend, liegt oder besser gesagt schwebt bedeutungsschwanger über der Geschichte. Man könnte den vorgetragenen Manuskriptausschnitt etwas euphemistisch als rätselhaft bezeichnen – oder etwas direkter schlicht und einfach als völlig zusammenhangloses Geschwurbel. Die Bärfuss-Lesung war auf jeden Fall der Tiefpunkt eines ansonsten höchst abwechslungs- und höhepunktreichen Festivals.

Hadern mit dem verlorenen Helfersyndrom

Drei Tage lang lasen 19 Autoren und 10 Autorinnen aus ihren Werken, und zwar in höchst stimmigen Lokalitäten: In Hotelgärten, einer Kaminbar, einer Terrasse mit Panoramablick auf die Gemmi, im Alten Bahnhof, dem Bad des Rehazentrums, um Mitternacht auf 2350 Meter über Meer im Bergrestaurant der Gemmi oder gar spazierend in der Dalaschlucht. Dazu kam in diesem Jahr auch noch das Wetterglück: Jeden Tag strahlte die Sonne vom Himmel und im Walliser Bergdorf herrschten schon fast tropische Temperaturen. Kein Wunder, dass die Festivalorganisatoren bei der diesjährigen 18. Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals Leukerbad mit 3200 Eintritten abermals einen Besucherrekord vermelden konnten. Nebst dem Ambiente, dem Wetter und dem hochkarätigen Programm könnte auch noch der Faktor zum Erfolg beitragen, dass alle Autoren am Festival jeweils mindestens zweimal vorlesen – und somit die Besucher manchmal sogar am Entstehungsprozess eines Textes teilhaben können.

So geschehen bei der Berliner Autorin Katja Lange-Müller, die am letzten Festivaltag die Anwesenden heiter zum „Sonnenbad mit Text“ einlud. Sie präsentierte eine Erzählung, in der die Protagonistin Asta sich von einem befreundeten Paar zu einer Reise nach Nicaragua hatte überreden lassen, um dort fremde Pflanzen und exotische Tiere zu betrachten. Nur um schliesslich im wahrsten Sinne des Wortes auf den Hund zu kommen. Die Erzählung sei anfangs recht kurz gewesen, sagte Lange-Müller, dann immer länger geworden und zum Schluss hätte sich daraus die Hauptfigur für den neuen Roman herausgemendelt. Dieser trägt den Titel „Drehtür“, soll 2014 erscheinen und Lange-Müller trug in Leukerbad erstmals eine Kostprobe daraus vor: Die deutsche Krankenschwester Asta wurde, nach 22 Jahren in der Fremde, zuletzt für „Ärzte ohne Grenzen“ in Nicaragua, nach Deutschland zurückgemobbt. Sie steht nun vor der Drehtür des Münchner Flughafens, mit nichts als einer Lederumhängetasche und einer Duty-Free-Tüte mit einer Stange Camel in den Händen, und hadert mit der Helferindustrie und dem verlorenen Helfersyndrom. Während sie die Reisenden am Flughafen betrachtet, erscheinen ihr „Wörter am Firmament der Schädeldecke“ und Erinnerungen an ihre Jugend in Ost-Berlin blitzen auf. Schon damals sah sie es als ihre Pflicht an, immer und jedem zu helfen, so einem schlanken, jungen, bedürftigen Asiaten, der sich als Koch der nordkoreanischen Botschaft entpuppte – und Asta daraufhin Besuch einer fünfköpfigen, in grau-grüne Uniformen des sozialistischen Bruderlandes gehüllte Delegation bescherte, die ihr im Namen des grossen Führers Kim Il-Sung ein paar bescheidene Blumen überreichen sollten. Der kurze Ausschnitt aus Lange-Müllers mit Spannung erwartetem neuen Roman versinnbildlichte, wieso der Autorin in diesem Jahr der renommierte Kleist-Preis verliehen wird. Um es mit den Worten der Kleist-Jury zu sagen: Sie ist „eine der sprachmächtigsten Autorinnen der deutschen Gegenwartsliteratur“. Gesegnet ist Katja Lange-Müller zudem mit einem brillanten Humor und einer höchst genauen Beobachtungsgabe. So gab sie am traditionellen „Literarischen Abend“, in dem in Kurzlesungen eine Reise durch die Festivalliteraturen geboten wird, gleich noch eine dritte Kostprobe ihres Könnens: In „Mauli und Pauli“ entführte sie die Zuhörer in den Mikrokosmos eines teuren Charlottenburger Restaurants, in dem „ältere, nicht zu sagen greise Paare“ sassen, die „Männer in gespannter Wartestarre“, die „Blicke ihrer Gemahlinnen leerer noch als sämtliche Teller“. Nur die „schwere Seide der dezent gemusterten Tücher und Stolas, die hier einen faltigen Hals, dort ein Doppelkinn kaschieren sollten“, hätten gelegentlich wie Mäuse im Stroh geraschelt. Dies sei jedoch nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen, bis eine Dame, die im Hause gut bekannt zu sein schien, von zwei befrackten Kellnern zu ihrem Tisch eskortiert wurde, dort aus ihrer Krokodillederhandtasche zwei Stofftiere hervorzauberte und diese auf dem Tisch platzierte. „Na Mauli, wonach steht dir heute der Sinn? Und du Pauli, du willst bestimmt wieder eine Wildbouillon und Haselnussparfait? Nein, nein, Cola gibt es nur daheim und nur, wenn du wirklich einmal brav warst!“. Noch in dieser Nacht, resümierte zum Schluss die Erzählerin, habe sie vor dem Fernseher liegend ihrem uralten Plüschhasen Pestalozzi, ohne den sie, nun könne sie es ja zugeben, niemals einschlafe, auch ein Schüsselchen voll gesalzener Nüsse vorgesetzt. „Aber mit ihm essen gehen, und sei es nur eine Currywurst am nächsten Imbissstand, dafür fehlt mir dann doch die nötige Grandezza“.

Die Liebe war stärker als der Hass

Ebenfalls die ganze Bandbreite seines Könnens führte der US-Starautor Jonathan Safran Foer vor. In seiner ersten Lesung im Bad des Rehazentrums Leukerbad, in dem die Festivalbesucher an festlich gedeckten Tischen dort sassen, wo sonst Rheumatiker ihre Runden drehen, im (entleerten) Bassin nämlich, präsentierte Safran Foer einen Ausschnitt aus seinem 2003 erschienenen, allerersten Roman „Alles ist erleuchtet“ sowie den für die „New York Times“ verfassten Essay „How not to be alone“, in dem er analysiert, wie die Technologie die Kommunikation und dadurch auch die Menschen verändert hat. Bei seiner zweiten Lesung, im intimeren Rahmen eines holzgetäfelten Hotelsaales, setzte Safran Foer seinen Essay sozusagen in Tat um und zeigte, wie wichtig ihm die direkte Kommunikation auch mit seiner Leserschaft ist. „Es wäre doch schade, um die halbe Welt zu fliegen, nur um aus einem Buch vorzulesen“, meinte er und flugs entwickelte sich ein ganz und gar unangestrengter Dialog mit dem Publikum. Safran Foer verblüffte die Anwesenden, als er erzählte, dass er sich für handgemachte Dinge interessiere und gerade daran sei, das beste Holz zu finden, um daraus für die Familie ein eigenes Geschirr-Set herzustellen. Auf die Frage, welcher eigene Text ihn im Rückblick am meisten überrascht habe, meinte er: „Mein erstes Buch ‚Alles ist erleuchtet’. Dieses Buch hat so viel Energie und zeigt mir auf, wieviel Energie ich damals selber hatte“. Oft sei er im Nachhinein amüsiert über seine Texte, manchmal möge er sie später auch nicht mehr. Den Text, den er nun vortragen wolle, finde er aber immer noch gut: „Here we aren’t, so quickly“, erschienen vor drei Jahren im „New Yorker“, sei eine Mischung aus Gedicht und Geschichte. Die in knappen Sätzen verfasste Kurzgeschichte eines Paares, in der aus dem „Ich“ und „Du“ ein „Wir“ wird, zeigt in auf den ersten Blick nebensächlich erscheinenden Betrachtungen sowohl mit viel Empathie und Humor als auch messerscharf die im Verlaufe der Jahre auftauchenden Risse in der Paarbeziehung auf („I googled questions that I couldn’t ask our doctor or you“, „“You were too injured by things that happened in the distant past for anything to be effortless in the present.“, „We were always never mentioning it, because we didn’t know what it was“, „We were always moving furniture and never making eye contact“). Die leider bisher noch nicht auf deutsch übersetzte Kurzgeschichte verzückte die Zuhörer und brachte sie gleichzeitig zum Nachdenken. Es war auf jeden Fall eine der Sternstunden des Festivals.

Die Entspanntheit, mit der in Leukerbad nicht nur der Kontakt zwischen Lesern und Autoren, sondern auch der Autoren untereinander möglich ist, zeigte sich, als Jonathan Safran Foer und der zumindest dem Namen nach berühmteste Stargast Salman Rushdie gegenseitig ihre jeweiligen Lesungen besuchten. Rushdie, dessen Besuch auch das Interesse von Medien geweckt hatte, die sich sonst nicht unbedingt für Literaturfestivals interessieren, war eigentlich nach Leukerbad gereist, um seine Autobiographie „Joseph Anton“ vorzustellen. Darin erzählt er die Geschichte der Jahre, in denen er – nachdem Ayatollah Khomeini 1989 die Fatwa über ihn verhängt und somit sämtliche Muslime aufgefordert hatte, ihn hinzurichten – in geheimen Wohnungen und unter ständiger Bewachung leben musste, einen falschen Namen tragend, den er sich aus den Vornamen seiner Lieblingsschriftsteller Joseph Conrad und Anton Tschechow zusammengebastelt hatte. Aus dieser Autobiographie wollte Rushdie in Leukerbad jedoch partout nichts vortragen. Er wolle lieber wieder aufgrund seiner Romane im Gespräch bleiben, meinte er, und zeigte mit der Lesung von Passagen aus seinem ersten Welterfolg „Mitternachtskinder“ sowie aus „Des Mauren letzter Seufzer“ mit welcher Fabulierlust er gesegnet ist. Diese blitzte auch im anschliessenden Gespräch mit der Literaturkritikerin Christine Lötscher auf. Gefragt, woher er die Ideen für seine Geschichten nehme, witzelte er: „Ich gehe in einen Laden, wo diese Geschichten angeboten werden. Aber man braucht für den Zugang ein geheimes Passwort – und dieses darf ich Ihnen leider nicht sagen.“ Zur Frage, ob das Verfassen seiner Autobiographie ein grosser Unterschied zum Schreiben seiner Romane gewesen sei, meinte er: „Natürlich ist es anders, man kennt ja die Geschichte bereits. Die Charaktere sind mehr oder weniger gegeben, inklusive der Person mit dem eigenen Namen. Aber man muss den Leser trotzdem für die Geschichte begeistern, die Charaktere müssen glaubhaft sein. Dies sind alles Gaben, die ein Schriftsteller haben muss. Deshalb schrieb ich meine Autobiografie wie einen Roman – mit dem Unterschied, dass alles wahr ist“. Seine eigene Geschichte hat Rushdie jedoch in der dritten statt ersten Person verfasst. „Ich habe es in der ersten Person versucht, habe jedoch den Ton der Erzählerstimme nicht gemocht, es tönte so unglaublich narzisstisch. Mit dem Gebrauch der dritten Person sind alle Charaktere im Buch auf der selben Stufe. Natürlich bin ich nicht der erste Schriftsteller, der so vorgeht. Christopher Isherwood und J. M. Coetzee haben das ebenfalls bereits gemacht. So bin ich also die dritte Person, welche die dritte Person gebraucht“, erzählte Rushdie schmunzelnd. Das Buch sei zudem sowohl eine Geschichte über den Hass als auch über die Liebe: „Ich war das Ziel eines sehr aussergewöhnlichen und gewaltsamen Hasses. Dann wurde ich zum Empfänger einer enormen Stromes von Liebe durch meine Freunde und meine Familie. Dies ist der Grund, wieso ich immer noch hier bin: Die Liebe war schliesslich stärker als der Hass“.

Gegen das Vergessen anschreiben

Die Liebe, welche alles andere überdauert, sogar den Tod, ist ebenfalls Thema in Connie Palmens eindringlichem „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“. Sechs Wochen nach dem Tod ihres Mannes Hans van Mierlo, des auch als „Kennedy der Niederlande“ bekannten Politikers, begann Connie Palmen, sich Notizen über ihre gemeinsame Zeit, über Tod, Leiden und Liebe zu machen: „Um zu verstehen, wieso Trauer eine so extreme Form von Leiden ist“, wie sie im „Literarischen Hors d’oeuvre“ im Gespräch mit Christine Lötscher erzählte und um gegen das Vergessen anzuschreiben, denn das Verblassen der Erinnerung habe etwas von einem zusätzlichen Tod, ja gar von einem Verrat an der Liebe. „Obwohl man am Vergessen bemerkt, dass es eigentlich notwendig ist. Der Körper benimmt sich in der Trauer nämlich wie ein Verliebter. Irgendwann bemerkt er aber, dass er aufhören muss, sich zu sehnen. Es hat etwas Darwinistisches. Ich habe mit meinem Buch sozusagen gegen Darwin und die Natur angeschrieben, und das hat mir gefallen“. Die ersten zwei Monate habe sie einfach ihr Befinden registriert und diese Aufzeichungen erst später literarischer gemacht. Deshalb sei der Begriff Logbuch auch passender als Tagebuch. Mit der Trauer, so führte Connie Palmen weiter aus, sei auch eine grosse Einsamkeit verbunden. „Die Intimität der Erinnerungen macht einsam. Man liebt einen Menschen nicht für das, worin er gut ist, womit er sich in der Welt einen Namen gemacht hat. Man liebt seine Unvollkommenheiten, seine Schwäche, seine Unschuld. Diesen Blick von meinem Mann gibt es nun nicht mehr“. Während des Jahres, in denen Palmen ihr Logbuch verfasste, starben auch noch die Schwester und die Tochter ihres Mannes sowie einige gute Freunde. „Es war fast beschämend, dass ich am Logbuch arbeitete – und jeder starb.“ Trotzdem: „Dieses Buch musste ich schreiben. Es war wie die Berge hier und hätte sonst die Aussicht auf jedes andere Buch genommen“. Noch schreibt Palmen nicht an einem neuen Werk, denn „das Nachdenken und das Studieren dauert bei mir immer länger als das Schreiben selbst“.

Nicht nur über das Schreiben, sondern vor allem über den Zustand und die Zukunft der Verlagsbranche diskutierten der an- und abtretende Hanser-Verleger, Jo Lendle und Michael Krüger, die beide selber auch als Literaten tätig sind. Während Lendle eher blass blieb, war es ein Vergnügen, Krüger zuzusehen und zuzuhören, wie er – rauchend und in wohlüberlegten Sätzen – messerscharfe Analysen des Buchbetriebs von sich gab. Als er auf die Frage, was denn einen guten Verleger ausmache, antwortete, der Verleger solle zuerst einmal die Bücher lesen, die im Verlag erscheinen, in dem er arbeitet, lachte das Publikum. „Ja, da lachen Sie. Das ist aber nicht selbstverständlich, bei Bertelsmann beispielsweise wäre dies unmöglich. Seit 30 Jahren ist die Verlagsbranche Gegenstand von Konzernbildungen. Heute, und das ist vielen nicht bekannt, stammen 80% der veröffentlichten Bücher aus 3 grossen Konzernen, Holtzbrinck, Bertelsmann und Bonnier. Diese müssen bestimmte Margen erwirtschaften, um die Aktionäre zu befriedigen. Man muss deshalb sehr viele Bücher machen, die man normalerweise nicht machen würde. Die Hälfte der veröffentlichten Bücher sind somit ziemlich überflüssig“. Etwas Licht am Horizont sieht Krüger in Form der kleinen Verleger: „Es gibt immer mehr interessante kleine Verlage, die sich um Dinge kümmern, die nicht die Gewinnmargen erzielen, welche die grossen Häuser machen müssen. Es ist wichtig, dass die Bücher dieser Verlage auf Festivals ein Forum kriegen.“ Trotzdem gibt sich Krüger keinen Illusionen hin: „Die Welt wartet momentan nicht auf Bücher. Dies liegt nicht an den Büchern, aber an der Welt. Die Welt produziert momentan Gesellschaften, die nur zu einem geringen Teil bereit sind, sich mit Büchern zu beschäftigen. Offenbar ist ein gutes Buch für Minderheiten gedacht.“ Für den zukünftigen Hanser-Verleger Jo Lendle ist es dennoch ein erklärtes Ziel, für jedes Buch möglichst viele Leser zu finden: „Das einzige, was hilft, ist, so wenige Bücher zu produzieren, dass man sich für jedes einzelne Buch einen Weg überlegen kann, wie man ein möglichst grosses Publikum erreicht“.

Die Zerstörung des Wunders

Michael Krüger, der im Gespräch auch von seiner besonderen Liebe zur Poesie erzählte und darauf hinwies, dass grosse Teile der literarischen Welt bei uns nicht bekannt seien („Jeder amerikanische Depp, der einigermassen eine Geschichte erzählen kann, wird verlegt. Von afrikanischer Literatur ist jedoch kaum die Rede.“) dürfte es gefreut haben, dass die Veranstalter des Internationalen Literaturfestivals Leukerbad in diesem Jahr einen besonderen Fokus auf Lyrik sowie auf Afrika legten. Welche Kraft die Lyrik haben kann, wurde denjenigen Festivalbesuchern, die normalerweise nicht lyrik-affin sind, spätestens bei den Auftritten von Nora Gomringer und Antjie Krog bewusst. Wenn die 32 Jahre junge deutsch-schweizerische Doppelbürgerin Gomringer die Bühne betritt und ankündigt, „Ich werde etwas mit der Sprache machen“, so flüstert, zischt, keift und tobt es, dass es eine wahre Freude ist. Die Brillanz ihres Vortragens verdankt Gomringer nicht nur ihrer Sprachgewalt, sondern höchstwahrscheinlich auch ihrer klassischen Gesangsausbildung. So wird in „Ein Ärgernis“ eine eigentlich fast alltägliche Begegnung mit einer Schnecke auf der Strasse zu einem wahrhaften Mini-Drama.

Das Drama des südafrikanischen Alltags während und nach der Apartheid in traurige, wütende, hochpolitische Gedichte zu packen, versteht Antjie Krog meisterhaft. Krog, die als weisse und afrikaanssprachige Südafrikanerin 1952 in Kroonstad, dem Herzen des damaligen Burenstaates geboren wurde, erlangte zum ersten Mal internationale Beachtung mit ihrem 1998 erschienen Buch „Country of my skull“. Darin beschreibt sie ihre Erfahrungen als Radiojournalistin während ihrer zwei Jahre dauernden Berichterstattung über die nach Ende der Apartheid eingesetzte „Wahrheits- und Versöhnungskommission“, vor der sowohl Opfer als auch Täter der Apartheid ihre Lebensgeschichten erzählen konnten. Wer Südafrika und seine Geschichte besser verstehen möchte, sollte dieses erschütternde Buch, das unter dem Titel „In my country“ mit Juliette Binoche in der Hauptrolle 2004 verfilmt wurde, unbedingt lesen. Weniger bekannt ist, dass Antjie Krog in ihrem Heimatland nicht nur für ihre Radio- und Zeitungsberichterstattung mehrfach preisgekrönt wurde, sondern auch als Lyrikerin jeden nur erdenklichen Preis erhielt. Für das Literaturfestival Leukerbad hat der Schweizer Lyriker Raphael Urweider, verantwortlich für den Lyrik-Teil des Festivals, erstmals drei von Krogs Gedichten auf Deutsch übersetzt. Die Leidenschaft sowie die Wut über die Ungerechtigkeiten in ihrem Heimatland scheinen nicht nur im Inhalt ihrer Gedichte, sondern auch in der Art und Weise ihres Vortragens unmittelbar durch. „Ich glaube nicht an Wunder/Aber die Existenz meines Landes ist ein Wunder/Dies vergesse ich nicht/für keinen Augenblick“, heisst es in „Pro Patria“. Nur ist dieses Wunder eines friedlichen Übergangs von Apartheid zu Demokratie ein fragiles, das von der Zerstörung bedroht ist. „Auch wenn diese Gegend einer Parodie eines Wunders gleicht/auch wenn sie zerfällt in Trümmer von Verbrechen, Leid, Geiz, Korruption, Zynismus/Werde ich mich immer noch an das Wunder erinnern/(…)/ „Wir beginnen auch das Wunder selbst zu zerstören/Die grosse und seltene Chance/ die wir von der Geschichte erhielten“. Das „Rondo in 4 Teilen“ schliesslich, in dem Antije Krog und Raphael Urweider in rasender Geschwindigkeit und zweistimmig die Begriffe „innen“ und „aussen“ sowie die von den Ureinwohnern beziehungsweise den Kolonialisten verwendeten Bezeichnungen für den Tafelberg auseinandernahmen und neu zusammensetzten, war derart elektrisierend, dass Krog und Urweider dafür verdientermassen den wohl grössten Applaus des Festivals erhielten.

Pointierte Stellungnahmen zur Vergangenheit, aber auch zur aktuellen Situation Südafrikas gab es von Antjie Krog ebenfalls in der von Raphael Urweider geleiteten Podiumsdiskussion „L’Afrique n’existe pas – Eine Spurensuche nach dem Mythos Afrika“, an der neben Krog der Nigerianer Helon Habila, Autor des Romans „Öl auf Wasser“, über die Machenschaften der internationalen Ölkonzerne im Nigerdelta, sowie der Belgier David van Reybrouck, der Verfasser eines monumentalen Reportagebuches über die Geschichte Kongos, teilnahmen. Ein grosser Teil der Diskussion drehte sich um Verantwortung und Schuld. Van Reybrouck sagte, er habe versucht, sich für die Machenschaften der belgischen Kolonialisten im Kongo schuldig zu fühlen, aber „ich finde es schwer, für etwas Schuld zu empfinden, das ich nicht begangen habe“. Für Antjie Krog sollten jedoch „Menschen, die leiden und die Zerstörung, die tief drin in diesen Menschen vorgeht, alle von uns etwas angehen. Ich bin mir bewusst, dass die Privilegien als weisse Südafrikanerin in meinen Knochen stecken. Mein Volk hat den Schwarzen ihr Land weggenommen, dessen Bodenschätze ausgebeutet sowie ihnen alle Rechte genommen.  Oder wessen Schuld ist es denn, dass unser Präsident Jacob Zuma insgesamt nur vier Jahre zur Schule gehen konnte? Man muss mit der Schuld beginnen. Die Menschen fühlen sich nur für etwas verantwortlich, wenn sie sich auch schuldig fühlen“. Bis jetzt habe jedoch keiner der früheren führenden weissen Politiker eine Geste der Vergebung gezeigt und sich entschuldigt: „Vergebung haben nur die Weissen durch die Gesten Mandelas erfahren.“

Rollende Handtaschen an der Hundeleine

Keiner Schuld bewusst sind sich auch die Täter in der Titelgeschichte „Die Bestie von Paris“, der neu aufgelegten Reportagen-Sammlung von Marie-Luise Scherer. Anfang der 80-er Jahre werden in Paris insgesamt 21 alte Damen auf bestialische Weise ermordet. Scherer, die mehr als zwanzig Jahre für den „Spiegel“ literarische Reportagen verfasste, beschreibt detailreich und in nüchternem Ton sowohl die Lebensgewohnheiten der Opfer als auch der Täter. Ein Urteil kann sich der Leser selber bilden. Kein Wort in der 70-seitigen Reportage ist jedoch zuviel, was Scherer, die nur höchst selten öffentlich auftritt, bei der Auswahl der vorgetragenen Textabschnitte einige Probleme bereitete. Für Scherer bedeuten „zwei Sätze am Tag ein Glück“. Es ist keine Seltenheit, dass sie eine ganze Nacht über einem einzigen Wort brütet. Die Frucht dieser nächtelangen Arbeit kann beispielsweise in „Kleine Schreie des Wiedersehens“, einer höchst amüsanten Beschreibung der Pariser Prét-à-porter-Modeschauen, bestaunt werden: „Die Modenschau als Spektakel kennt keine zivilisatorischen Hemmungen. Musettewalzer, Kosakenchöre, Tiefflieger, Hummelflug, Apokalypsen aus dem Synthesizer, Peer Gynt, Schulbeginn in den Karpaten, Kirchgang in Harlem, Bad Fuschl und Cordoba auf ein und demselben Kragenspiegel, Stille Nacht, Spieluhrfrieden, chinesisches Bänderwerfen zu bulgarischen Schultertüchern, x-beinig gesetzte Füsse in Haferlschuhen, im Jankerl König Ludwigs Wahnsinnsposen zu Jodlern und Zither, schwarzgrüne Bersaglierifedern als Hecke um das Décolleté, karierte Gangstersakkos zu erregten Schubertliedern, rollende Handtaschen an der Hundeleine, weisse Tauben in einer Rotbuche mit bemoostem Fuss, Schneetreiben mit vermummten Kindern und schwarzem Ziegenbock – ein grenzenloses Potpourri“.

Ebenfalls ein höchst genauer Betrachter ist der Lyriker, Essayist und ehemalige Diplomat Joachim Sartorius. Drei seiner zwanzig Jahre im diplomatischen Dienst hat er – von 1984 bis 1986 – in Zypern verbracht. Im Sommer 2012 ist er nochmals auf die Insel zurückgekehrt und hat seine Eindrücke in seinem wunderbaren Buch „Mein Zypern“ verarbeitet. Exkursionen in die wechselhafte, 8000-jährige Geschichte des Landes verschmelzen mit ganz persönlichen Impressionen. Anhand der Entwicklung der ehemaligen luxuriösen Handelsstadt Famagusta beispielsweise, die im Mittelalter 365 Kirchen zählte, dann wiederholt geplündert wurde und nun durch ein „gigantisches Atatürk-Denkmal“ und „einen grauenhaften Betonbunker der türkischen Sparkasse“ verschandelt ist oder der hermetisch abgeriegelten Geisterstadt Varosha, Anfang der Siebzigerjahre noch Haupt-Tourismusdestination Zyperns, werden unter anderem die gravierenden Auswirkungen der türkischen Invasion 1974 und der darauffolgenden Teilung der Insel gezeigt.

Zypern, Paris, Südafrika, Indien, Niederlande, USA, Nicaragua und Berlin (um nur einige zu nennen): In drei Tagen Tagen wurde man inmitten der Walliser Bergwelt durch die Stimmen und die Imaginations- oder Beschreibungskraft der Autoren und Autorinnen in Städte und (Gefühls-)Landschaften der halben Welt entführt. Nur ein Literaturfestival kann solches leisten – in Leukerbad ergänzt durch die Möglichkeit, den durch das polyphone Stimmengewirr ausgelösten Gedanken durch Pausen im wärmenden Thermalwasser oder Spaziergängen und Wanderungen in der Ruhe der Berglandschaft nachzuhängen.


www.literaturfestival.ch

Das 19. Internationale Literaturfestival Leukerbad wird vom 4. bis 6. Juli 2014 stattfinden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert