Shalom Auslander: „Hoffnung: Eine Tragödie“

Alles nur Überlebende

Shalom Auslander: „Hoffnung: Eine Tragödie“ (Roman)

Anne Frank sitzt nach den 32 Millionen verkauften Exemplaren ihres Tagebuchs an ihrem zweiten Buch – ausgerechnet auf Kugels Dachboden. Sein Leben gerät in Schieflage. Auslanders Roman erzeugt ein mulmiges Gefühl und treibt die Neugier an.

Von Noemi Jenni.

hoffnung_eine_tragoedieWir kennen sie, die Geschichte vom Menschen, der langsam und unaufhörlich verrückt wird. Dies ist eine solche und trotzdem ganz anders. Denn wer findet heute schon Anne Frank auf seinem Dachboden? Ja genau, die Anne Frank aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die Geschichte der Familie Kugel beginnt ganz harmlos in einem kleinen Ort in den USA, der so unbedeutend ist, dass es darüber nichts zu erzählen gibt. Die Kugels kaufen ein altes Bauernhaus und wollen ihr Leben neu ordnen. Es stinkt im Haus und der Gestank wird schlimmer, besonders auf dem Dachboden wird er im Sommer unerträglich. Im Dorf gibt es mehrere unaufgeklärte Brände von Bauernhäusern, wie die Kugels auch eins haben. Herr Kugel schläft schlecht, denn er wartet auf den Brandstifter, da hört er nachts ein Klopfen, ununterbrochen. Er geht auf den Dachboden nachschauen und findet da Anne Frank, eine alte, hässliche, halbverhungerte Frau, mit einer eintätowierten Lagernummer auf der Hand – eine Überlebende. Langsam beginnt ihre Existenz mehr zu sein als nur ein Gestank, sie bestimmt immer mehr Kugels Leben. Seine Frau will die Alte loswerden, Überlebende hin oder her, seine Mutter beginnt die Alte zu bevormunden und Kugel? Der kann sich zwischen all den Parteien nicht entscheiden, macht es allen recht und doch niemandem, am wenigsten sich selber. Doch eine Entscheidung muss her. Kugel ist Jude und fühlt sich verpflichtet anderen Juden zu helfen. Auch dem nächtlichen Feuerleger kommt er langsam auf die Spur, doch die Schlinge wird enger und die Realität verschwimmt.

Würdet ihr mich bei euch verstecken?

Auslander öffnet Abgründe des Menschen und Menschlichen vor unseren Augen, denn jede Figur hat eine Leidensgeschichte, die sie prägt und zu falschen Entscheidungen verleitet. Aber er zeigt uns auch, dass die Vergangenheit im Jetzt eben dynamisch ist und von uns bei jedem Zurückblicken umgedeutet und ein Stückchen umgestaltet wird. Für die reflektierende Ebene hat Auslander im Roman die Figur des Psychotherapeuten, Professor Jove, geschaffen, der Herrn Kugel berät und betreut, und zwar mit hoffnungslosen Antworten. Denn Hoffnung, so Jove, ist das Schlimmste. Der Roman beleuchtet den Holocaust aus einer eher ungewohnten Perspektive, nämlich mit einer Prise Humor. Dem Leser ist klar, dass Anne Frank nicht mehr wirklich existieren kann und doch beginnt man sich zu fragen, was man machen würde, fände man plötzlich so jemanden versteckt im eigenen Haus. Kugels paranoide Mutter verstärkt den Effekt, weil sie das Gefühl hat, dass jeder sie ausspionieren möchte. Und wenn jetzt der Briefträger doch etwas gemerkt haben sollte?

Absurde und skurrile Szenen reihen sich in immer dichterer Folge aneinander und ein leicht beklemmendes Gefühl entsteht, und auch die leise Vermutung, dass die Geschichte nur als Tragödie enden kann. Auslanders Bilder sind stark und nach dem Lesen bleibt der Eindruck, einen Film gesehen zu haben, einen mit grossen Emotionen und sonderbarem Tiefgang, der verwirrt, bestürzt und in dem schreiende Farben dominieren. Er schafft einen Ort ohne Geschichte, pflanzt ihr künstlich eine ein und kreiert ein richtig pathosschwangeres Dachbodenschauermärchen.


Titel: Hoffnung: Eine Tragödie
Autor: Shalom Auslander
Übersetzer: Eike Schönfeld
Verlag: Berlin Verlag
Seiten: 211
Richtpreis: CHF 28.90

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