„Big Bang“, Annette Windlin & Gisela Widmer | Zementfabrik, Brunnen
Die letzte aller Fragen

Eines gleich vorneweg: „Big Bang“ ist ein Augen-, Musik und Sehspektakel, aus dem man am Ende leichten Herzens sogar noch eine Minute über die „letzte Frage“ nachdenken mag, die weder Teufel, Gott noch die Wissenschaft zu beantworten wissen, die Frage nach dem, was vor dem Anfang war. Es ist ein kleines „Welttheater“, das in dieser Industrie-Kathedrale, der ehemaligen Zementfabrik in Brunnen, stattfindet. Die Textgrundlage von Oskar Panizzas „Liebeskonzil“ haben die Regisseurin Annette Windlin und die Autorin Gisela Widmer zur Grundlage für einen leichteren Stoff genommen.
Von Jolanda Heller.
Oskar Panizzas „Liebeskonzil“ von 1893 würde auch heute noch Zündstoff für die Bühne liefern, der ebenso ‚explosiv‘ wäre wie das geklonte Schaf „Dolly“, das hier für Aufregung sorgt, obwohl es schon das Zeitliche gesegnet hat. Panizza nimmt in seinem Stück ganz explizit die Menschen und ihre amoralischen Handlungen zum Thema, denen Gott zur Strafe die Syphilis schickt. Der Text hat dem Autoren 1895 eine Anklage wegen Blasphemie eingetragen und man machte dem “Modernen“ einen harten Prozess, der mit der Verurteilung zu einem Jahr Einzelhaft endete. “Big Bang“ von Annette Windlin und Gisela Widmer dreht sich um das „Geschäft“ Gottes selbst, in das sich die Wissenschaft eingemischt hat, die Schöpfung. Dieses Thema ist ebenso erschreckend, aber doch (noch) weit weg vom Alltag des Menschen: das Klonen von Tieren – und wer weiss bis wann, auch das Klonen des ganzen Menschen. Wie weit darf der Mensch also gehen?
Die Schöpfung
Gott schläft an diesem Tag länger, an dem sich noch Aufregendes ereignen sollte im Himmel, in den so gar niemand mehr aus der Welt hinaufkommen mag. Ausgangspunkt der Aufregung ist das Erscheinen des Wissenschaftlers Willi Wilmut (Guido Infanger), der mit dem geklonten Schaf Dolly an der Himmelspforte klopft und wissen will, wer der Schöpfer des Tieres sei: er, der Wissenschaftler, oder Gott, der Schöpfer der ersten Menschen? Man lässt sich in Brunnen auf kein ketzerisches Ende ein. Bevor es aber zu diesem kommt, mischt der Teufel mit, der als Berater in dieser Sache herbeigerufen wird. Es kommt erst zu einer Wette zwischen Gottvater und ihm, die die Forschungsarbeit am CERN in Genf entscheiden soll. Glückt deren Experiment, gewinnt der Teufel, glückt es nicht, gewinnt Gottvater.

Der Wettkampf
Den Wettkampf zwischen Himmel und Hölle hat der Himmel für sich entscheiden können, denn auch wenn am CERN das Experiment geglückt scheint, die Antwort auf die letzte Frage war das nicht, Gottvater ist weiterhin Besitzer des Geheimnisses. Dem Teufel mit seiner mehr an Maseratis und Juwelen interessierten Gefolgschaft wünscht niemand die Herrschaft über Himmel und Erde, auch auf dem Theater fürchtet man die Herrschaft der Machtbesessenen, Fürchterlichen und Unfähigen wie im realen Leben.
Eine Wunderkiste, in die Gott den ganzen Abend immer wieder mit leuchtenden Augen hinein guckt, soll die Antwort enthalten. Wer wird die Kiste am Ende besitzen? Es kommt, wie es kommen muss: Es gewinnt nicht der “Fähigere“, “Bessere“ und auch nicht der “Stärkere“ oder “Mächtigere“. Am Ende entscheidet der Zufall. Die Kiste fällt im Gerangel, „Big Bang“ tritt ein, ein weiterer Urknall ereignet sich. Und so mutet die Antwort auf die Frage nach der Schöpfungshoheit plötzlich doch ketzerisch an: Sind es am Ende doch nur die weltlichen Naturwissenschaften, die über neues und anderes Leben entscheiden? Wird es egal sein, ob Dolly als Schaf in unserer Erinnerung bleibt oder es am Ende auch Menschen sind, die im Labor produziert werden? Denn es wird der Zufall entscheiden, wann der nächste “Big Bang“ eintritt. Auch Gott und kein Teufel können da etwas ausrichten. Gott mag zwar die Antwort auf die letzte Frage wissen, aber retten wird auch er die Menschheit nicht.

Vierdimensionale Schau
Die Rahmenerzählung wird uns durch Belinda (sehr erfrischend in ihrer Rolle, Jo Reichmuth) vermittelt. Sie kommt über den Köpfen des Publikums – ihrem jüngsten Gericht, wie sie meint – an einer Seilschaft hereingeflogen. Sie hat am CERN gearbeitet und Willi Willmot auf dem Weg in den Himmel oder die Hölle kennen gelernt. Alle Stationen des Geschehens werden durch sie eingeführt. Ihr Flug über die Zuschauerköpfe hat die Dimensionen des beeindruckenden Raumes erst so richtig klar gemacht: 18 Meter hoch, 97 Meter lang, 12 Meter breit. Diese mit Leben zu füllen, ist Annette Windlin und ihrer Truppe sehr gut und eindrücklich gelungen, die Ebenen wurden abwechslungsreich bespielt. Es war vieles an der Handlung durchschaubar, langweilig wurde es dadurch aber nicht, auch wenn man sich durchaus etwas mehr Tiefe gewünscht hätte. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben vor allem auf der Himmelsebene überzeugt. Der schon etwas in seine Tage gekommene Gottvater (Adalbert Spichtig), Maria, die immer wieder etwas aufgeregt versucht, die Ordnung wieder herzustellen (Verena Singer), Jesus, als quengliger und besserwisserischer Sohn Gottes (Jerry Duss), die beiden ungleichen und sich doch ergänzenden Engel (Gabi, Corinne Gnos, und Sabi, Mirjam Gisler) und der leicht verwirrte Petrus (Fredy Schuler). Der Teufel (André Keller), seine Belzebueben (Georg Suter und Rolf Steffen) sowie seine Geliebte Sunny (Stefania Heinzer) hatten als einseitige Lärmmacher etwas undankbare Rollen, überzeugten darin als gierige Gesellen und Gesellin. Der Himmelschor eine Ebene höher als Gottes Thron gelegen, Videoeinspielungen zwischen Himmel und Hölle, das Forscherteam am CERN (unter der Leitung des CERN-Direktors, gespielt von Collin West) auf einer noch tieferen Ebene sowie die Musik – quasi aus der Hölle – komplettierten die wirkungsvoll choreographierte Inszenierung.
Dauer: ca. 70 Minuten.
Weitere Aufführungen bis 12. Oktober (Spieldaten siehe Website www.bigbangbrunnen.ch).
Regie: Annette Windlin
Ideen und Texte: Annette Windlin und Gisela Widmer
Dramaturgie: Dominique Müller
Musik, Komposition und Realisation: Hansjörg Römer, Christian Wallner
Live Band: Pit Furrer, Carlo Gamma, Christian Wallner, Peter Zihlmann, David Zopfi
Ausstattung: Ruth Mächler
Choreographie: Claudine Ulrich
Bau und Statik: Fredy Schuler
Produktionsleitung: Urs Zürcher
Kommunikation: Susanne Morger
Im Netz
www.bigbangbrunnen.ch