Beate Rothmaier: „Atmen, bis die Flut kommt“
Vater sein
Beate Rothmaier: „Atmen, bis die Flut kommt“ (Roman)
In ihrem dritten Roman umkreist Beate Rothmaier Themen wie das Dasein als Alleinerziehender, das Leben mit dem Anderen, Nicht-Normalen, das Sich-einem-Schicksal-Unterwerfen. Die atypische Hauptfigur und deren widerborstige Auflehnung gegen ihr Los machen, dass sich „Atmen, bis die Flut kommt“ wohltuend vom klischierten Wohlfühlkitsch abhebt.
Von Sandra Despont.
Konrad ist Comiczeichner. Kein schlechter, er kann sich mit seinen Engagements über Wasser halten, seine künstlerischen Ambitionen haben Aussicht auf Erfolg. Als die faszinierende Paule in sein Leben tritt, bricht er mit ihr aus dem Alltag aus. Für kurze Zeit leben die beiden eine wilde Liebe, ein freies Leben. Bis sich der Ernst des Lebens in Form eines Schwangerschaftsbäuchleins unter Paules Kleidern abzeichnet. Für Konrad ist plötzlich klar: Er will das Kind. Paule zögert – und verzichtet schliesslich auf eine Abtreibung. Doch Lio ist nicht das, was sich die beiden erhofft haben.
Lio loswerden
Schon bald steht die Vermutung im Raum: Mit dem Kind stimmt etwas nicht. Noch bevor aus dem Verdacht Gewissheit wird und das „Etwas“ eine nähere Definition erfährt, haut Paule ab. Jährlich eintreffende, unpersönlich gehaltene Geburtstagsgrüsse für Lio aus aller Welt sind fortan die einzigen Lebenszeichen Paules. Inzwischen versucht Konrad mehr schlecht als recht mit seinem neuen Leben als alleinerziehender Vater zurechtzukommen. Er weiss nicht, was ein Kind braucht. Schon gar nicht so eins. Er weiss nicht, wo er Hilfe bekommen kann. Und eigentlich will er auch gar keine Hilfe. Er weiss nicht, wie er seinen besorgten Freunden gegenübertreten soll. Lieber schottet er sich ab und verzichtet auf Mitleid, nette Gesten und Unterstützung. Nur langsam findet er sich in seinem neuen Leben zurecht, nur langsam wird er zum Vater.
Siebzehn Jahre später. Konrad packt die zu seinem Schrecken inzwischen fast erwachsene Tochter in sein Auto mit dem Vorsatz, sie endlich loszuwerden. Er macht sich auf eine Fahrt nach Norden. Die Erzählung beginnt. In einer Rückblende schildert Beate Rothmaier, wie das Schicksal Konrads Leben durchgerüttelt hat, wie er seine Tochter verflucht und geliebt, wie er gehofft hat und enttäuscht wurde. Dieser Kniff bringt Ruhe und gleichzeitig Spannung in die Geschichte. Ihr Endpunkt – eine Autofahrt mit dem Ziel, die Tochter loszuwerden – ist bekannt, wie es dazu kommen konnte, bleibt vorderhand Geheimnis.
Keine leichten Entscheidungen
Dass in „Atmen, bis die Flut kommt“ keine verlassene Frau im Mittelpunkt steht, sondern ein Mann, dass für einmal nicht die Männer die Schweine sind, sondern eine Mutter ihr Kind sang- und klanglos seinem Schicksal überlässt, mag zuerst irritierend sein, doch erweist sich als grosser Gewinn für den Roman. Die Entscheidung für einen männlichen „Helden“ des Elterndaseins eröffnet neue erzählerische Möglichkeiten. Dass Frauen von Männern verlassen werden und sich für ihr Kind aufopfern, kennen wir. Langweilig. Konrad, einem Mann, würde aber niemand verübeln, wenn er schnellstens eine Pflegestelle für sein Kind, dazu noch sein nicht ganz pflegeleichtes Kind suchen würde. Wie entscheidet er sich also in diesem Zwiespalt zwischen Verantwortungsbewusstsein und Gier nach einem selbstbestimmten Leben? – Dass Beate Rothmaier sich und Konrad diese Entscheidung nicht leicht macht, Lio und ihren Vater am Ende zahlreicher schicksalhafter Entscheidungen nach tage- und nächtelangem Ringen mit sich selbst nicht glücklich lächelnd mit dem Auto Richtung Sonnenuntergang fahren lässt, spricht ebenfalls für „Atmen, bis die Flut kommt“. Der Roman ist weit vom Kitsch, nah am echten Leben. Das sorgt nicht für eine erhebende, dafür aber für eine herausfordernde Lektüre. Die Autorin rüttelt gehörig an den Gitterstäben unseres vertrauten Denkens, das uns unsere moralische Erhabenheit über Rabenmütter vorgaukelt und das Leben mit einem behinderten Kind als romantischen Sonntagsspaziergang verklärt. Der Roman stellt die richtigen Fragen, ohne sie mit eindeutigen Antworten vorschnell aufzulösen. Und so ist „Atmen, bis die Flut kommt“ wie ihr Held: wohltuend widerspenstisch.
Titel: Atmen, bis die Flut kommt
Autorin: Beate Rothmaier
Verlag: DVA
Seiten: 400
Richtpreis: CHF 29.90