David Vann: „Dreck“

Mutterwelten

David Vann: „Dreck“ (Roman)

Eine monströse Geschichte im kleinen Rahmen, eine isolierte Welt, die als Spiegel der Psyche gelesen werden kann und eine Zweierbeziehung, die nicht nur zum Scheitern verurteilt ist, sondern zum fulminanten Desaster hinführt – David Vann macht auch in seinem neuen Roman das, was er am besten kann, und erweist sich damit einmal mehr als Meister der familiären Abgründe.

Von Lisa Letnansky.

DreckDie erste und oft auch engste Bindung gehen wohl die meisten Menschen mit der Mutter ein. Sie ist es, die uns das Leben schenkt, die uns nährt und auf unserem Lebensweg begleitet. Die Lösung von ihr erfährt jeder individuell, ist zuweilen nicht ohne Komplikationen und Kränkungen zu vollziehen und als Thema seit Jahrhunderten fester Bestandteil der Literatur, der Philosophie und der Psychologie. Und diese Bindung ist auch der Mittel- und Kulminationspunkt in David Vanns neustem Roman „Dreck“: Der zweiundzwanzigjährige Galen lebt allein mit seiner Mutter auf der Walnussplantage, die einst seinem Großvater gehört hat, abgeschieden und in einer fast inzestuös engen Aufeinanderbezogenheit zu zweit. Ein College können sie sich nach Meinung der Mutter nicht leisten, obwohl vieles darauf hinweist, dass das Vermögen, das sie für ihre demenzkranke Mutter verwaltet, nicht unerheblich ist. Und dieses Geld steht nicht nur zwischen Galen und seiner Zukunft, sondern auch zwischen Galens Mutter und ihrer Schwester, die sich übergangen und benachteiligt fühlt und ihren Neid und ihren Missgunst offen zur Schau trägt.

Ein Kammerspiel mit weitreichendem Radius

Trotz der nicht gerade unproblematischen Verhältnisse legt aber auch diese Familie – wie so viele andere – großen Wert auf ihre Traditionen. So fahren sie wie jedes Jahr gemeinsam mit der Großmutter und Galens Cousine Jennifer in die sich in Familienbesitz befindende Waldhütte, um einige Tage gemeinsam zu verbringen. In der klaustrophobisch engen Hütte, abgeschottet vom Rest der Welt, spitzen sich die Ereignisse und Gefühle zu, und Schuldzuweisungen, Quälereien und Aggressionen führen nicht nur zu einem von Domination und Erniedrigung geprägten intimen Kontakt zwischen Galen und seiner Cousine, sondern auch zum finalen Zerwürfnis zwischen Galens Mutter und seiner Tante.

So intensiv und grausam dieser erste Teil des Romans aber auch geschildert ist – er ist nur der Auftakt zu der in der Katastrophe endenden Auflösung der Mutter-Sohn-Beziehung, die darauf folgt, und die das eigentliche Kernstück des Werks ausmacht. Die wenigen Verweise auf die außerfamiliäre Wirklichkeit verschwinden hier endgültig, die Außenwelt spielt nicht nur keine Rolle mehr, sie scheint in den Köpfen der Protagonisten überhaupt nicht mehr zu existieren. Hier entwickelt sich die Geschichte zum regelrechten Kammer- oder besser Schuppenspiel, das jedoch aufgrund seiner zutiefst menschlichen Thematik einen weitreichenden Radius mit unzähligen Querverweisen andeutet.

Die Lücke im Freudschen System

Der Name Galen verweist natürlich auf den antiken Arzt und Begründer der Humoralpathologie; wie dessen Theorie wird auch sein junger Namensvetter in weiten Teilen von seinen Körpersäften und -trieben dominiert, von seiner Wut, seiner Sexualität und bisweilen seiner Traurigkeit. Aber wer die schmerzhafte Loslösung eines Sohnes von seiner Mutter schildert, denkt unweigerlich auch immer Freuds Theorien mit und in einer kleineren Dimension wohl auch Ödipus oder J.J. Bachofens „Mutterrecht“.

Vanns Roman agiert hier in einem theoretisch vielleicht etwas angestaubten, menschlich aber auf ewig aktuellen Diskurs. Galen selbst negiert zwar den Ödipus-Komplex („Die Vorstellung, dass wir mit unseren Müttern schlafen und unsere Väter umbringen wollen, war lächerlich. Die Väter waren noch nicht mal aufzufinden“), aber dennoch kann man „Dreck“ durchaus als Freud-Korrektur lesen, quasi als Aufzeigen und Ausbuchstabieren einer Lücke im Freudschen System, ähnlich wie das vor 200 Jahren Kleist mit den Theorien von Rousseau und Kant gemacht hat: Wenn das Erwachsenwerden eines jungen Mannes darin besteht, sich von der Mutter zu lösen, und sich dem Vater zuzuwenden – was geschieht dann, wenn ein Vater nicht vorhanden ist, oder noch schlimmer, wenn dessen Stelle vom gleichermassen abwesenden, aber trotzdem omnipräsenten, gewalttätigen und übermächtigen Grossvater besetzt wird? In der engen Welt der Psychoanalyse ist der Fall klar: die unaufhaltsame Spirale der Gewalt wird fortgesetzt.

Verheerende Zweierbeziehungen

Aber natürlich lässt sich „Dreck“ nicht allein auf seinen Beitrag zum psychoanalytischen Diskurs beschränken. Die Figuren, die Vann entwirft, sind zwar nicht gerade vielschichtige Charakterstudien, unproblematische und damit allgemeingültige Persönlichkeiten sind sie aber beileibe auch nicht. So bleibt bis zum Schluss offen, ob Galens Mutter ihn tatsächlich aus Liebe nicht fortlassen wollte, oder doch eher aus niedereren Gründen, aus Geiz oder aufgrund ihrer Unfähigkeit, allein zu sein. Und auch Galen ist kein durchschnittlicher Heranwachsender, sondern ein Eigenbrötler mit einem Hang zur New-Age-Bewegung, der sowohl seine Familie, wie auch seine eigene Sexualität und überhaupt alles Weltliche als Fremdkörper auf seinem Weg zu einem höheren Sein, einer größeren Bestimmung begreift. Dieser Glaube an die Reinkarnation und die Episodenhaftigkeit des Lebens befähigt ihn zu einer bis zum Äußersten führenden rücksichtslosen Haltung und Selbstauffassung.

Es sind nicht die intertextuellen Bezüge, die diesen Roman zu einem einmaligen Leseerlebnis machen, sondern die individuellen Psychologien zweier Einzelpersonen, die mit einer derartigen Wucht aufeinanderprallen und in einer solchen Intensität ausbuchstabiert werden, wie man es nur von Vann kennt. Verheerende Zweierbeziehungen sind ja gewissermaßen dessen Spezialität. Wie bei Vater und Sohn in „Im Schatten des Vaters“ und bei Ehefrau und Ehemann in „Die Unermesslichkeit“, sind es auch in „Dreck“ der familiäre Horror, die Ungeheuerlichkeit der psychologischen Kriegsführung zwischen eng Verbundenen sowie die Unbarmherzigkeit und Schonungslosigkeit, mit der der Autor seine Figuren auf die Katastrophe hin steuert, was die Lektüre seiner Romane so unvergleichlich machen. „Dreck“ ist gleichzeitig Kammerspiel und Psychothriller – ein Meisterwerk, aber nichts für schwache Nerven.


Titel: Dreck
Autor: David Vann
Übersetzerin: Miriam Mandelkow
Verlag: Suhrkamp
Seiten: 296
Richtpreis: CHF 28.50

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