Lewis Carroll “Alice im Wunderland“ | Schauspielhaus Zürich, Pfauen
Pupskonzert im Schauspielhaus

Muss Theater immer gesellschaftskritisch oder politisch sein? Oder darf es auch rein ästhetischen Ansprüchen genügen wollen, dem Spiel huldigen, dem Spass oder gar dem Nonsens? Das Schauspielhaus-Publikum jedenfalls hat diese Frage an der Premiere von Antú Romero Nunes neuster Inszenierung lauthals bejaht!
Von Lisa Letnansky.
“Sie dürfen sich entspannen. Es gibt hier nichts zu verstehen. Folgen Sie dem Hasen.“ Diese vielversprechenden drei Sätze aus dem Programmheft durften letzten Freitag ruhig beim Wort genommen werden. Antú Romero Nunes’ Inszenierung von Lewis Carrolls Klassiker “Alice im Wunderland“ war vieles, doch auf keinen Fall anstrengend oder über-theoretisiert. Vielmehr erfasste der knapp 30-jährige Regisseur dieses Werk, das schon so oft herhalten musste für ethische (Erziehung), ideologische (Feminismus) und vor allem psychologische (Carrolls Hingezogenheit zu jungen Mädchen) Thesen und Interpretationen, bei seiner Grundmaterie, nämlich dem Humor. Die kindliche Freude am Albernen, am Wortwitz und am Grotesken ist sowohl der Inszenierung als auch dem Ensemble in jeder Minute anzumerken.
Tanzende Türen
Dies beginnt schon vor dem eigentlichen Stück, wenn der Besucher erheitert feststellen muss, dass auf sämtlichen Sitzen im Pfauen Furzkissen verteilt liegen. Und Keiner, aber auch wirklich Keiner, der das Kind in sich noch nicht vollends zu Grabe getragen hat, kann dem unschuldigen, frivolen Drängen eines Furzkissens widerstehen. So mag es dann auch nur für eine Sekunde überraschen, das sich auch im sonst eher zurückhaltenden Schauspielhaus-Publikum recht bald ein kleines Pupskonzert entwickelt, das erst aufhört, als die Lichter ausgehen und die Vorhänge sich öffnen. Nein, nicht einmal dann: Auch während der Vorstellung sind immer wieder leisere und lautere Fürze, bis hin zu einem lautstarkem Furz-Applaus zu vernehmen. So was hat man in diesen Hallen noch nicht erlebt.
Der Abend bietet aber natürlich mehr als nur Pupsereien; auch das Auge kommt nicht zu kurz. Florian Lösches Bühnenbild mit unzähligen weissen Screens, die individuell beleuchtet aus dem Schnürboden fahren und wieder darin verschwinden, ist zwar nicht ganz so bombastisch wie jene, die er bei der Nunes’ Inszenierung von Wolfram Lotz’ “Einige Nachrichten an das All“ zusammen mit den Videokünstlern von Impulskontrolle auf die Wiener Burgtheater-Bühne gestellt hat, aber immer noch durchaus eine beeindruckende, wuchtige Augenweide. Wie Türen (oder Spiegel) tanzen die Screens hoch und nieder, deuten mal einen Wald an, mal ein Labyrinth oder die Grinsekatze.

Einfach dem Hasen folgen
Dazu passt auch die musikalische Untermalung von Les deux et moi, also die Stimmen von Anna Katharina Bauer und Lisa Marie Neumann sowie die Live-Abmischung von Johannes Hofmann. Diese Konstellation, die sich in dieser Formation eigens für dieses Projekt zusammengefunden hat, arbeitet ohne Instrumente, nur mit den Stimmen der Sängerinnen, wobei diese durch Verzerrungen und Verfremdungen zu einem jeweils einzigartigen, weil in dieser Form nicht wiederholbaren Klangkunstwerk verbunden werden, welche das spielerische, freie und ungezwungene Moment des Stücks gelungen unterstreichen.
Was dieses Stück angeht, verfolgt Nunes’ Inszenierung grösstenteils den etwas naiven, unschuldig-frechen Humor, der bereits mit dem Furzkissen eingeführt wurde. Das mag natürlich nicht jedermanns Sache sein, und einige Besucher mögen den Saal sicherlich eher empört als belustigt verlassen haben. Doch der lang anhaltende Applaus und die vielen grinsenden Gesichter nach dem Spektakel bezeugen doch: Theater muss nicht immer ernst und von drängenden Fragen beseelt sein. Man darf sich auch einfach mal entspannen und dem Hasen folgen.

“Alice ist Alles“
Der Hase erscheint hier recht bald als flauschiges weisses ferngesteuertes Plüsch-Etwas (mit klaren Anleihen an Monty Pythons Killerkaninchen aus „Der Ritter der Kokosnuss“) und surrt über die Bühne. Nunes macht nämlich kurzen Prozess mit der Vorlage, streicht die gesamte Rahmenhandlung und setzt in diesem Moment ein, als Alice mit einem halblauten “Autsch“ ins Wunderland plumpst. Auch sonst geht er sehr frei mit dem Text um. So bleibt genügend Platz für eigene Kalauer, Scherze und Spielereien. “Alice ist Alles“, soll Nunes laut Programmheft im Gespräch gesagt haben, aber Alice ist in diesem Falle auch Alle, denn nach dem Verzehr eines wohl halluzinogenen Pilzes verteilt sich die Rolle auf verschiedene Schauspieler. Hervorzuheben ist hier Jirka Zett, der ein beleidigtes, oft vorlautes Mädchen ebenso unterhaltsam wiedergeben kann wie Henrike Johanna Jörissen und Hilke Altefrohne.
Die Dekonstruktion und Neuzusammensetzung des Kinderbuchklassikers ist Antú Romero Nunes durchaus unterhaltsam, wenn auch nicht übermässig reflektiert gelungen. Schade ist einzig, dass der Streichfassung solch grossartige und ergiebige Figuren wie der verrückte Hutmacher, der Märzhase und die Herzkönigin zum Opfer gefallen sind.
Besprechung der Premiere am 8. November 2013.
Weitere Vorstellungen bis am 5. Januar 2013.
Dauer: ca. 80 Minuten
Besetzung
Hilke Altefrohne
Henrike Johanna Jörissen
Nils Kahnwald
Claudius Körber
Jirka Zett
Anna Katharina Bauer
Lisa Marie Neumann
Live-Sampling: Johannes Hofmann
Regie: Antú Romero Nunes
Bühne: Florian Lösche
Kostüme: Judith Hepting
Komposition und Musik: les deux et moi (Anna Katharina Bauer, Lisa Marie Neumann, Johannes Hofmann)
Licht: Michel Güntert
Dramaturgie: Julia Reichert
Im Netz
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