Watch Dogs (Ubisoft Montreal)

Der Zahn der zukünftigen Zeit

Watch Dogs (Ubisoft Montreal)

Watch Dogs

Stell dir eine Zukunft vor, in der die Städte intelligent sind. In der alles und jeder vernetzt ist. In der sich von der Ampel über die Straßenbahn bis hin zur Überwachungskamera alles zentral mittels einer omnipräsenten Software steuern lässt. Wie? Langweilig? Schon vor drei Jahren auf der Cebit gesehen? Ok, ok. Dann düsterer: Stell dir eine Zukunft vor, in der solche Systeme missbraucht und alle Bürger systematisch von Regierungen, kriminellen Organisationen oder Konzernen überwacht und ausspioniert werden können. Digitale Krankenakten, Kontostände, sexuelle Vorlieben – alles nur einen Mausklick entfernt. Bitte? Ein alter Hut? Edward Snowden? Stand letztes Jahr schon in der Zeitung? Kein Wunder also, dass auch DANIEL APPEL davon gehört hat.

Im Jahre 2012 war die Welt noch eine andere: Ein bis dato unbekannter blasser Jüngling schlurfte auf Hawaii jeden morgen seinem Tagewerk als Systemadministrator entgegen; sein Arbeitgeber durchwühlte unbehelligt von der Weltöffentlichkeit deren gesamte digitale Kommunikation und die Marketingabteilung von Ubisoft freute sich auf die E3-Enthüllung ihrer spielbaren Near-Future-Dystopie Watch Dogs. Letztere wurde ein voller Erfolg: Übersatt von den zahlreichen Fortsetzungen, Prequels, Remakes und Brand-Spinoffs stürzten sich sowohl Spieler, als auch Presse auf den Titel mit dem unverbrauchten Überwachungssetting. Vorschusslorbeeren wurden verteilt, Messe-Awards gezückt, der Veröffentlichung entgegengefiebert. Dann kam das Jahr 2013: Der blasse junge Mann wurde durch die Weitergabe einiger vertraulicher Akten schlagartig weltbekannt, sein ehemaliger Arbeitgeber wurde auf einmal von der Weltöffentlichkeit kritisch beim Wühlen in den Datenbergen beäugt und das Wort „Überwachung“ prangte plötzlich auf jeder Titelseite. Telefongespräche, SMS, soziale Netzwerke, digitale Krankenakten – nichts war mehr privat. Monat um Monat kam ein brisantes Detail nach dem anderen ans Licht. Werkseitig manipulierte Hardware, offene Hintertüren in Betriebssystemen, biometrische Gesichtserkennung, Geolokalisierung von Mobiltelefonen, vollautomatisierte Drohnenangriffe – die schlimmsten Befürchtungen aller abseitigen Verschwörungstheoretiker waren auf einmal nicht mehr nur vorstellbar, sondern zu großen Teilen längst gängige Praxis. Um Watch Dogs wurde es still, der Release kurzfristig auf 2014 verschoben. Wurde der Erwartungsdruck durch die aktuelle politische Lage zu hoch? Mittlerweile hat sich neben der Erkenntnis der allgegenwärtigen Überwachung auch eine neue Konsolengeneration in den Wohnzimmern etabliert, auf die Watch Dogs jetzt einstürmt – und mit ihm die große Frage: Was bleibt von einer Near-Future-Dystopie, die von der Realität längst überholt wurde?

Watch Dogs

Von Fixern und Cleanern

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, begeben wir uns in das fiktive Chicago der nahen Zukunft: Hier herrscht ctOS im Verborgenen über die komplett vernetzte Metropole. Das intelligente Stadtbetriebssystem kontrolliert von der Hebebrücke über die Ampelanlagen bis hin zu den zahlreichen Kameras und den Straßenbahnen nahezu jeden infrastrukturellen Aspekt des urbanen Chicagos. Es kann jeden rechtschaffenen Bürger mittels seines Smartphones oder per Gesichtserkennung identifizieren, lokalisieren und kennt sowohl die Kontostände, als auch die pikanten privaten Details einer jeden Person in der Stadt. Wirklich einer jeden Person? Natürlich nicht. Denn in diesem Fall würden die Abenteuer des Protagonisten Aiden Pearce bereits in einer Zelle enden, bevor sie richtig begonnen hätten. Aiden ist seines Zeichens ein ambitionierter Fixer – in Watch Dogs eine Art Hybrid aus Söldner und digitalem Cleaner – der sich sowohl auf den martialischen Einsatz großer Kaliber, als auch auf die subtilen Künste des Infiltrierens von Computernetzen versteht. Unter Einsatz dieser beiden Talente behebt er die verschiedensten Probleme für seine Klienten. Eines Tages jedoch stößt Aiden bei einem Routine-Hack auf eine Unregelmäßigkeit, seine Identität fliegt auf und eine unbekannte Organisation beschließt ihm einen bleihaltigen Denkzettel zu verpassen. Zwar scheitert der flugs angeheuerte Killer mit diesem Vorhaben, allerdings kommt Aidens junge Nichte infolge des Anschlags ums Leben. Selbstverständlich sinnt der trauernde Onkel von diesem Moment an auf Rache und macht den Übeltäter nach elf Monaten rastlosen Suchens endlich ausfindig, um von ihm mehr über die Hintermänner der feigen Tat in Erfahrung zu bringen. Just in dem Augenblick in dem Aiden dem winselnden Burschen namens Maurice den Lauf seiner entsicherten Waffe vor die zerschundene Nase hält, überträgt Watch Dogs mir die Kontrolle – ein dramaturgisch starker Start in die fünfundzwanzigstündige Jagd nach den Hintermännern der Tat. Eine Jagd bei der Aiden – wer hätte das gedacht – in ein Netz aus allerlei düsteren Machenschaften, Korruption und Intrigen rund um ctOS gerät.

Watch Dogs

Grand Splinter Creed?

Aber der Reihe nach: Im Anschluss an das kurze Meeting mit Maurice in den Katakomben des chicagoer Baseball-Stadions, gilt es zunächst einmal möglichst unerkannt zu entkommen. Die Flucht nutzt Ubisoft Montreal für ein knappes Tutorial, um mich mit den rudimentären Mechaniken in Watch Dogs vertraut zu machen. Laufen, schleichen, zielen, Nahkampfangriffe, an ausgewählten Stellen Klettern, von Deckung zu Deckung huschen – alles längst aus anderen Genrevertretern bekannt und schnell verinnerlicht. Im Gegensatz zu Ezio, Nico Bellic und Konsorten kann Aiden allerdings auch sein Smartphone zücken und den Profiler nutzen – eine Art Hacking-Tool, mit dem er unerlaubterweise Zugriff auf das ctOS-Netz erhält. Bei aktiviertem Profiler werden mittels eines simulierten Augmented-Reality-Layers einerseits grundlegende Informationen zu Personen in der Nähe eingeblendet (wie z.B. Name, Beruf, Jahreseinkommen und ein privates Detail), andererseits alle per ctOS-Netz manipulierbaren Umgebungsdetails hervorgehoben. Diese lassen sich dann anvisieren und mittels eines kurzen Tastendrucks kontextsensitiv beeinflussen. So kann Aiden unter anderem ein Gasventil aus der Ferne explodieren lassen, die Alarmanlage eines Autos auslösen oder die Kontrolle über eine Überwachungskamera übernehmen. Insbesondere letzteres wird im späteren Spielverlauf zunehmend wichtiger, da Aiden nach der Übernahme einer Kamera wiederum alle Dinge in deren Sichtfeld manipulieren kann – inklusive weiterer Kameras. So brauche ich in manches schwer bewachte Gebäude nicht physisch einzudringen, sondern kann mich durch das ctOS-Netz clever von Kamera zu Kamera hangeln, um bestimmte Zielpersonen per Gasexplosion auszuschalten oder aber Daten von einem Server zu entwenden. So weit, so interessant – leider illustriert das Tutorial gerade diese immens wichtige Spielmechanik nur sehr begrenzt, sodass ich im weiteren Spielverlauf bei meinen Ausflügen ins ctOS-Netz zunächst häufiger auf meine Intuition und mein Glück angewiesen bin. Hat Aiden das Stadion schließlich während eines nicht ganz zufällig eintretenden Blackouts hinter sich gelassen, steht ihm – wie in den großen Open-World-Vorbildern von Rockstar Games – endlich die weite Welt offen. Dabei überlässt es Watch Dogs mir, ob ich zunächst eine Spritztour durch die City unternehme, die Storyline vorantreibe, bei den Sehenswürdigkeiten per virtuellem FourSquare-Pendant einchecke, einen Augmented-Reality-Hindernisparcours in den Straßen absolviere oder mein Geld beim Hütchenspieler an der Ecke verzocke. Pflichtbewußtere Naturen können auch ihr Bank- und Erfahrungspunktekonto durch kleinere Fixer-Jobs oder ihr Ansehen bei der Bevölkerung durch die Vereitelung von Straftaten aufwerten. Klingt nach einer großen Bandbreite an Möglichkeiten, läuft aber leider in vielen Fällen auf motorisierte und fußläufige Verfolgungsjagden respektive Zeitrennen und Schießereien nach Schema F hinaus. Überhaupt wirken viele der Nebenbeschäftigungen in Watch Dogs stark von der Open-World-Konkurrenz bzw. den repetitiven Nebenaufgaben der frühen Assassins Creed-Teile inspiriert: Verbrecher beobachten und fangen, ctOS-Türme in jedem Stadteil freischalten, einen Konvoi überfallen oder mal eine Gebäudeinfiltration à la Splinter Cell – das alles ist solide implementiert und macht die ersten Male durchaus Spaß. Zumal es mit freischaltbaren Waffen, Autos und Fähigkeiten auch einen externen Anreiz zum wiederholten Lösen der Aufgaben gibt. Aber spätestens beim vierten oder fünften Niederschlagen eines fliehenden Gangsters stellt sich dann doch ermüdende Routine ein. Dabei hätte es eigentlich genau hier mit Aidens Profiler und den privaten Informationen über die vorbeischlendernden Passanten unzählige Optionen für kreative Nebenaufgaben gegeben: Dem gestressten Familienvater durch Lieferung eines Geschenkes den Hochzeitstag retten, den Tankstellenpächter vor dem anrollenden Raubüberfall warnen, die zerstrittenen Brüder nach Jahren durch eine fingierte Mail wieder zusammenführen oder auch Menschen mit ihren pikanten Details erpressen. All das hätte dem aufgesetzten Moralsystem Sinn verliehen, dass mich stattdessen für das wiederholte Niederkloppen mehr oder minder schlimmer Finger flugs zum guten Geist der Stadt erklärt, den die Bürger dann nicht mehr bei der Polizei anschwärzen. Schade, hier verschenken die Jungs und Mädels von Ubisoft Montreal ohne Not viel kreatives Potenzial.

Just like the movies?

Kein Problem, bleibt ja noch die hollywoodreife Storyline. Wobei der Begriff „hollywoodreif“ im Falle von Watch Dogs ein eher zweischneidiges Schwert ist: Einerseits wird die Geschichte um Aidens Vendetta abwechslungsreich erzählt, bietet einige spannende Wendepunkte und ist streckenweise mit gelungenen, zumeist auch sehr gut vertonten Dialogen ausstaffiert. Andererseits stammen die Story-Versatzstücke und Charaktere leider zu großen Teilen aus der Hollywood-Mottenkiste und hätten selbst vor zwanzig Jahren nur für ein müdes Lächeln gesorgt: Selbstverständlich gibt es eine große Verschwörung. Selbstverständlich stolpert Aiden ungewollt in den Sumpf von Intrigen. Selbstverständlich hat er eine schwere familiäre Tragödie hinter sich. Selbstverständlich ist er dadurch zum emotionalen Einsiedler geworden. Selbstverständlich liebt er seine Familie trotzdem. Selbstverständlich wird er durch die Umstände zum rächenden Lonesome Rider. Und selbstverständlich behält er stets die moralische Hoheit in einem korrupten System – auch wenn er gerade mal wieder Kleinkriminelle auf offener Straße mit dem Teleskopstock zusammenschlägt. Das alles ist so selbstverständlich und vorhersehbar, dass Aiden – wie auch die meisten Nebencharaktere – zu stumpfen Abziehbildern fragwürdiger Filmhelden der sechziger und siebziger Jahre verkommen. Drama? Pathos? In Hülle und Fülle. Aber moralische Zwischentöne oder gar reflektierter Umgang mit Gewalt und den eigenen Handlungen? Fehlanzeige. In Zeiten, in denen Rockstar Games markante, vielschichtige und ambivalente Protagonisten wie John Marston oder Trevor Philips in die offene Welt entlässt, wirkt Aiden schlicht wie ein platter Anachronismus aus einer vergangenen Hollywood-Epoche. Auch die Nebencharaktere sind streckenweise so wenig einprägsam, dass ich selbst nach mehreren Stunden Spielzeit noch Probleme hatte, mir ihre Namen zu merken. Dabei werden die potenziell spannenden, systemischen Probleme, die sich mit dem Setting von Watch Dogs förmlich aufdrängen, z.B. die Frage nach legitmem Widerstand gegen totalitäre Systeme oder nach der Notwendigkeit von Selbstjustiz, bestenfalls gestreift – meist aber schlicht ignoriert. Die spannende soziale Grundthematik von Watch Dogs verkommt auf der erzählerischen Ebene letztlich zum bloßen Ornament, zum weitestgehend belanglosen Setting für ein wenig innovatives Hacker- und Familienrührstück ohne größere politische oder gesellschaftliche Relevanz. Aus der Thematik hätte Ubisoft Montreal auch vor Edward Snowden erzählerisch weit mehr schöpfen können. Schade, der nächste Haufen Potenzial, den Ubisoft Montreal ungenutzt in die Tonne wandern lässt.

Watch Dogs

Meister der Welt

Auch wenn es nach der harschen Kritik an faden Nebenbeschäftigungen, schwacher Erzählung und langweiligen Charakteren erstaunlich klingen mag: Watch Dogs ist beileibe kein schlechtes Spiel. Im Gegenteil: Es macht streckensweise sogar richtig großen Spaß. Und das verdankt es größtenteils seiner grundsoliden Spielmechanik und der clever eingebundenen Spielwelt. Letzere wirkt zwar optisch etwas steril, ist dafür aber angenehm groß und äußerst lebendig. Im Spielverlauf erlernt Aiden immer neue ctOS-Hacks mit denen er diese üppig bevölkerte Umwelt beeinflussen kann. Vom basalen Umstellen einer Ampelschaltung, über das Hochfahren von Straßenpollern bis hin zum Lahmlegen der Stromversorgung eines ganzen Stadtteils gibt es zahllose Möglichkeiten die Umgebung gegen Feinde und Verfolger einzusetzen. Insbesondere während der spielerisch interessanten Hauptaufgaben kommt regelmäßig richtig Laune auf: Wenn ich mit hundertsechzig durch den dichten Gegenverkehr in Chicagos Häuserschluchten brettere – eine ganze Meute Streifenwagen auf den Fersen – und mit perfektem Timing eine Ampelanlage hacke, die den dichten Querverkehr in die Verfolgermassen fluten lässt, weiß ich: Diese Welt ist mir Untertan. Ob nun ein Konvoi in die manipulierte Polleranlage kracht, ein Flüchtiger an der eben angehobenen Brücke zerschellt oder ein ganzer Stadteil wegen einer gehackten Trafostation in finsterste Nacht zurückfällt – hier wird plastisch wie stark die Befriedigung ist, die aus menschlichen Allmachtsphantasien über die eigene Umwelt erwächst. Und von dieser Befriedigung macht Watch Dogs innerhalb und außerhalb der Missionen reichlich Gebrauch, zumal die manipulierbaren Objekte auch vielerorts raffiniert angeordnet sind und zum ständigen Austüfteln und optimieren von Fluchtrouten oder Fallen einladen. Außerdem scheint an manchen Stellen dann doch hin- und wieder die Stärke der Überwachungsthematik auf: Wenn ich mich in die Telefonate umherlaufender Passanten einklinke oder per gehacktem ctOS-Verteiler einen Blick in die Wohnzimmer der Bewohner Chicagos erhasche, entfaltet Watch Dogs für kurze Augenblicke die atmosphärische Dichte, die mir in der Story und den zahllosen seelenlosen Stadardaufgaben so sehr fehlt. Watch Dogs hätte mit all seinem Potenzial so vieles sein können: Next-Gen-Vorzeigetitel, dystopischer Thriller, gesellschaftskritisches Drama, Spiegel der Gegenwart, das GTA der Zukunft oder gar ein politisches Statement. Geworden ist es – gemessen an diesen (durchaus übergroßen) Erwartungen – wenig. Vielleicht zu wenig. Weit jenseits jeder Erwartungshaltung bleibt aber ein spaßiger Open-World-Spielplatz der gehobenen Mittelklasse mit toller Spielmechanik, aber enttäuschender Erzählung. Und die Hoffnung, dass man in Montreal einen großen Potenzial-Komposter hat – denn Teil 2 kommt bestimmt.

 

Titelangaben:

Veröffentlichungsdatum: Bereits erschienen

Originaltitel: Watch_Dogs

Plattformen: PS4/XBox One/PS3/XBox 360/PC

Entwickler: Ubisoft Montreal

Veröffentlicht von: Ubisoft


Offizielle Website: http://watchdogs.ubi.com/watchdogs/de-de/home/

Entwickler-Website: http://montreal.ubisoft.com/en

Publisher-Website: http://www.ubi.com/de/

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