Fassung!
Fassung!
Über einen zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Begriff
Das Gefühl, gleich vor Wut zu explodieren, vor Peinlichkeit oder Scham im Boden zu versinken, vor Schreck und Hilflosigkeit schier die Fassung zu verlieren, zählt wohl jede Person zu ihrem Erfahrungsschatz. Jeder von uns hat einen Begriff davon, was Fassung ist, doch meist wird die Fassung erst dann ersichtlich, wenn wir ernsthaft um sie besorgt sind. Was hat es mit ihr auf sich? Und: Was verrät die Fassung über uns selbst und uns als Mitmenschen?
Von Felix Kammer
Hermann Schmitz, der Begründer der Neuen Phänomenologie, charakterisiert die Fassung zunächst einfach als das, “was man verliert, wenn man die Fassung verliert”. Paradox genug – sind wir in derartigen Situationen in einer Weise affektiv betroffen, dass es einem ohnmächtigen, nicht jedoch Bewusstsein raubenden Gefühl gleich kommt. Das Ohnmachtsartige konstituiert sich aber nicht allein durch mich, tatsächlich bin ich es, der ausser Fassung gerät, sondern ist in einem intersubjektiven Rahmen eingepasst. Es braucht den Anderen oder das Andere, der/das mich am eigenen Leib derart berührt, dass ich um meine Fassung ringe.
Die Fassung der Fassung
Woraus besteht nun die Fassung? Die Fassung setzt sich, bei Schmitz, aus zwei Teilen zusammen. Teils wird sie durch institutionelle Rollen geprägt, also in etwa, wie wir auf eine uns spezifische Weise Ärztin, Verkäufer, Lehrerin, Student, Vater, Tochter, Bruder, Freund sind, „zum anderen Teil beruht sie auf dem, was der Psychiater Jürg Zutt ‚innere Haltung‘ nennt, also der habituell gewordenen Weise, wie ein Mensch z.B. stolz, liebenswürdig, bedächtig, mit ruhiger Bestimmtheit sanft, von misstrauischer Vorsicht geleitet ist und diese besondere Fassung in alles Verhalten einfließen lässt, womit er an Menschen und Dinge herangeht und sich mit ihnen auseinandersetzt“. Die innere Haltung ist also die Ansammlung von Grundhaltungen, die unser Handeln, selbst in Nuancen, prägt. Jeder Mensch geht beispielsweise eigentümlich auf einen anderen Menschen, auf einen ihm fremden Gegenstand oder Sachverhalt ein.
Organ der Sensibilität
Wenden wir das Vorangegangene positiv um, so gelangen wir zu einer neuen Perspektive auf die Fassung und zur einer Formulierung von Hermann Schmitz, der die Fassung als „Organ der Sensibilität“ bezeichnet. Die Fassung befähigt uns, als einer Art Medium, den Andern am eigenen Leib zu spüren, uns auf ihn überhaupt erst als Person einzulassen und nicht stur an ihm vorbeizusehen, wie es der Unsensible in seiner starren Fassung vollführt. Die schwingungsfähige Fassung des sensiblen Subjekts ist nicht inständig auf die Wahrung der eigenen Fassung bedacht, wie der Empfindliche, der sich eher ängstlich zurückzieht, sondern lässt sich vom andern rühren und nimmt dadurch auch in Kauf, die Fassung aufs Spiel zu setzen. Mit dieser Haltung, dem Einlassen, der Neugierde, Hingabe und Gelassenheit, erfahre ich vom Andern mehr als durch „blosse Beobachtung“ und explizit geäusserte Inhalte. Und, wir sind nicht nur für andere Menschen als Personen auf eine andere Weise empfänglicher, sondern können auch Atmosphären und Situationen anders einfangen.
Fassung in der Selbstzuschreibung
Jeder Mensch, so Schmitz, der es zur Person gebracht habe, besässe eine ‘eigentümliche‘ Fassung. Eine Person ist in Schmitz Konzeption ein menschliches Subjekt, das die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung besitzt: In dieser herrschen zwei auseinanderdriftende Tendenzen. Die personale Emanzipation ist das Vermögen, Bedeutungen zu neutralisieren bzw. zu objektivieren und sich damit von der primitiven Gegenwart abzuheben. Der personalen Regression gelingt dann die Rückbindung verobjektivierter Bedeutungen an die Gegenwart. Daraus resultiert ein Zwiespalt, da personale Emanzipation und personale Regression sich offensichtlich zuwider laufen. Um diese Labilität, der ständigen Bewegung, oder „Schwankungsbreite“ wie sie Schmitz nennt, zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression, auszugleichen, tritt die Fassung wieder ins Spielfeld. Die Fassung stabilisiert den Zwiespalt und die Schwankungen zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression. Das heisst zugleich aber auch, dass sich der Mensch in der Fassung mit etwas identifiziert, was eindeutiger ist als er selbst. Diese Fassung ist elastisch, also als eine Vielzahl von Niveaus und Stilen gebaut, deren man beispielsweise die Besonnenheit, die Ironie, Albernheit, Wut und Ärger nennen könnte.
Spielraum der Person
Durch die ‚Spannweite‘ von personaler Emanzipation und personaler Regression ergibt sich ein erster Spielraum der Person: die Chance der Fassungslosigkeit. Die Fassungslosigkeit oder die Chance zur Fassungslosigkeit ist in dem Sinne naturgegeben und wohl auch als wichtig zu stempeln, da die Person angewiesen ist auf die primitive Gegenwart und die daran anknüpfende „leibliche Dynamik“, deren Ausdruck diese personale Lage ist. Um sich aus dieser Fassungslosigkeit zu befreien, der Zurückgewinnung meiner eigentümlichen Fassung, bedient sich die Person der personalen Emanzipation.
Ein zweiter Spielraum eröffnet uns die Fassung in der Sphäre des Eigenen im Gegensatz zum Fremden: die persönliche Distanz. Eigenes schaffen wir, nachdem wir Bedeutungen unseren subjektiven Erlebens das Subjektive abgeschält haben und damit objektivierte Bedeutungen erhalten, wodurch uns Eigenes im Gegensatz zum Neutralisierten zusteht. Diese Konstellation hat aber zu eigen, dass das Eigene nicht immer so klar zum Objektiven abgegrenzt werden kann. Zusätzlich hat das Eigene den Drang zum Fremden auszulaufen. Dieses ungehinderte Auslaufen unterbindet die Fassung einer Person, nun in einer anderen Funktion, indem sie die neutralisierten Situationen und Bedeutungen wieder in einer mit der Subjektivität verbundenen Bestimmtheit in der Person festsetzt. Dieser Art der Fassung begegnen wir beispielsweise, ganz banal, in der Situation, wenn wir reflektieren (und uns inständig wehren, uns nicht im Reflektieren zu verlieren).
Bedeutungsspielräume
Bisher haben wir die Fassung im Rahmen der Person betrachtet. Dies ist zweifellos die wichtigste Bedeutung des Begriffs. Es gibt aber noch weitere Nuancen. Diese mögen dem ersten Anschein nach weit von der erörterten Bedeutung liegen, könnten sich aber tatsächlich als gar nicht so weit weg liegend entpuppen. Eine exemplarische Andeutung: Einem eher technischen Ausdruck der Fassung begegnen wir bei der Lampe – die Lampenfassung. Wir meinen damit das mechanisch statische In-Form-Bringende der Lampe, also das Element der Lampe, das das Leuchtmittel verankert bzw. fixiert. Auch hier, so könnte man, im weitest möglichen Rahmen, basal argumentieren, hat sich ein auf zu bestimmende Weise konstitutives Element erhalten. Bekannt sein dürfte auch die erste, zweite, dritte usw. Fassung eines Textes – die Textfassung, die, weit ausgeholt, auf vielen verschiedenen Ebenen klarer daherkommt, als sie tatsächlich ist (beispielsweise impliziert sie, dass der Inhalt zeitlich nicht derart (stark) gebunden ist, wie es für die zeitlich fixierte Form gilt, sonst gäbe es nicht eine weiterentwickelte nächste Fassung).
Rückschlüsse und Ausblicke
Halten wir fest: die Fassung besteht einerseits aus gewissen Rollenbildern bzw. -funktionen, und andererseits aus der inneren Haltung, den meinen, durch Heranwachsen und Erziehung erworbenen, nur mir gehörigen Verhaltensweisen (Habitus) oder Grundhaltungen. Meine innere Haltung schwingt bis in Nuancen in meinem Verhalten mit: Die Fassung stabilisiert die Schwankungen im Zwiespalt zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression und verhindert das die Person als Person gefährdende Auslaufen ins Fremde/ Objektive. Der wichtigste und zugleich sensibelste Fühler zwischenmenschlicher Kommunikation ist die Fassung. In einer gelockerten Form, in der Gelassenheit, Neugierde und Hingabe gelebt wird, lässt man zu, den Anderen am eigenen Leib zu spüren und sich ein Verständnis seiner persönlichen Lage und Situation zu erarbeiten. Mit einer starren Fassung verschliesst man sich hingegen dem Anderen (durch starres Festhalten an der eigenen Fassung). Erst in der schwingungsfähigen Form kann man sich auf das Empfinden des Anderen als Person und Gegenüber, auf Atmosphären und Situationen einlassen und sieht nicht an ihnen geradewegs vorbei.
Literatur zum Thema:
Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Verlag Karl Alber. 2003
Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Aisthesis Verlag. 2011
Im Netz:
http://www.information-philosophie.de/?a=1&t=2843&n=2&y=4&c=83