Ian McEwan: „Kindeswohl“
Packender Kontrollverlust
Als Familienrichterin ist Fiona Maye ein Profi was gescheiterte Beziehungen angeht. Doch mit einem Mal ist sie selbst betroffen. Halt gibt ihr ein Eilverfahren, in dem sie über das Wohl eines Kindes entscheiden und dabei die Werte der Schulmedizin mit denen einer religiösen Minderheit gegeneinander abwägen muss. Das klingt dröge, ist aber der literarische Beweis, dass Ian McEwan ein ganz Grosser ist.
Von Fee Anabelle Riebeling.
Es beginnt mir einem Eklat: Nach 30 Jahren Ehe eröffnet Jack Maye seiner Frau, Familienrichterin Fiona, dass er gerne eine Affäre mit einer deutlichen jüngeren Frau beginnen möchte, und fragt, ob man denn trotzdem zusammenbleiben könne. Das möchte Fiona natürlich nicht und setzt ihren übermütigen Mann vor die Tür. Um sich abzulenken, stürzt sie sich noch mehr in die Arbeit. Doch ihre kreisenden Gedanken kann das nicht stoppen.
„Ein ganzes Berufsleben hatte sie über diesen Raufhändeln verbracht, erst beratend, später richtend, hatte sich in privaten Gesprächen von oben herab über die Boshaftigkeit und Lächerlichkeit von Scheidungspaaren mokiert, und jetzt war sie selbst da unten und schwamm mit im deprimierenden Strom.“ Bei anderen Autoren wäre das wohl der zentralste Satz. Ganz anders bei Ian McEwan. Er will mit ihm nur den Leser auf eine falsche Fährte bringen.
Grosses Dilemma
Tatsächlich geht es in „Kindeswohl“ um den Fall des an Leukämie erkrankten Adams, der – um zu überleben – möglichst schnell eine Bluttransfusion erhalten müsste. Aber weil die Eltern des noch nicht volljährigen Jungen Zeugen Jehovas sind, verweigern sie ihm diese. Und auch Adam möchte nicht das Blut eines fremden Menschen in sich haben und damit gegen die Lehre der Zeugen Jehovas verstossen.
Weil sich Adams Blutwerte dramatisch verschlechtern, muss Fiona das Urteil rasch fällen. Doch das ist gar nicht so einfach. Denn akzeptiert sie den Wunsch der Familie und damit ihren Glauben, würde das den fast sicheren Tod des Jungens bedeuten; entscheidet sie aber im Sinne der Ärzte, ignoriert sie den Willen desjenigen, um den es in dem Verfahren geht. Eine Zwickmühle, aus der es eigentlich kein Entkommen gibt.
Grosses Können
Dieses Dilemma bringt McEwan seinen Lesern ganz nah an die Grenzen des Erträglichen heran. Denn er zwingt sie, Stellung beziehen. Was ursprünglich mit einem Ehekrach angefangen hat, dreht sich plötzlich um Fragen der Moral, des Gewissens und auch der Verantwortung. Für den Leser und viel intensiver auch für Fiona, die den Fall für einmal nicht sachlich distanziert beurteilen kann, wie es sich für Richter gehört. Stattdessen wird sie – wie auch schon durch die Offenbarung ihres Mannes – Teil des Falls. Erneut verliert die sonst so Kompetente die Kontrolle.
Das Resultat ist ein emotionaler und gut recherchierter Roman, der in seiner Intensität nahegeht. Möglich wird das, weil sich McEwan, anders als seine Protagonistin, zurückhält. Statt Stellung zu beziehen, belässt er es bei einer nüchtern-formellen Erzählweise, die eigentlich für richterliche Ausführungen typisch ist. Mit diesem geschickten Schachzug lässt der Autor den Kontrollverlust von Fiona noch grösser wirken. Das macht das Nicht-Mitfühlen unmöglich. Und es zeigt, dass McEwan ein ganz Grosser ist und mit „Kindeswohl“ wieder einmal mehr einen grossartigen, intelligenten Roman vorgelegt hat.
Titel: Kindeswohl
Autor: Ian McEwan
Übersetzer: Werner Schmitz
Verlag: Diogenes
Seiten: 224
Richtpreis: CHF 29.90
Wirklich, ein ganz, ganz tolles Buch!