Mona Oellers: „Voll aggro“
Amok, (Cyber-)Mobbing und Gewalt – eine Anti-Aggressions-Trainerin klärt auf
Erschreckend sind sie, die Fallbeispiele, die Mona Oellers in ihrem Werk erwähnt. Man will nicht, dass seinem Kind so etwas zustösst. Oder, dass es in solch einen Fall verwickelt wird. Oellers zeigt an Beispielen aus Deutschland auf, welche Faktoren Kinder in die Gewalt treiben und wie solche Fälle verhindert werden können.
Von Tamara Beck.
Max war ein ganz normaler Junge, der gute Schulnoten hatte, gerne Comics las und Klavier spielte. Dann wurde er eines Tages wegen seiner Unterwäsche in der Umkleidekabine gehänselt. Plötzlich nannten sie ihn schwul. Er wurde in der Pause aus der Gruppe verstossen. Ein Mädchen wollte nicht auf dem Stuhl sitzen, auf dem Max vorher sass: „Das ist ja eklig!“ Die Noten gingen in den Keller. Die Lehrerin schaute weg. Der Junge wünscht sich, tot zu sein. So geht Mobbing. Max hält sich plötzlich selber für hässlich und doof. Die anderen denken dasselbe von ihm.
Noch schlimmer und unkontrollierbarer breitet sich Cybermobbing aus. Wurde ein Foto einmal auf Facebook geteilt, kann es nicht mehr zum Verschwinden gebracht werden. Denn jeder hat die Möglichkeit, es zu kopieren, weiter zu verbreiten. Den meisten ist nicht einmal bewusst, dass sie sich mit der Verbreitung eines Fotos ohne die Einwilligung der abgebildeten Person strafbar machen. Auch wenn Cybermobbing im Netz stattfindet, der eigentliche „Tatort“ ist nach wie vor ein realer, beispielsweise die Schule.
Auch Lehrer können Opfer werden
Ein grosses Problem sind oft auch die Lehrer. Aus Angst, selber zum Opfer zu werden – was durchaus geschieht – halten sie sich zurück. Die Jugendlichen haben keinen Respekt mehr, die Lehrer sind überlastet und es fehlt ihnen an pädagogischen Möglichkeiten. Lehrer werden beschimpft, man pinkelt ihnen in die Tasche; behauptet, sie hätten zugeschlagen – bis der Lehrer sich krank meldet und nicht mehr wieder kommt. Mit den Kollegen wird oft viel zu spät gesprochen, weil es peinlich wäre, zuzugeben, dass man die Klasse nicht im Griff habe.
Auch das ernste Thema sogenannter School Shootings – Amokläufe in der Schule – wird im Buch angesprochen. Zwar ist in Deutschland die Zahl der Fälle gering, doch gibt es laut Oellers immer wieder Situationen, in denen ein Blutbad gerade noch verhindert werden konnte. Auf jeden Fall sollte sich jede Schule nicht nur mit Handlungsmöglichkeiten in so einem Fall vertraut machen, sondern die Lehrer auch stets aufmerksam sein. Und: Die meisten Täter kündigen ihr Vorhaben mehr oder weniger offensichtlich an. Es gilt also, Aussagen wie „am liebsten würde ich alle abknallen“ ernst zu nehmen.
Vertrauensvolle Bindung
Der Grundstein für Aggression wird laut Oellers in der Familie gelegt. Dort sollte ein Kind lernen, wie man respektvoll miteinander umgeht. Weiter sollten die Eltern ihm Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, sich Zeit nehmen, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Doch gerade die Zeit, die es brauche, um eine gute Bindung aufzubauen, fehle heute oft, bemängelt Oellers. Der Grund: Viele Eltern beginnen rasch nach der Geburt wieder zu arbeiten, Kinder werden immer früher fremdbetreut.
Mona Oellers hat als Anti-Aggressions-Trainerin täglich mit Aggression und Gewalt zu tun. Sie trainiert seit 13 Jahren Kinder, Jugendliche und Erwachsene darin, mit ihrer Wut so umzugehen, dass keiner Schaden nimmt. In letzter Zeit erlebe sie die Kinder und Jugendlichen aggressiver. Sie erwähnt den Song „Jeany“ von Falco, der Mitte der 80er-Jahre aufgrund seines Inhalts von vielen Radiosendern nicht gespielt und öffentlich kritisiert wurde. Heute rege sich keiner mehr auf, wenn ein Rapper wie Bushido von „ficken“ und „abknallen“ spreche. „Wie sollen Kinder und Jugendliche verstehen, dass es nicht richtig ist, jemanden sinnlos zu beschimpfen und zu bedrohen, wenn es keine Konsequenzen zu haben scheint?“ Und genau deshalb ist Mona Oellers Buch sehr wichtig und kann nur jedem Pädagogen, Erzieher, ja Elternteil wärmstens zur Lektüre empfohlen werden. Es zeigt nicht nur auf, wie es zu Kaskaden von Gewalt kommen kann, sondern auch, wie sie verhindert werden können.
Titel: Voll aggro!
Autorin: Mona Oellers
Verlag: Piper
Seiten: 256
Richtpreis: CHF 29.90