Milo Rau / IIPM: „The Civil Wars“ | Dampfzentrale Bern
Zeitkritische Reflexion mit psychoanalytischer Inszenierung

Radikalismus, Umbruch und Werteverfall beherrschen die jüngste Geschichte Europas. Das Stück “The Civil Wars“ von Milo Rau, das am 1. April in der Dampfzentrale Premiere feierte, setzt sich damit indirekt auseinander und liefert ein intimes Portrait einer zerrütteten Zeit.
Von Angelika Imhof.
Der Berner Milo Rau wird derzeit von Kritikern als „meistbegehrter Regisseur dieser Tage“ bezeichnet und gewann bereits zahlreiche renommierte Preise für sein Schaffen, wie etwa zuletzt den “Schweizer Theaterpreis 2014“. Kein Wunder also, war der Saal der Dampfzentrale bei der Premiere von “The Civil Wars“ am 1. April bis auf den letzten Platz besetzt. Manch gespannter Theaterbesucher erlebte in den nächsten zwei Stunden eine Inszenierung, wie er sie so wohl nicht erwartet hatte.
Theater als Therapie
Wer sich ein klassisches Theater mit viel Körpersprache, Dialogen und einem lebendigen Bühnenbild erhofft, der wird enttäuscht. Gleich zu Beginn wird das anfängliche Bühnenbild einer imposanten Theaterloge verabschiedet und gegen ein Wohnzimmer mit einer Filmleinwand in Übergrösse getauscht. Diese Geste kann als eine Absage ans traditionelle Theater und den damit verknüpften Erwartungen verstanden werden. Die drei männlichen Darsteller (Karim Bel Kacem, Sébastien Foucault, Johan Leysen) und die eine weibliche Darstellerin (Sara De Bosschere) spielen nicht miteinander, sondern vielmehr nacheinander, indem immer wieder eine andere Person auf dem zentrierten Sofa Platz nimmt, um in einer monologischen Manier eine autobiografische Geschichte zu erzählen. Dabei werden die Schauspieler jeweils auf der überragenden Grossleinwand live übertragen. Als Konsequenz ruht die Aufmerksamkeit des Publikums vornehmlich auf der indirekten Projektion, anstatt auf den realen Menschen auf der Bühne. Ein gelungenes, dramaturgisches Mittel, das indiziert, wie die Realität zunehmend über mediale Kanäle wahrgenommen wird. Während also eine Person spricht und von einer anderen gefilmt wird, sitzen die zwei übrigen Schauspieler stumm im Raum und nehmen dadurch quasi die Rolle des zuhörenden Publikums ein. In diesem Sinne geben sie dem Publikum selbst eine Rolle, indem sie sich auf die gleiche Ebene begeben. Findet ein Kamerawechsel statt, bewegen sich nicht nur die Darsteller, sondern auch das Publikum nimmt diesen Moment des Off-Space wahr, indem kräftig stühlegerückt oder gehustet wird. Das Geschehen auf der Bühne, bzw. auf der Couch, gleicht weniger einem einstudierten Theater, als einer psychoanalytischen Therapie und kreiert dadurch eine sehr intime, vertraute Atmosphäre.
Zwischen Persönlichem und Politischem
In ihren jeweiligen Erzählmomenten sprechen die Darsteller von ihrem Leben im französischen Banlieue, in Marrokko, den Niederlanden oder Belgien. Trotz ihrer Individualität tauchen immer wieder parallele Sujets in ihren Lebensläufen auf und Thematiken wie die Abwesenheit ihrer Väter schaffen einen Konsens. Die Erzählungen verweben Persönliches mit Politischem und spannen dadurch ein Netz zwischen Ängsten, Wahnsinn, Glaube, politischen Überzeugungen und Syrien. In ihrem Ursprung unschuldige, konzeptionslose Geschichten, entwickeln in ihrer konstruierten Gesamtheit einen neuen Charakter. Die Plots verlieren ihre Subjektivität und werden im Kollektiv zu etwas Neuem, das über die persönliche Erfahrung hinausgeht. Dadurch bilden sie ein zeittypisches, universales Portrait ab, das die Resignation unserer Gesellschaft vermittelt.
Gefühl von Orientierungslosigkeit
Obwohl das Stück ursprünglich auf der Frage basiert, was junge Männer aus Europa dazu treibt, nach Syrien zu reisen um dort für die Errichtung eines Kalifats zu kämpfen, ist die Verbindung zu dieser Leitfrage nur sehr lose gehalten. Es wird keine kausale Ursache-Wirkung-Beziehung hergestellt, sondern vielmehr handelt es sich um die subtile Analyse einer Welt, in der es soweit kommen konnte. Das Stück masst sich nicht an, Erklärungen zu liefern, aber es kann als eine Art Reaktion und Reflexion verstanden werden. Die fehlende Handlungsstruktur und die scheinbar lose Aneinanderreihung von unzähligen Stories mag den einen oder anderen Zuschauer verunsichern, stören oder anstrengen, aber genau dieses Gefühl von Orientierungslosigkeit und Überforderung aufgrund eines Übermasses an Informationen spiegelt unseren Zeitgeist umso präziser.
Besprechung der Aufführung am 1. April 2015.
Weitere Vorstellungen am 2. und 3. April 2015.
Dauer: 120 Minuten
Konzept, Text und Regie: Milo Rau
Besetzung: Karim Bel Kacem, Sara De Bosschere, Sébastien Foucault, Johan Leysen
Dramaturgie: Eva-Maria Bertschy
Bühne, Kostüme: Anton Lukas
Kamera, Video: Marc Stephan
Ton und Sound: Jens Baudisch
Lichtdesign: Abdeltife Mouhssin, Bruno Gilbert, Aymrik Pech
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