„Als die Sonne vom Himmel fiel“ von Aya Domenig

Plädoyer gegen das Verdrängen und Vergessen

68. Festival del film Locarno – Semaine de la critique

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Mit ihrem ersten langen Dokumentarfilm „Als die Sonne vom Himmel fiel“ zeigt Regisseurin Aya Domenig sowohl die gesundheitlichen als auch sozialen Auswirkungen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima. In brillanter Weise verbindet sie die private Spurensuche mit der politischen Dimension der Katastrophe sowie – aufgrund der Ereignisse in Fukushima – die Vergangenheit mit der Gegenwart. Damit ist ihr der definitiv stärkste Film des Festivals gelungen.

Von Christoph Aebi.

„Vier Tage nach dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 starben die Menschen mit Symptomen, die ich so noch nie gesehen hatte. Sie spien eine grosse Menge Blut aus der Nase und dem Mund. Sie bluteten aus den Augenlidern. Verwesungsgestank trat aus ihrem Mund. Noch nie zuvor hatte ich jemanden so sterben sehen“, berichtet der heute 98-jährige ehemalige Militärarzt Shuntaro Hida, der sich nach der Zerstörung Hiroshimas im Spital um die unzähligen Verletzten und Sterbenden kümmerte, in Aya Domenigs Dokumentarfilm „Als die Sonne vom Himmel fiel“. Shuntaro Hida tut damit das, was dem verstorbenen Grossvater der schweizerisch-japanischen Filmemacherin zeitlebens nicht gelungen ist: Über seine Erlebnisse als Arzt der Inneren Medizin am Rotkreuzspital in Hiroshima nach dem Atombombenabwurf zu sprechen.

Privater, politischer und gesellschaftlicher Verdrängungsprozess

Die Grosseltern mütterlicherseits der Regisseurin wohnten damals 70 Kilometer ausserhalb Hiroshimas. Zum Zeitpunkt der Atombombendetonation befand sich ihr Grossvater im Zug auf dem Weg zur Arbeit in die Stadt. Durchs Fenster sah er den Blitz und den aufsteigenden Atompilz der Bombe. Von der letzten Haltestelle des Zuges machte er sich zu Fuss auf ins Spital, um sich dort um die Opfer der Katastrophe zu kümmern. Die Familie erhielt während zehn Tagen kein Lebenszeichen von ihm. Als er nach Hause zurückkehrte, wollte er nichts über seine Erlebnisse erzählen. „Er meinte, mit Worten könne man das Erlebte nicht vermitteln. Wer nicht dort gewesen sei, könne das nicht verstehen“ sagt im Film die an Krebs erkrankte und an den Rollstuhl gefesselte Grossmutter von Aya Domenig.

Den wahren Grund des Schweigens zeigt die Regisseurin nun im Film auf: Ihrem Grossvater war es damals schlichtweg verboten, über seine Erlebnisse zu sprechen. Auf Befehl der amerikanischen Besatzungsmacht durften die verstrahlten Menschen sowie die behandelnden Ärzte und Krankenschwestern nicht über ihre Erlebnisse sprechen oder darüber schreiben. Die Ärzte durften sich nicht versammeln, nichts protokollieren und es war ihnen untersagt, Forschung zu den Auswirkungen der Verstrahlung zu betreiben oder Studien darüber zu veröffentlichen. Wer sich nicht an diesen Befehl hielt, wurde verhaftet. Aus Angst haben die Menschen deshalb geschwiegen. Zum privaten und politischen kam schliesslich auch noch ein gesellschaftlicher Verdrängungsprozess: Nach Ende der siebenjährigen Besatzung durch die USA blieb in Japan eine Aufarbeitung des Erlebten aus. Man wollte vergessen und nach vorne schauen. Auch aus Angst vor Diskriminierung verschwiegen viele, dass sie in Hiroshima verstrahlt worden waren. Der Arzt Shuntaro Hida sagt im Film: „Wer darüber sprach, hatte nichts Gutes zu erwarten. Die Kinder von Strahlenopfern fanden keine Arbeit, weil die Leute dachten, sie würden sowieso krank werden. Noch heute, nach drei Generationen, haben Nachfahren von Strahlenopfern miserable Heiratschancen, weil viele immer noch der Meinung sind, eine solche Heirat sei schlecht für das Blut der Familie“.

Von der Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeholt

Am 11. März 2011, ein Jahr nach Beginn der Dreharbeiten für den Film, wurde die Regisseurin durch das schwere Erdbeben, den gewaltigen Tsunami und das darauffolgende Reaktorunglück in Fukushima jäh von der Reise in die Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeholt, auch was die Verdrängungsmechanismen nach dem Unglück betraf. Zwar gab es in Tokio eine grosse Anti-AKW-Demonstration mit 130’000 Teilnehmern. Doch schon bald darauf tauchten Experten auf, die verbreiteten, es gebe keine innere Verstrahlung, denn zu wichtig ist in Japan die Atomindustrie. Genau wie nach Hiroshima und Nagasaki wurde propagiert, dass die Gefahr nun vorbei sei. Damals wurde nur als Atombombenopfer anerkannt, wer sich beim Abwurf der Bomben innerhalb eines Radius von zwei Kilometern zum Epizentrum aufhielt. Alle anderen mussten selber beweisen, dass allfällige Krankheiten etwas mit der Strahlung zu tun hatten. Auch Fukushima wird nun totgeschwiegen – so wurde ein Maulkorbgesetz verabschiedet, das die journalistische Freiheit einschränkt – und die betroffenen Menschen (beispielsweise die zunehmende Zahl der an Schilddrüsenkrebs Erkrankten) müssen mit dem Erlebten selber klarkommen.

Gegen das Verdrängen und Vergessen in der Gesellschaft kämpfen jedoch die zwei grandiosen Hauptprotagonisten in Aya Domenigs Film mit sanfter Resolutheit an: Der bereits erwähnte 98-jährige Shuntaro Hida sowie die 93-jährige Chizuko Uchida, eine ehemalige Krankenschwester, die wie der Grossvater der Regisseurin zum Zeitpunkt des Atombombenabwurfs im Rotkreuzkrankenhaus arbeitete. Shuntaro Hida widmete sein ganzes Leben den Opfern der Atombombe, war bis zum Alter von 92 Jahren Leiter eines Spitals, das fast ausschliesslich die körperlichen und physischen Leiden von Atombombenopfern und deren Kindern sowie Enkelkindern behandelte. Er ist der letzte noch lebende Arzt, der den Atombombenabwurf auf Hiroshima erlebt hat. Unermüdlich reist er im ganzen Land umher, um die Bevölkerung über die Folgen der radioaktiven Verstrahlung aufmerksam zu machen, die oft erst nach Jahrzehnten sichtbar werden. Sein Motto: „Da mein Wissen mit meinem Tod verloren gehen wird, spreche ich weiter, bis ich zusammenbreche“.

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Radioaktivität ist der Weg des Todes

Auch die ehemalige Krankenschwester Chizuko Uchida, die lange Zeit selber unter den Folgen der Verstrahlung wie Blutarmut, Fieberschüben, Schwellungen, Knochengeschwüren und Atemnot litt, lässt sich keinen Mundkorb verpassen: „Wenn ich mich nicht äussere, wer dann? Sonst kommen diese Leute und ziehen das Land in ihre Richtung“. Damit spielt sie auf die Regierung von Premierminister Abe an, der – obwohl kurz nach Fukushima der Atomausstieg beschlossen wurde – den ersten Reaktor wieder in Betrieb setzen liess. Uchida wollte ursprünglich Rotkreuzkrankenschwester werden, weil es in Kriegszeiten der schnellste Weg zu einem Ehrenorden war. Was sie jedoch nach dem Atombombenabwurf sah, hatte nichts Ehrenhaftes mehr. Im Gegenteil: „Seither sage ich, dass Krieg schlecht ist“. Sie schrieb ihre Erinnerungen an Hiroshima auf, spricht über das Erlebte in Schulen und Kindergärten und ist überzeugt: „Solange wir die Radioaktivität weiter nutzen, haben wir den Weg des Todes nicht verlassen“. Zudem ist sie Mitglied im Junod-Verein. Dieser wurde nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl gegründet und nach Marcel Junod benannt, einem Schweizer IKRK-Delegierten, der einen Monat nach Abwurf der Atombombe als erster Ausländer nach Hiroshima kam und die Amerikaner veranlasste, 15 Tonnen Hilfsgüter nach Hiroshima zu bringen. Der Verein setzt sich für die Strahlenopfer von Tschernobyl und nun von Fukushima ein. Mitglieder des Vereins nehmen beispielsweise Flüchtlinge aus Fukushima bei sich auf. Auch Chizuko Uchida beherbergte zeitweise eine junge alleinerziehende Mutter mit ihrem Kind. Auf einem Feld baut die ehemalige Krankenschwester zudem Dokudami-Tee an, der das Immunsystem stärkt und lässt diesen säckeweise über den Junod-Verein nach Fukushima verschicken.

Ausgehend von der persönlichen familiären Spurensuche zur Geschichte ihres Grossvaters verbindet die Regisseurin Aya Domenig brillant die private mit der politischen Dimension des Atombombenabwurfs und der daraus entstandenen Folgen für die Bevölkerung und die Gesellschaft. Zudem zieht sie Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem sie auf die Mechanismen des Verdrängens und Vergessens sowohl nach der Katastrophe in Hiroshima als auch jener in Fukushima hinweist. Die Aussagen ihrer wunderbaren Protagonisten sind geschickt mit schwarz-weissem und farbigem Archivmaterial montiert, das nach dem Atombombenabwurf von den USA konfisziert und teilweise bis in die 80-er-Jahre unter Verschluss gehalten worden war. Mit „Als die Sonne vom Himmel fiel“ ist Aya Domenig ein aufrüttelndes Plädoyer gegen das Verdrängen und Vergessen gelungen, dessen Inhalt und Bilder lange nachhallen. Durch die Wichtigkeit und Aktualität der im Film aufgeworfenen Themen betreffend die negativen Folgen der militärischen und zivilen Nutzung der Kernenergie geriet „Als die Sonne vom Himmel fiel“ definitiv zum eindrücklichsten aller 30 von Nahaufnahmen.ch am 68. Festival del Film Locarno gesichteten Werke.

Ab dem 7. Januar 2016 im Kino.

Originaltitel: Als die Sonne vom Himmel fiel (Schweiz 2015)
Regie und Drehbuch: Aya Domenig
Genre: Dokumentarfilm
Dauer: 80 Minuten
CH-Verleih: Look Now! Filmdistribution

Im Netz:

www.alsdiesonnevomhimmelfiel.com

www.pardolive.ch

 

 

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