Universalismus und Kulturrelativismus am Beispiel eines Ehrverbrechens
Ehrverbrechen: Das richtige Falsche?

Weltweit werden Morde und Gewalttaten im Namen der Ehre begangen. Auch in Mitteleuropa finden solche Verbrechen statt, sie werden jedoch kaum registriert. Ob diese Verbrechen zu verurteilen sind oder nicht, darüber streiten sich die Verfechter von Universalismus und Kulturrelativismus.
Laut einer Studie des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen werden jährlich weltweit etwa 5000 Ehrenmorde begangen. Die Zahl der nicht aufgedeckten Fälle ist vermutlich viel höher: Viele Morde werden als Unfälle oder Selbstmorde abgetan. Verbrechen im Namen der Ehre werden dann begangen, wenn eine Frau oder in seltenen Fällen ein Mann die Ehre der Familie oder der Gemeinschaft verletzt.
Ehre besitzt man, man muss sie nicht gewinnen. Sie kann aber verloren gehen. Für den Ehrverlust macht die Familie zum Beispiel eine Frau verantwortlich, die sich gegen einen für sie ausgesuchten Mann entscheidet oder sich von einem gewalttätigen Ehemann trennen will. Auch Vergewaltigungen oder ungewollte Schwangerschaften stellen Ehrverletzungen dar und werden auf die Frau zurückgeführt.
Ein Hin und Her zwischen Liebe und Abneigung
Ein solcher Fall wird auch im Film „die Fremde“ von Feo Aladag behandelt. Umay, eine in Deutschland aufgewachsene Türkin, heiratet einen Mann in Istanbul. Er missbraucht sie, schlägt sie. Umay ist am Ende ihrer Kräfte und beschliesst, mit ihrem kleinen Sohn Cem nach Deutschland zu fliehen. In Deutschland hofft sie auf die Unterstützung ihrer Familie. Bald wird aber der Grund für Umays Reise angesprochen und damit beginnt ein Hin und Her von Liebe und Ablehnung.
Umays Familie, dazu gehören zwei Brüder, eine Schwester und die Eltern, ist zwar schockiert über das psychische und physische Ausmass der Misshandlungen, doch auch mit der Situation überfordert. Schnell wird dem Vater bewusst, dass er seiner Tochter kein Asyl gewähren kann. Denn ihre Flucht ist eine Ehrverletzung. Sie bringt Schande über den Ehemann und die Familie, stellt sie vor der türkischen Gemeinschaft bloss.
Daher drängen Vater und Mutter ihre Tochter zu einer Rückkehr nach Istanbul. Umay lehnt dies ab und sucht Schutz in einem Frauenheim. Dies verletzt ihre Familie jedoch tief und sie fällt eine Entscheidung: Die Ehre der Familie muss wieder hergestellt werden. Am Ende des Films trifft Umay auf ihren kleinen Bruder. Plötzlich zielt dieser zitternd mit einer Pistole in ihr Gesicht.
Universalismus vs. Kulturrelativismus
Der Film zeigt beide Seiten eines Ehrverbrechens auf. Zu Beginn sympathisiert der westlich sozialisierte Zuschauer mit Umay, verurteilt die Denkweise und das Handeln der Familie und des Ehemanns. Nach und nach entsteht aber ein Verständnis für die Entscheidungen der Familie.
Denn genau wie Umay von ihrem Ehemann unterjocht wird, wird die Familie von der Gesellschaft unter Druck gesetzt, nicht nur ihre Ehre, sondern auch die Ehre des Ehemanns wieder herzustellen. Denn das Konzept der Ehre und der Ehrerhaltung ist in den Köpfen der türkisch-muslimischen Gemeinschaft so stark verankert, dass ein Verzicht darauf undenkbar ist.
Rechtfertigt der gesellschaftliche Druck die Entscheidung der Familie? Nein, würde ein Universalist sagen. Ja, ein Kulturrelativist. Der Universalismus geht von einer für alle Menschen geltenden Moral- und Wertvorstellung aus. Die Gewalt an Menschen ist immer zu verurteilen, der kulturelle Kontext spielt keine Rolle. Die eigenen Wert- und Normvorstellungen werden vom Universalist absolutiert und auf andere Menschen und Kulturen übertragen. Der Universalismus setzt sich über kulturelle Unterschiede hinweg.
Der Kulturrelativismus hingegen misst den verschiedenen Kulturen grosse Wichtigkeit bei. Jede Kultur hat ihre eigene Moral, Kulturen können nicht miteinander verglichen werden. Fragen zu richtig und falsch dürfen nur im Kontext einer Kultur gestellt werden. Somit kann in einer Kultur etwas richtig sein, was in einer anderen falsch ist.
Eine Frage des Herangehens
Beide Theorien vertreten jeweils einen extremen Standpunkt. Beide Pole können aber voneinander profitieren: Wenn sich der Universalismus bewusst wird, dass seine Vorstellungen nicht gezwungenermassen auf jeden Menschen zutreffen müssen, hat eine Annäherung zum Kulturrelativismus stattgefunden. Und wenn der Kulturrelativismus toleriert, dass es in bestimmten Fällen universale Herangehensweisen benötigt, kann der Universalismus seinen Teil beitragen. Dies ist in der Theorie leicht gesagt, scheitert aber oft in der Umsetzung.
Ist also die Entscheidung der Familie in Anbetracht der beiden Theorien nun gerechtfertigt oder hätte sie einen andern Weg gehen sollen? Die Frage ist nicht zu beantworten. Alleine der Blickwinkel entscheidet. Umays psychisches und physisches Wohlbefinden wird verletzt, sie leidet unter ihrer Situation. Dieser Fakt fordert eine universalistische Problemlösung, die das Verhalten der Familie verurteilt.
Aus dem Blickwinkel der Familie sieht die Situation anders aus. Der soziale Druck ist so stark, dass sich eine einzelne Familie diesem nicht widersetzten kann. Die handelt somit nach ihrer gesellschaftlich geformten Moral. Gemäss Kulturrelativismus darf die Moral nicht verurteilt werden. Sie kann nicht mit der westlichen Moral verglichen und schon gar nicht durch sie beurteilt werden.
(K)eine Lösung
Dass dies dennoch geschieht, hat einen einfachen Grund: Wir befinden uns in Deutschland, wo das Verhalten der Familie eine Straftat darstellt. Falls die Behörden den Fall aufdecken, wird die Familie juristisch belangt. Die Gesetze eines Landes nehmen in der Regel wenig Rücksicht auf die kulturellen Hintergründe von Menschen aus andern Weltgegenden.
Was aber in einem Staat gesetzlich als strafbar deklariert wird, kann in einem anderen Land toleriert sein. Die Frage nach richtig und falsch ist in einem multinationalen Feld sehr schwierig. Es gibt zwar die universalen Menschenrechtsabkommen, doch auch diese können im Kontext des eigenen Landes interpretiert werden. Die Umsetzung von universalen Gesetzen scheitert, ganz im Sinne des Kulturrelativismus, an Staatsgrenzen.
Zwar bietet die westliche Moral eine Antwort auf die Frage, was richtig und was falsch zu sein hat. Da jedoch Moralvorstellungen subjektiv sind, ist auch diese Antwort keine allgemein gültige. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich dessen bewusst zu sein.
Im Netz
Links zum Thema Ehrenmord:
Website des Vereins humanrights.ch
Website der Autorin Uta Glaubitz
Link zu Universalismus und Kulturrelativismus:
Website des Vereins humanrights.ch
Filmrezension auf nahaufnahmen.ch vom September 2010