Ian McEwan: „Nussschale“

Brillante Shakespeare-Hommage

Ian McEwan: Nussschale (Roman)

Ein Fötus, so gebildet und eloquent wie ein Oxford-Student, ist einziger Zeuge des Mordes an seinen Vater. Ian McEwan erzählt aus ungewöhnlicher Perspektive einen Klassiker neu.

Noch knapp zwei Wochen, dann soll das Ungeborene auf die Welt kommen. Der Fötus bezeichnet die etwas eng gewordene Gebärmutter als Nussschale – dies eine Anspielung an ein Zitat aus Shakespeares „Hamlet“. Er ist intelligent, redegewandt und ein Weinkenner, weil seine Mutter Trudy (bei „Hamlet“ Gertrude) trotz fortgeschrittener Schwangerschaft ordentlich trinkt. Er kann zwar noch nicht sehen, aber dafür gut hören. Sein ausserordentlich breites Wissen hat er aus Radiosendungen, Podcasts und den vom Vater vorgetragenen Gedichten. John, verschuldeter Lyriker und Verleger, wurde aus dem eigenen Haus vertrieben. Ehefrau Trudy lässt ihn glauben, sich eine Auszeit nehmen zu wollen, damit beide wieder zueinander finden können. In Wahrheit will sie mit ihrem Geliebten und Schwager Claude (bei „Hamlet“ Claudius) ein neues Leben beginnen und ihren Mann loswerden. So wird der Fötus zum einzigen Zeugen des Mordes an den eigenen Vater.

Philosophie, Sex und Verrat

Nicht nur die Erzählperspektive ist ungewöhnlich, auch die Art und Weise, wie Autor McEwan den Ungeborenen erzählen lässt, ist gewöhnungsbedürftig. Humorvoll und zugleich makaber, frech, gesellschaftskritisch und philosophisch. Der Fötus glaubt „an ein Leben nach der Geburt“. Er hofft, dass Rücksicht auf ihn genommen wird, obwohl von Mutterliebe nicht viel zu spüren ist. Gleichzeitig hat er Angst, zusammen mit seiner Mutter und Mörderin im Knast zu landen. Besonders auf die Nerven geht ihm sein dauergeiler Onkel Claude, von dessen Penis er sich jeweils bedroht fühlt, wenn die Ehebrecher Sex miteinander haben. So möchte sich das Ungeborene einmal selbst mit der eigenen Nabelschnur umbringen, um der unangenehmen Situation ein für alle Mal zu entkommen und sich mit seinem Tod wenigstens zum Teil an seinen Onkel zu rächen. Hat sich der Leser einmal mit dieser absurden Hauptfigur angefreundet, steht dem Lesespass nichts mehr im Wege.

Literarische Meisterleistung

„Nussschale“ ist unterhaltsam, bitterböse, zugleich Kriminalroman und Tragik-Komödie. Der darin enthaltene Sprachwitz macht das Werk zu einer literarischen Perle. Einzig die Kommentare zu Klimawandel, Flüchtlingskrise und Genderfragen wollen nicht ganz so glänzen wie der Rest des Romans.

 

Titel: Nussschale
Autor: Ian McEwan
Übersetzer: Bernhard Robben
Verlag: Diogenes
Seiten: 288
Richtpreis: CHF 30.00

 

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