Internationales Literaturfestival Leukerbad

Wenn der Boden unter den Füssen
ins Wanken gerät

Im vergangenen Jahr war das Internationale Literaturfestival Leukerbad geprägt von Autorinnen und Autoren, die Geschichten über politische, menschliche und religiöse Abgründe in die Bergidylle Leukerbads mitbrachten. Nahaufnahmen.ch blickt für Sie zurück und präsentiert zudem eine Vorschau auf das diesjährige Festival, das vom 30. Juni bis 2. Juli 2017 stattfindet.

Benedict Wells und die Moderatorin Jennifer Khakshouri bei Wells erster Lesung in einem Leukerbader Hotelgarten
Bild: Ali Ghandtschi

Von Christoph Aebi

Es war einer dieser magischen Momente der Literaturvermittlung, wie ihn nur das Literaturfestival Leukerbad bieten kann. Trotz regnerischem Wetter war eine grosse Schar Leseratten dem deutschen Autor Benedict Wells auf den Spaziergang durch die Dalaschlucht gefolgt. Bei einem ersten Zwischenstopp las Wells, der bereits 2009 mit seinem Erstlingswerk „Becks letzter Sommer“ am Festival gastierte, aus seinem neusten Buch „Vom Ende der Einsamkeit“ eine Passage vor, in der drei Geschwister im Wald auf einen Fluss stossen, über den ein Baumstamm führt. Auf dem Stamm balancierend, realisieren sie, wie glitschig die Rinde ist, wie steinig und breit der Fluss darunter, wie gefährlich der Abgrund. Bereits diese erste Kostprobe wurde vor Ort von den tosenden Wassermassen der Dala begleitet. Kurz darauf war die eben erst gelesene Passage mit allen Sinnen erfahrbar, als man hoch über der Dalaschlucht, auf der den Fluss überquerenden Hängebrücke schwankend, an das Zitat von F. Scott Fitzgerald dachte, das Wells seinem neusten Werk vorangestellt hatte: „Rück mit dem Stuhl heran bis an den Rand des Abgrunds.“ Die Protagonisten in „Vom Ende der Einsamkeit“ balancieren oft nah am Rande des Abgrunds, stürzen sich teilweise auch in diesen. Die nachdenkliche Geschichte handelt von drei Geschwistern, die behütet aufwachsen, dann aber ihre Eltern früh bei einem Autounfall verlieren. Plötzlich biegt das Leben, das sie bisher führten, in ein anderes Leben ab. Sie kommen in ein staatliches Internat. Der Erzähler Jules, früher mutig und draufgängerisch, zieht sich in sich zurück, verschliesst sich, wird zum Träumer. Die Schwester stürzt sich in Männergeschichten und Drogen. Der ältere Bruder, einst ein schwarzgekleideter Nerd, wird zum Harvard-Überflieger und kalten Geschäftsmann. In einem Fünfjahresrhythmus zeigt das Buch auf, wie die Geschwister durchs Leben gehen und geht der Frage nach, was dafür sorgt, dass ein Leben wird, wie es wird.

Dalaschlucht
Bild: Ali Ghandtschi

Das letztjährige Festival war geprägt von Autorinnen und Autoren, die Geschichten über politische, menschliche, religiöse und kriegerische Abgründe in die Bergidylle Leukerbads mitbrachten. In „Geschichte der Stille“, dem neusten, autobiographischen Roman des neuseeländischen Autors Lloyd Jones, gerät der Boden im wahrsten Sinne des Wortes ins Wanken und reale Abgründe tun sich auf. Ausgehend von den Erdbeben in Christchurch im Jahre 2011 und der Begegnung mit der zerstörten Stadt verbindet der ehemalige Journalist, der 2006 mit „Mister Pip“, dem mittlerweile erfolgreichsten neuseeländischen Buch aller Zeiten, seinen literarischen Durchbruch feierte, auf sowohl brillante wie auch feinfühlige Art und Weise die Geschichte des Landes mit seiner Familiengeschichte. Während er erst im Fernsehen die Nachwirkungen der Beben verfolgte und sah, wie Autos in Schlucklöchern versanken und Menschen riesigen Staubwolken entflohen, wurde plötzlich ein Schwall von Erinnerungen aus seinem Innersten nach oben gespült. So wie die Erdbeben-Katastrophe aus einer verdrängten Vergangenheit hervorgegangen war, aus einer die Sumpf- und Feuchtgebiete Christchurchs zudeckenden Masse aus Beton und Teer, stieg plötzlich seine eigene Familiengeschichte, für deren Wunden aus der Vergangenheit die Eltern keine Sprache gefunden hatten, aus dem Schweigen auf.

Lloyd Jones mit der Moderatorin Christine Lötscher
Bild: Ali Ghandtschi

Sätze, spitz wie Giftpfeile
Weder für sein Schweigen noch für leise Töne ist der in Prag geborene, mit seiner russisch-jüdischen Familie 1970 nach Deutschland emigrierte Schriftsteller Maxim Biller bekannt, eher für seine berühmt-berüchtigte Kolumne „100 Zeilen Hass“ aus dem Magazin „Tempo“ oder den verbalen Spitzen, die er als Mitglied des „Literarischen Quartetts“ gegen Schriftstellerkollegen abfeuert. Während des „Literarischen Hors-d’Oeuvres“ im Gespräch mit dem Publizisten Stefan Zweifel gab sich Biller jedoch relativ handzahm und liess verlauten: „Mich interessiert immer nur das Menschliche, nie das Politische. Propaganda sorgt immer dafür, dass künstlerische Erzeugnisse Schrott sind.“ Doch bei der Abschlusslesung am Festivalsonntag zeigte sich, dass zumindest sein neustes, 900 Seiten wuchtiges Werk „Biographie“, das die Geschichte der beiden Freunde Soli und Noah erzählt, die sich bei ihrer Bar-Mizwa-Feier 1976 in einer Hamburger Synagoge kennengelernt hatten, von politischen Ereignissen der letzten Dekaden durchsetzt ist. Israelische Elitesoldaten und Mossad-Spione kommen im Buch genauso vor wie Ex-Kommunisten sowie Islamistengruppen und Biller legt seinem Erzähler Sätze, spitz wie Giftpfeile, in den Mund: „Meine israelische Tyrannin fing an zu heulen, als wären die Golanhöhen zurückgegeben worden“ heisst es an einer Stelle, oder – nachdem ihn eine türkische Polizistin kalt und herablasssend betrachtet hatte – „Ein Glück, dass nicht 1915 ist und ich kein wehrloser alter Armenier bin.“

Dezidiert politisch ist in ihren Werken auch die ungarische Autorin Zsófia Bán, die 2007 im Alter von 50 Jahren mit „Abendschule“ ihren Debütroman vorlegte. Sie ist die Tochter von Holocaust-Überlebenden, die nach der durch die Sowjetarmee niedergeschlagenen Revolution 1956 Ungarn in Richtung Rio de Janeiro verliessen. In ihrem Werk „Als nur die Tiere lebten“ ziehen sich die Themen Emigration und Entwurzelung wie ein roter Faden durch die Erzählungen. So lebt die Protagonistin aus „Drei Versuche mit Bartók“ seit 40 Jahren in Südamerika, froh, keine Konzerte für Parteifunktionäre mehr geben zu müssen und dem „peinlichen Furzgeruch der vorgeschriebenen Wörter“ entronnen zu sein. Und doch bleibt ein Gefühl der Leere und des Verlustes zurück. Angesprochen auf Zensur im heutigen Ungarn sagte die an der Universität von Budapest lehrende Amerikanistin: „Es wird einem kein Maulkorb mehr verpasst, dafür gibt es starke Budgetkürzungen im kulturellen Bereich sowie bei liberalen und linken Fachzeitschriften. Anstatt einem zu verbieten, gewisse Dinge zu schreiben, lassen sie gleich die Publikationsquellen versiegen. Es ist eine ökonomische Form der Zensur, aber trotzdem immer noch Zensur.“

Die Südtirolerin Sabine Gruber thematisiert in ihrem neusten Roman„Daldossi oder das Leben des Augenblicks“ die Greuel, denen Kriegsfotografen ausgesetzt sind. Der Protagonist ist ein erfolgreicher Kriegsfotograf, der von seiner langjährigen Lebensgefährtin wegen eines anderen Mannes verlassen wird und dadurch zunehmend den Halt verliert. Anstoss zum Schreiben des Romans war für die Autorin der Tod eines guten Freundes, dem Stern-Reporter Gabriel Grüner, der kurz nach Ende des Kosovo-Krieges 1999 in der Nähe von Prizren erschossen wurde. Im Vorfeld des Schreibprozesses recherchierte die Autorin akribisch, nahm an einem Bundeswehr-Kurs für Kriegsjournalisten mit dem Titel „Schutz und Verhalten in Krisenregionen“ teil und erfuhr beim Lesen von Biographien über Kriegsfotografen, wie stark diese durch das Erlebte und Gesehene traumatisiert werden, so dass Alkohol- und Drogenprobleme sowie zerrüttete Familienverhältnisse fast zur Tagesordnung gehören und Kriegsfotografen nun bei Magazinen je länger je mehr vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden. Gegliedert wird der Roman von Bildern und deren Beschreibungen und ist definitiv nichts für schwache Nerven, so detailliert und genau werden hier beispielsweise Kriegsverbrechen und Foltermethoden amerikanischer Soldaten im Irak und in Vietnam geschildert.

Frauen als Gebärmaschinen
Traumatisiert nicht vom Krieg, aber von religiöser Indoktrination und Gehirnwäsche ist hingegen die amerikanische Autorin Deborah Feldman, die ihre autobiographische Erzählung „Unorthodox“ erstmals in der Schweiz vorstellte. Die 1986 geborene Autorin wuchs im zu Brooklyn gehörenden Stadtteil Williamsburg in der chassidischen Satmar-Gemeinde auf, derjenigen ultraorthodoxen jüdischen Sekte mit den weltweit strengsten Regeln. Im Holocaust sehen die Satmarer eine von Gott verhängte Strafe für die Assimilation der Juden und führen deshalb ein streng abgeschirmtes Leben, um eine Wiederholung der Shoa zu vermeiden. In der von Holocaust-Überlebenden gegründeten Gemeinde wird ausschliesslich Jiddisch gesprochen, der Staat Israel wird abgelehnt, da eine selber herbeigeführte Erlösung aus dem Exil als anmassend betrachtet wird. Bis der Messias kommen wird, ist das gelobte Land für die Satmarer tabu. Das wichtigste Augenmerk wird auf die Fortpflanzung gelegt, um die vielen im Holocaust umgekommenen Juden wieder zu ersetzen: Eine rasant anwachsende Gemeinde als endgültige Rache an Hitler. Deborah Feldman wächst bei den Grosseltern auf, da ihr Vater an einer nie behandelten Entwicklungsstörung leidet und die Mutter die Gemeinschaft bereits früh verlassen hat. Die Tatsache, geschiedene Eltern zu haben, macht Feldman bereits früh zur Aussenseiterin. Verbotene Bücher – darunter fällt bereits eine englische Übersetzung des Talmuds – , die sie unter dem Bett versteckt, werden für sie bereits in der Kindheit zu besten Freunden und einem Fenster zur Aussenwelt. Früh macht sie ihren Highschool-Abschluss in einer Privatschule, da es bei Mädchen ihrer Gemeinde als sinnlos angesehen wird, eine höhere, später nicht benötigte Bildung zu verfolgen. Laut Feldman erfüllen die Frauen bei den Satmarern einzig den Zweck von „Gebärmaschinen“. Männer werden deshalb mit spätestens 20, Frauen mit 17 Jahren von Ehestiftern verheiratet. Auch die Autorin, die ihren Mann vor der Hochzeit nur ein einziges Mal sieht, erleidet dieses Schicksal. Aus der bereits vor der Hochzeit zum Scheitern verurteilten Ehe geht ein Sohn hervor. Als in der Gemeinschaft schreckliche Verbrechen geschehen, die nicht geahndet werden, fragt sich Feldman: „Was ist das für eine Welt, in der wir nur Belanglosigkeiten wie einen zu kurzen Rock bestrafen, aber Stillschweigen bewahren, wenn einer die Zehn Gebote bricht?“. Bevor bei ihrem Sohn im Alter von 3 Jahren die religiöse Indoktrination mit dem täglichen Besuch einer Torah-Schule beginnt, plant Feldman ihren Ausstieg aus der Gemeinschaft. Im Jahre 2009 verlässt sie im Alter von 23 Jahren die Gemeinde und kann sowohl eine religiöse wie auch eine zivilrechtliche Scheidung sowie das Sorgerecht für ihren Sohn durchsetzen. Doch durch den Entscheid, ihre Religionsgemeinschaft und ihre Familie zu verlassen, bezahlt Feldman einen hohen Preis. Ein Leitartikel in einer chassidischen Zeitung vergleicht sie mit Joseph Goebbels und warnt, sie könnte den Auslöser für einen weiteren Holocaust sein. Sie wird als Nestbeschmutzerin beschimpft und es wird in der Gemeinschaft darüber diskutiert, ob es religiös legitim sei, sie umzubringen. Nachrichten von anderen Aussteigerinnen, die Selbstmord begingen, erreichen sie. „Ich fühlte mich verloren und verängstigt. Es war niemals klar, dass ich in der Welt ausserhalb der Gemeinschaft eines Tages wirklich ankommen würde“, erzählte die immer noch schwer traumatisierte Autorin in Leukerbad. Seit 2015 denke sie jedoch, es könne gut werden. Deborah Feldman, die seit einiger Zeit mit ihrem Sohn in Berlin lebt, ist mit „Unorthodox“ ein atemberaubender Bericht aus einer für uns fremden Welt gelungen. Selten zuvor hat eine Autorin die Mechanismen einer sektenhaften religiösen Gemeinschaft so anschaulich und gleichzeitig in einer literarisch wunderbaren Sprache verfasst. Soeben ist mit „Überbitten“ das zweite Buch erschienen, in dem Feldman die Spurensuche nach den europäischen Wurzeln ihrer Grossmutter sowie ihren Traum nach einem freibestimmten Leben nach dem Ausstieg aus ihrer Gemeinschaft beschreibt.

Deborah Feldman (Mitte) mit dem Secessions-Verleger Christian Ruzicska (links) und der deutschsprachigen Stimme Ariela Sarbacher (rechts).
Bild: Ali Ghandtschi

Poetische Betrachtungen des ganz normalen Alltagsirrsinns
In der Hoffnung, sich inmitten all der in literarischer Form am Festival vermittelten schweren Themen eine kurze Erholungspause gönnen zu können, stieg man am Festival-Freitag in die Gondel, die einen auf 2350 Meter zur traditionellen Gemmi-Mitternachtslesung brachte. Angesagt war die Premiere eines neuen Programms des Mundartpoeten Pedro Lenz, das von Evelyn und Kristina Brunner mit Kontrabass, Schwyzerörgeli und Cello musikalisch untermalt und eingerahmt wurde. Wie erwartet konnte man herzhaft lachen, doch auch in den brillanten poetischen Betrachtungen des ganz normalen Alltagsirrsinns taten sich Abgründe auf und immer öfter blieb einem das Lachen im Halse stecken, wenn Lenz beispielsweise seine Betrachtungen zur Misere der Schweizer Radiolandschaft zum Besten gab. Bereits bei den ersten Worten packte einen das Gruseln: „Jöö, isch das e Fröid gsi. Uh, het das guet to. Iih, hei die dert am Radio wider einisch au zäme so ne guete Luun gha. Oh, hett üs das Radiolose, hett üs dä Maa am Mikrofon luschtig, liecht und locker dür dä Morge düre treit.“ Es folgen belanglose Gespräche des Radiomoderators mit Zuhörern, die von Alltagsaktivitäten erzählen („Ah hallo, am Glette, soso, äbe, das mues ou mou, jo das mues ou mou gmacht sii. Gäuet, einisch mues haut glettet sii. Und zum Glette cha mä gäbig näbebi no chli Radio lose. Isch es nid eso Frou Hueber?“) und Musikwünsche äussern dürfen („Uh schöni Musig, positivi Musig, eifachi Musig, optimistischi Musig, liechti Musig, iigängigi Musig, guet vertoulichi Musig.“), bevor der Moderator zu den Nachrichten überleitet („Was isch ungerdesse uf dr Wäut passiert? Nach dr Helene Fischer ghöremer de d Nachrichte“). Dies, wie Lenz feststellt, in einer Art und Weise „wie we mir doheime, wo Radio lose, nid ganz bache wäre, wie we die, wo aalütte, nid die Häuschte wäre.“

Pedro Lenz mit den Geschwistern Brunner bei der Mitternachtslesung auf der Gemmi
Bild: Ali Ghandtschi

Ein mit spitzer Feder ausgestatteter Chronist des Alltags ist auch der österreichische Schriftsteller, Essayist und Kritiker Karl-Markus Gauss, der am Literarischen Samstagabend – einer vierstündigen Reise durch die Festivalliteraturen mit Kurzlesungen – Kostproben aus seinem jüngsten Journal „15 Sternstunden des Scheiterns“ vortrug. So etwa über eine resolute Greisin in Niederösterreich, die einem Bankräuber die Tasche mit den Worten „Das Geld gehört der Bank!“ entriss, worauf Gauss lakonisch kommentierte: „Das Geld gehört der Bank. So enden heute in Europa tausende bürgerliche Lebensläufe, die aus den mit Krediten finanzierten Häusern wieder hinausführen. So endet aber auch der zeitgemässe Bankraub.“ Inspiriert durch das Überangebot von Kriminalfilmen und Kriminalromanen verfasste Gauss für „Ruhm am Nachmittag“ zwölf Krimis, aus denen er den kürzesten, eine wunderbare Brunetti-Parodie, integral vorlas: „ ,Weißt du, was ich dir schon immer sagen wollte?’, fragte Signora Brunetti ihren Mann, mit dem sie eben Pasta gegessen und ein Glas Rotwein getrunken hatte. ,Du bist ein widerlicher Spiesser, ich möchte keinen Tag länger mit dir vergeuden.’ Brunetti legte den Kopf schief und tat auf seine selbstgefällige Art, als habe er sich verhört. Doch im selben Augenblick machte es schon plopp und Brunetti spürte, wie die Wucht des Schusses ihn aus dem Sessel riss und gegen die Wand warf. ,Jetzt hat mich Paola doch tatsächlich mit meiner eigenen Dienstwaffe erschossen!’ Das war der letzte Gedanke, den er hatte und er empfand etwas wie eine Finalgenugtuung, dass es ihm gelungen war, selbst diesen Fall noch zu lösen.“ Humor bewiesen zur Stunde auch die an einem Nebentisch anwesenden Mitarbeiter des Diogenes-Verlages, die man ob des Dargebotenen herzhaft lachen hörte.

Wie stark die imaginäre Kraft der Worte wirken kann, konnte man bei der Lesung der kanadischen Lyrikerin Anne Carson beobachten, welche die Anwesenden zum Abschluss des Festivals aus der brennenden Sonne eines Leukerbader Hotelgartens ans andere Ende des klimatischen Spektrums in die „Library of Water“ im isländischen Stykkishólmur entführte. In dieser den Ozean überblickenden ehemaligen Bibliothek stehen 24 Glassäulen, die Wasser aus den grössten Gletschern des Landes enthalten. Carson, die in einem angrenzenden Studio einige Monate leben und arbeiten konnte, sinnierte in episch fliessenden freien Versen darüber, wie es wäre, in einer Bibliothek geschmolzener Bücher zu leben, in der die Sätze über den Boden strömen und nur die Satzzeichen am Boden als Überreste zurückbleiben würden. Manchmal, so Carson, wenn sie wegen der starken Winde nicht schlafen könne, stehe sie auf und begebe sich in diese Bibliothek, wo sie in einer anderen Welt stehe, irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft, Realität und Traum. Es sind dies Gedanken, die man auch auf dieses atmosphärischste aller Schweizer Literaturfestivals übertragen könnte, an dem man während drei Tagen in Literatur zwischen Vergangenheit und Zukunft, Realität und Traum versinken konnte.

Anne Carson (rechts) und die Moderatorin Christine Lötscher (links) bei Carsons erster Lesung in der Alpentherme.
Bild: Ali Ghandtschi

In diesem Jahr findet das 22. Internationale Literaturfestival Leukerbad vom 30. Juni bis zum 2. Juli 2017 statt. 32 Autorinnen und Autoren werden an stimmigen Schauplätzen wie der Dalaschlucht, auf dem Gemmipass, in Hotelgärten, Hotelbars, einer Galerie, dem Alten Bahnhof sowie in der für diesen Anlass trockengelegten Alpentherme ihre Texte vortragen.

Aus der Schweiz sind unter anderem Lukas Bärfuss und Jonas Lüscher dabei, welche in einem Gespräch unter der Leitung von Stefan Zweifel aufeinandertreffen werden. Im Zentrum des diesjährigen Übersetzungs-Kolloquiums steht Urs Mannharts letzter Roman „Bergsteigen im Flachland“. Franz Hohler wird während der traditionellen Mitternachtslesung auf der Gemmi, musikalisch untermalt von den Alphornbläsern Michael Bütler und Ulrich Haider, Texte über Wanderungen und Bergtouren aus dem Buch „Immer Höher“ zum Besten geben. Christoph Geiser hat seine neusten Erzählungen mit dem Titel „Da bewegt sich nichts mehr“ über drei wahre Kriminalfälle, die er am Rand miterlebt hat, im Gepäck. Der von französischen Medien als literarisches Phänomen bezeichnete, erst 28 Jahre junge Quentin Mouron, in Lausanne geboren und in Québec aufgewachsen, wird zusammen mit seinen Übersetzern den ersten auf Deutsch erschienen Roman „Notre-Dame-de-la-Merci“ über eine von Hoffnungslosigkeit und Gewalt geprägte Jugend im gleichnamigen kanadischen Provinzdorf vorstellen. Wer die Vortragsqualitäten der schweizerisch-deutschen Lyrikerin Nora Gomringer kennt, wird sich für den Festival-Samstag den literarischen Dalaschlucht-Spaziergang, während dem an mehreren Stellen Kurzlesungen stattfinden, dick im Programm anstreichen.

Eine grandiose Vorleserin ihrer eigenen Texte ist auch die deutsche Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die mit ihrem neusten Werk „Das Pfingstwunder“ eine, wie die NZZ schrieb, „Poetologie der Verzückung in Romanform“ verfasste. Ebenfalls aus Deutschland anreisen wird Monika Maron, die sich in ihrer Erzählung „Krähengekrächz“ der Faszination für Krähen und der Frage nach dem Verhältnis zwischen Tier und Mensch widmet. Zudem wird die letztjährige Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo anwesend sein, die – als Kind ghanaischer Eltern in London geboren und 2006 nach Berlin gezogen – nach ihren vielgelobten Novellen „Die Dinge, die ich denke, während ich höflich lächle“ und „Synchronicity“ mit ihrem ersten deutschen Text „Herr Gröttrup setzt sich hin“, einer Persiflage auf die etablierte Ehe, die Jury verzückte. Gleich nach Ende des Literaturfestivals an den diesjährigen Bachmann-Preis-Wettbewerb weiterreisen wird John Wray, der als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter in Leukerbad in deutscher Sprache Ausschnitte aus seinem Roman „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“, der Geschichte eines Clans durchgeknallter Hobby-Physiker, die Albert Einstein Konkurrenz machen wollen, präsentieren wird. Mit der leidvollen Geschichte ihrer koreanischen Heimat, von der Besatzung durch die Japaner im 2. Weltkrieg bis zu den Folgen der Teilung in ein kommunistisches und kapitalistisches Land im Kalten Krieg, beschäftigt sich die Österreicherin Anna Kim in ihrem Roman „Die grosse Heimkehr“.

Von den politischen und sozialen Verhältnissen, der Unterdrückung und dem Bruderzwist der irakischen Kurden erzählt Bachtyar Ali in seinem ersten auf Deutsch erschienenen Buch „Der letzte Granatapfel“. Der Bulgare Georgi Gospodinov wirft in seinem Erzählband „8 Minuten und 19 Sekunden“ einen Blick in die kommunistische Vergangenheit seines Landes. Einer der Festival-Höhepunkte versprechen die Auftritte des Chinesen Liao Yiwu zu werden, der seit 2011 im Exil in Berlin lebt und für seine Geschichten aus der chinesischen Wirklichkeit unter anderem 2012 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Er bringt seinen ersten autobiographisch grundierten Roman „Die Wiedergeburt der Ameisen“, in der er die Geschichte seiner Familie mit derjenigen seines Heimatlandes China verwebt, ans Festival mit.

Neben den Lesungen finden während des Festivals in der Reihe „Perspektiven“ unter anderem ein Podiums-Gespräch mit dem belgischen Autor David van Reybrouck (der in seinem neusten Werk „Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ dafür plädiert, dass eine Mischung aus Berufspolitikern und durchs Los bestimmten Bürgern sich mit politischen Fragen beschäftigen sollte) und dem deutschen Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie Bernd Stegemann zum Thema „Kultur und Populismus“ statt. Zudem diskutieren an einer Podiums-Veranstaltung zwei Lektorinnen und ein Lektor über die sich verändernden Aufgabenfelder ihres Berufsstandes in Zeiten, in denen manche Verlage bereits ganz auf die Dienste von Lektoren verzichten.

Das Detailprogramm aller Lesungen und Veranstaltungen des diesjährigen Festivals finden Sie hier:
http://www.literaturfestival.ch/wwkd17/pdf/literaturfestival-leukerbad_detailprogramm-2017.pdf

Weitere Informationen über das 22. Internationale Literaturfestival Leukerbad:
www.literaturfestival.ch

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