Interview mit Sina

„Frauen müssen mehr leisten, um die gleiche Anerkennung wie Männer zu erhalten“

Photo: © Pat Wettstein

Zu ihrem 25-jährigen Bühnenjubiläum hat Sina mit „Emma“ eines ihrer schönsten Alben veröffentlicht. Es besticht durch ein warmes Unplugged-Soundkleid, traumhafte Harmoniegesänge und verblüfft durch die Absenz von Tasteninstrumenten. In den dreizehn sehr persönlichen Liedern geht es ums Zurückschauen, die Suche nach den eigenen Wurzeln sowie unerfüllte Sehnsüchte und es werden die Themenkreise Liebe, Trauer und Abschied reflektiert. Nahaufnahmen.ch traf die im Aargau lebende Walliserin zu einem ausführlichen Gespräch, in dem sie die Inspirationsquellen für die neuen Lieder verriet und über stürmische Zeiten, die Wucht von Pinselstrichen, ihr Herdentierbedürfnis, ihren härtesten Auftritt und lehrreiche Erfahrungen in dem von Männern regierten Haifischbecken des Musikbusiness erzählte.

Von Christoph Aebi

Nahaufnahmen: Sina, du wählst, um dich inspirieren zu lassen, gerne Orte, an denen du dich langweilst. Wo kamen dir für dein neues Album „Emma“ die besten Ideen?

Sina: Da die Lieder fürs neue Album über einen Zeitraum von drei Jahren entstanden sind, gab es verschiedene Orte. In der Nähe von Gewässern fliesst die Inspiration immer sehr schnell. Wenn ich einem See oder einem Fluss entlang laufe, die Schritte und der Atem im Gleichklang sind, lösen sich Dinge einfach besser auf, bis man im Kopf leer ist. Da fängt die Inspiration an. Auch der Wald, der gleich hinter dem Haus, in dem ich wohne, anfängt, ist eine gute Inspirationsquelle. Und das Zugfahren. Ich bin ein grosser öV-Fan. Wenn die Landschaften an mir vorbeifliegen, geht der Blick irgendwie nach innen. Zudem ist das Lötschental immer wieder ein Ort, wo sehr schnell einmal Langeweile aufkommt, weil dort einfach nichts läuft. Ausser, man weiss, dass ich da bin. Da kommen die Leute gerne auf einen Tee vorbei. Das schätze ich ebenfalls sehr. Aber es gibt immer wieder Situationen, in denen ich auf mich selber zurückgeworfen bin. Das ist für mich eine der wichtigsten Voraussetzungen, um kreativ zu sein. Bei diesem neuen Album war es so, dass zuerst die Geschichten entstanden sind. Das war bei meinen früheren Alben immer umgekehrt, da habe ich jeweils mit den Melodien begonnen, weil mir diese eher zufliegen. Diesmal habe ich den steinigeren Weg gewählt. Ich habe mit einer Geschichte angefangen und geschaut, dass diese den Rhythmus vorgibt und die Musik erst fertig ist, wenn die Geschichte erzählt ist. Das war eine Herausforderung. Die Geschichten haben wirklich die Länge und die Richtung des Songs angegeben, beispielsweise bei „Gitarru Ma“, in dem es ein fast dreiminütiges Gitarrensolo gibt oder auch beim Titellied „Emma“. Das war für mich eine Neuerung, bei der ich nicht gewusst habe, wohin sie mich führt.

Es fällt auf, dass du bei diesem Album für jede Geschichte ein ganz spezifisches, passendes Soundkleid gefunden hast und mit der Musik die unterschiedlichsten Stimmungen vermittelt werden.

Die Geschichten haben nicht nur den Rhythmus vorgegeben, sondern auch die Stimmungen der Songs. Ich war erstaunt, wie entscheidend das die Entwicklung der Lieder mitgeprägt oder diese zum Teil auch in eine andere Richtung gelenkt hat, als ich es erwartet habe. In den Notizbüchern, mit denen ich in den letzten drei Jahren unterwegs war, hatte es zum Teil richtige Kurzgeschichten von drei oder vier A4-Seiten, aus denen dann die Lieder entstanden sind. Das hat mehr Zeit gebraucht, aber es war die spannendere Ausgangslage. Und so ist eines meiner persönlicheren Alben entstanden, das für ein ganz bestimmtes Lebensgefühl steht.

Wie würdest du dieses Lebensgefühl beschreiben?

Sich zu freuen auf das Morgen, im Bewusstsein, dass das Gestern länger war. Das ist sicher der Ort, wo ich mit über 50 stehe. Da gehört das Zurückschauen definitiv dazu, beispielsweise mit dem Titelstück „Emma“ über meine Grossmutter und die Heimat, die ich bei ihr gefunden habe. Andererseits geht es auch um die Suche nach Wurzeln oder nach Sehnsüchten, die sich nicht erfüllt haben sowie um Haltungen, wie in „Wiär sii schön“. Vor mehr als 20 Jahren habe ich mit „Unbeschriiblich Wiiblich“ einen ähnlichen Song geschrieben. Nun habe ich darüber nachgedacht, wie sich meine Sicht auf das Alter und die Schönheit seither verändert hat. Die Auseinandersetzung mit dem Thema war sehr spannend. „So eifach“ wiederum handelt davon, einfach mit dem richtigen Menschen dazuliegen und darüber zu sinnieren, worum es im Leben geht: Um den Moment, die Liebe und in der Lebensphase, in der ich jetzt bin, sicher auch darum, Dinge locker und gelassen zu nehmen. Es sind dies alles Themen, die mich immer wieder beschäftigen, aber die Geschichten im Zusammenhang mit diesen grossen Themen Liebe, Trauer oder Suche, die verändern sich. Und damit auch meine Sicht darauf. Ich glaube, darum geht es bei diesem Album.

Wie gross war der Fundus an Ideen, aus denen du für das Album schöpfen konntest? Auf Facebook konnte man sehen, dass du mit Musikern wie Reto Burrell oder Pele Loriano zusammengearbeitet hast und mit Lo & Leduc im Studio warst. Diese Kollaborationen finden sich nun aber nicht auf dem Album.

Mit Lo & Leduc habe ich für ein Projekt des Schweizer Fernsehens, die Jubiläumsshow „50 Jahre Schweizer Hitparade“, den Song „Campari Soda“ neu aufgenommen. Fürs Album hatte ich insgesamt 27 Geschichten, zu denen auch Musik entstanden ist, die ich mit meinem Produzenten Adrian Stern sowie zusammen mit Reto Burrell, Pele Loriano und Remo Kessler geschrieben habe. Dadurch, dass Adi mein Produzent war, haben wir uns mit den Geschichten, zu denen wir beide die Musik komponiert haben, intensiver auseinander gesetzt. Diese haben nun ein so grosses Gewicht gekriegt, dass von den anderen Kompositionen nur „Zeppelin“ von Remo Kessler übrig geblieben ist. Das hat aber mit der Qualität der Songs nicht viel zu tun, sondern einfach mit der Auseinandersetzung damit. Von den ursprünglichen 27 Songs sind 20 übrig geblieben und dann habe ich etwas ausprobiert, das ich vorher noch nie gemacht hatte. Adi und ich haben im Studio von Thomas Fessler ein Konzert organisiert, 30 Leute eingeladen und wir haben die halbfertigen Lieder zum ersten Mal vor Publikum ausprobiert. Es ging mir weniger um den Applaus und darum, wie die Leute auf die Songs reagieren, sondern ich wollte sehen, was mit mir geschieht, wenn ich die Songs vor Publikum spiele. Die Einsicht, welche Lieder wegfallen sollten, hatte ich relativ schnell. So sind wir mit den 13 Songs, die nun auf dem Album sind, ins Studio. Für die Aufnahmen waren mir vier Dinge wichtig: Ich wollte, dass das Album ein Unplugged-Feeling hat, dass Stimmen eine wichtige Rollen spielen, ich wollte meine allererste Gitarrenplatte machen und die Songs sollten viel Raum und eine dunkle Stimmung haben. Das Album sollte nicht allzu high-end-mässig daherkommen. Die Band hat alles live eingespielt und wir haben, abgesehen von den musikalischen Gästen, die dazukamen, keine Overdubs mehr gemacht. Das Live-Feeling, das Intuitive und Impulsive, das sich beim Musizieren ergibt, das sollte bleiben. Das war mir sehr wichtig und Adi hat das bei den Aufnahmen immer im Fokus behalten.

Zum ersten Mal in deiner Karriere als Mundart-Sängerin war Thomas Fessler weder als Musiker noch als Produzent am Album beteiligt.

Das ist ebenfalls eine grosse Neuerung, das stimmt. Einige Leute fragten mich: „Um Gottes Willen, was ist passiert mit euch? Ihr wart doch so freundschaftlich verbunden.“ Das macht eben eine gute Freundschaft aus. Die bleibt, auch wenn sich in musikalischer Hinsicht nun einiges geändert hat. Thomas bleibt eine sehr enge Bezugsperson und wird bei künftigen Projekten vielleicht auch wieder dabei sein. Aber in diesem speziellen Fall war das sowohl in seinem als auch in meinem Sinn, dass etwas Neues passieren soll und muss. Adi hat vor 15 Jahren schon mal in meiner Band gespielt. Danach haben wir zusammen Songs geschrieben. Bei meinem Album „Tiger & Reh“ wurde er zum Koproduzenten und wir bildeten zusammen mit Thomas Fessler ein Produzenten-Trio. Nun sind wir ein Duo geworden und es war die richtige Wahl. Adi ist nicht nur ein begnadeter Gitarrist, ein Super-Songschreiber und ein sehr emotionaler Sänger, sondern er hat auch den Überblick und das Händchen für einen Stil. Er ist immer dem Gefühl und der emotionalen Spur eines Songs gefolgt. Wir haben beide gerne Folk, Country-Pop und Singer-Songwriter-Musik. Die Auffassung, was ein guter Song ist, die haben wir immer geteilt und uns hat immer Ähnliches berührt. Das ist die beste Voraussetzung, um zusammen etwas zu gebären. Ausserdem habe ich mich bei der Arbeit an diesem Album an meine grossen musikalischen Helden erinnert: Queen, Abba, Smokie, Eagles. Ich wollte, dass in diesem neuen Projekt Stimmen in komponierten und arrangierten Stimmblöcken wirken dürfen. Adi hat die Dinge, die mir bei der Entstehung des Albums von Anfang an wichtig waren, nie aus den Augen gelassen und das Album ist somit genau so herausgekommen, wie ich mir das gewünscht habe. Und das ist sehr schön.

Photo: © Pat Wettstein

Das Album spannt einen sehr schönen erzählerischen Bogen. Das erste Lied „Wa nix meh fehlt“ und das letzte Lied „So eifach“ vermitteln eine ähnliche Stimmung, jene der Ruhe, der Gelassenheit und des Vertrauens. Dazwischen gibt es Lieder, die aufeinander einzugehen und einander zu antworten scheinen. Ich habe das Gefühl, dass ihr viel Zeit damit verbracht habt, die Reihenfolge der Lieder festzulegen. Wie seid ihr dabei vorgegangen?

Adi und ich sind beide Album-Künstler. Wir gehören noch nicht zu jener Generation, die alle drei Monate eine EP veröffentlicht oder einfach mal mit zwei Songs schaut, wie das Publikum darauf reagiert. Das Album soll eine Geschichte erzählen und einen dramaturgischen Bogen haben. Wir versuchen, die Zuhörer in das Universum der Platte hineinzuziehen und ihnen die Möglichkeit zu geben, bis zum Schluss darin zu verweilen, um schliesslich fein wieder in der Gegenwart zu landen. Über die Reihenfolge haben wir recht lange diskutiert. Es gab mehrere Varianten, die wir immer wieder umgestellt haben. Schliesslich habe ich entschieden, wie es für mich am besten stimmte. Ich glaube aber, dass Adi mit der finalen Reihenfolge ebenfalls ganz happy ist. Wichtig war mir, dass das Album mit „Wa nix meh fehlt“ und diesem Harmoniegesang beginnt. Das ist eine Art Referenz für das Album. Ich habe Monate damit verbracht, Live-Youtube-Videos anzuschauen und die zwei Männerstimmen für eine schöne Kombination aus drei Stimmen zu suchen, die ich nun mit Ritschi sowie Micha Dettwyler, dem Bruder von Seven, gefunden habe. Als wir das Lied bei mir zuhause zum ersten Mal zusammen gesungen haben, hatte ich Hühnerhaut und wusste, dass das die ideale Kombination ist, die ich für diese Art von Song gesucht hatte.

„Wa nix meh fehlt“ ist, wie du sagst, eine Referenz für das Album mit seinen wunderschönen, vielstimmigen Gesangsarrangements. Ein A-Cappella-Vortrag von dir hat der Legende nach auch zu deinem Vertrag mit der Plattenfirma Musikvertrieb geführt, als du deren Geschäftsführern Sara und Jack Dimenstein den selbst geschriebenen Song „Chumm heim“ ohne Begleitung vorgesungen hast.

Ich hätte das nie im Leben erwartet, als ich zum Gespräch bei der Plattenfirma eingeladen wurde. Ich ging davon aus, dass wir das Demo besprechen und sie mir mitteilen, ob sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen können oder nicht. Und dann komme ich in den Raum und sie sagen: „Jetzt wollen wir mal hören, wie du tönst. Kannst du uns bitte etwas vorsingen?“. Das hat mich extrem nervös gemacht. Erstens, weil ich nicht damit gerechnet hatte und zweitens, weil ich merkte, dass nun wirklich alles von den nächsten drei Minuten abhängt. Was ich damals noch nicht wusste: Früher, also in den 50er- und 60er-Jahren, hat man sich so bei einer Plattenfirma beworben. Da hat man nicht einfach ein schnödes Demo geschickt, sondern als Sänger bei den Verantwortlichen der Plattenfirmen vorgesungen, weil die wissen wollten, wie man live tönt. Dimensteins kommen aus dieser Generation. Ich bin dann also aufgestanden und habe a-cappella meine Eigenkomposition „Chumm heim“ gesungen, die ich später auch für mein erstes Album aufgenommen habe. Mein Vortrag hat mir offensichtlich den Plattenvertrag eingebracht. A-cappella-Gesänge berühren mich auch heute noch sehr: Wenn verschiedene Stimmen miteinander schwingen, ist das eine Energie, die alles rundum vergessen lässt. Ich glaube, darum mache ich Musik: Weil ich mit anderen Menschen eine Energie erzeugen will. Und das ist mit Stimmen, die so persönlich wie kein anderes Instrument sind, am Einfachsten und Intensivsten möglich.

Der Harmoniegesang in „Wa nix meh fehlt“ passt wunderbar zur Harmonie im Text, der eine perfekte Beziehung, oder wie man sich diese vorstellt, beschreibt. Wie kann man erreichen, dass man in einer Beziehung wunschlos glücklich ist?

Man muss lernen, die Messlatte betreffend Ansprüchen an den Partner nicht zu hoch zu legen und darf nicht versuchen, den Partner zurechtzuschrauben. Die Erfahrung, dass man bei jemand anderem sich selber sein kann, finde ich etwas wahnsinnig Schönes. Dass jemand dich ohne Wenn und Aber nimmt, so wie du bist, dass er deine Dämonen kennt und weiss, wann er das Schiff schicken muss, das dich durch die Dunkelheit des Sturms navigiert, das ist einfach ein unglaubliches Gefühl. Dem sage ich Liebe. Und die habe ich gefunden. Deshalb finde ich es schön, dass die Platte mit diesem Statement beginnt.

Die Textzeile „Wa stiig i zu miinä Dämonä in äs Boot im allergreschtu Sturm“ gefällt mir ebenfalls sehr gut. Es ist ein Bild, das bleibt.

„Wa nix meh fehlt“ ist einer jener Texte, an denen ich wahnsinnig lange gearbeitet habe. Nicht nur, weil jeder Satz mit „Wa“ beginnt. Es hat in diesem Text wahnsinnig viele Bilder und diese reichten mir oft nicht. Ich wollte nicht in irgendeine Trivialität abdriften und abgelutschte oder verbrauchte Bilder verwenden, weil für mich dieser Text ein so starkes Gewicht hat und so wertvoll ist. Ich wollte ihm wirklich gerecht werden. So dauerte es lange, bis ich fand, dass für mich jedes einzelne Bild stimmt, um damit das Gefühl des Songs zu transportieren. Ich sprach zu Beginn des Interviews bereits von den Notizbüchern, die so lange mit mir umhergereist sind an die Orte, an denen ich Ruhe gesucht habe und die voll von ganz langen Geschichten waren. Wenn ich nun die fertigen Texte sehe, sehe ich auch den Prozess und die Zeit, die es gebraucht hat, bis sie soweit waren. Bei einigen Texten war ich sehr dankbar, dass Schriftsteller und Autoren mit mir zusammengearbeitet haben, weil ich wollte, dass die Welt durch ihre Talente und ihre Art, mit Wörtern umzugehen, grösser, lebendiger und farbiger wird. Ich habe ein Herdentierbedürfnis und lasse mich gerne inspirieren. Bei anderen Texten, wie diesem hier, dem Titelsong oder „Stärnschnuppä ubär dich“, wusste ich aber, dass ich sie alleine machen musste und mir niemand dabei helfen konnte.

Während die Protagonistin in „Wa nix meh fehlt“ ihr Glück gefunden hat, ist jene im zweiten Song „Ich süächu dich“ immer noch auf der Suche nach der idealen, vollkommenen Liebe. Dieses Lied hast du zusammen mit dem Journalist und Autor Urs Augstburger geschrieben, der erstmals als Texter bei einem deiner Alben beteiligt war. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Wir hatten zum ersten Mal miteinander zu tun, als Urs für mich die Pressetexte zum Album „Tiger & Reh“ geschrieben hat. Irgendwann habe ich bei Lesungen von ihm mitgemacht, bei denen auch Hendrix Ackle, der mit mir nun dieses Duett singt, dabei war. Irgendwie ist für mich die ganze Aargauer Szene erst in den letzten Jahren fassbar geworden und wir haben nun intensiver zusammengearbeitet. Es hat in diesem Kanton wahnsinnig gute Musiker und Künstler, die ich vorher noch nicht so gut kannte und denen ich nun näher gekommen bin. Bei diesem Lied geht es nicht nur um die Suche nach einem Menschen, sondern auch um die Suche nach einem Teil von dir. Manchmal verspürst du doch, auch wenn du etwas gefunden hast, immer noch eine gewisse Sehnsucht. Und du weißt eigentlich gar nicht, wonach. Wahrscheinlich ist es die Sehnsucht nach der anderen Hälfte von dir, die jemand anders gar nicht abdecken kann. Es geht um die Auseinandersetzung mit dir selber. Ich fand, dass Hendrix Ackle nicht nur wegen seiner heiseren, bergigen, kantigen Stimme der perfekte Duettpartner ist, sondern auch wegen seiner Art. Er ist hundertprozentig Künstler und kennt diese Suche genau. Ich wollte nicht einfach einen Sänger, der schön tönt. Ich wollte jemanden, der den Text nachvollziehen kann. Er hat wahnsinnig Freude gehabt, dass wir nun auf dieser CD ein gemeinsames Duett singen und dass es die erste Single geworden ist.

Man kennt Hendrix Ackle weniger als Sänger, eher als famoser Pianist, der unter anderem in der Band von Philipp Fankhauser spielt. Jetzt ist er ausgerechnet auf einem Album als Sänger vertreten, auf dem kein einziges Piano ertönt.

(Lacht laut) Genau. Ich wollte von Anfang an, dass auf diesem Album keine Pianos und Keyboards zu hören sind, sondern es sollte eine reine Gitarrenplatte werden. Ich habe deshalb Hendrix auch nicht als virtuosen Hammondspieler, sondern als Sänger engagiert. Und das fand er super. Er wollte sein Instrument deshalb gar nicht zu den Aufnahmen mitnehmen.

Es hat ihn nie in den Fingern gejuckt, doch noch die eine oder andere Pianolinie mitzuspielen?

Möglich, dass es ihn gejuckt hat, aber er hat das auf jeden Fall nie kommuniziert.

Das folgende Lied auf dem Album, „Easy Rider“, ist die Geschichte einer Frau, deren Route 66 die Dorfstrasse ist, auf der sie statt mit einer Harley mit ihrem Puch-Mofa entlangfährt. Es gibt in dem Lied neben dem Puch-Maxi viele weitere Reminiszenzen an die 80er-Jahre: den Walkman, mit dem die Frau Musik hört, oder Bob Marley, der auf ihrer Jeans-Jacke prangt. Spielt diese Geschichte in den 80er-Jahren oder ist die Protagonistin des Liedes auf eine Art emotional in dieser Dekade steckengeblieben? 

Es ist ganz klar Letzteres der Fall. Das Lied handelt von einer Frau, die in meinem Dorf wohnt und die ich seit Jahren beobachte. Das Leben hat sie ein bisschen in den Würgegriff genommen. Sie wohnt in einer Institution und fährt jeden Tag mit ihrem Puch-Maxi durchs Dorf, trägt Bob Marley auf der Jeansjacke und winkt. Ich habe mit dieser Frau noch nie gesprochen und vielleicht wird sie gar nie erfahren, dass es einen Song über sie gibt. Ausser sie liest dieses Interview und findet: „Hey, das bin ja ich!“. Ich erzähle diese Geschichte aus der Perspektive der Beobachterin, natürlich immer mit dem Rückblick auf meine eigene Geschichte. Mit diesen frisierten Puch-Maxis bin ich ja ebenfalls durch mein Dorf gefahren, auf dem Rücksitz von langhaarigen AC/DC- und Aerosmith-Fans, und die Musik haben wir mit dem Walkman gehört. Was mich an dieser Frau aber so berührt, ist, dass sie mir jeden Tag zeigt, was Lebensfreude unter erschwerten Umständen bedeutet. In einem Leben, in dem du oder ich vielleicht morgen auf der genau gleichen Seite des Tisches wie sie sitzen. Das wissen wir nicht. Sie hat Pech gehabt, es sind in ihrem Leben einige Dinge passiert und jetzt ist sie in dieser Situation. Mich fasziniert, welch positive Kraft sie dennoch ausstrahlt. Natürlich projiziere ich einiges in ihre Geschichte hinein, aber ich sehe einfach: Da ist jemand nicht kaputt gegangen und macht trotz erschwerten Umständen etwas aus seinem Leben. Und solche Menschen beeindrucken mich.

Sehr wahrscheinlich wird sich an diesen Umständen auch nicht viel ändern. In der letzten Textzeile heisst es: „Und di Dorfstrass isch und bliibt iri Route 66“…

Ja, es wird sich nicht viel ändern, weil sie eine Struktur braucht. Sie wird aus dieser Institution sehr wahrscheinlich nicht mehr wegkommen, aber sie macht aus ihrem kleinen Dorf eine Welt, in der sie absolut nicht zu kurz kommt. Das ist es, was uns, mit all diesen Erwartungen, die wir haben und unseren Unzufriedenheiten wegen Nichtigkeiten, ein Vorbild sein könnte. Jedes Mal, wenn bei mir irgendwelche Alltagsnervigkeiten auftreten und ich die Frau vorbeifahren sehe, denke ich: „Sie zeigt dir jetzt gerade wieder, worum es im Leben eigentlich geht.“ Sie ist für mich immer wieder ein schöner Fingerzeig, der mir zu verstehen gibt: „Komm, nimm dich nicht so wichtig und reg dich nicht so auf“. Das lebt sie mir jeden Tag vor. Und wenn sie nachher beim Coiffeur im Nachbardorf eine Zigi raucht, mit der Coiffeuse noch ein paar Worte spricht und einen Gratisespresso bekommt, denke ich immer: „Das ist das kleine Glück im Grossen“. Das strahlt sie für mich auf jeden Fall aus.

Der Text ist mit dem Autor Ralf Schlatter entstanden, mit dem du bereits bei früheren Alben zusammengearbeitet hast. Du sagtest einmal über ihn, dass dir seine Geschichten extrem gut gefallen, weil sie Alltäglichkeiten beschreiben, denen aber oft ein kleines Drama zugrunde liegt.

Das ist auch hier wieder der Fall. Ich habe sehr viel Text über diese Frau geschrieben und Ralf Schlatter einfach mal den ganzen Lauftext geschickt. Mir gefällt, dass er Alltagssituationen so lebendig und lebensnah beschreiben kann. Ralf war mir bei diesem Liedtext, der in einem intensiven Austausch entstanden ist, deshalb ein sehr guter Partner.

Das Titellied „Emma“ über deine Grossmutter ist sozusagen das emotionale Zentrum dieses neuen Albums. Es ist mit einer Laufzeit von 6 Minuten und 20 Sekunden auch das längste Stück, das du je veröffentlicht hast. Man hat das Gefühl, dass dir der Song sehr wichtig ist. Ist dies ein Lied, das schon länger in dir schlummerte?

Ja, manchmal braucht es einfach den richtigen Moment, bis man etwas formulieren kann. Und für „Emma“ war die Zeit jetzt reif. Es ist ein Blick zurück auf eine Frau, die mich erzogen hat, die mir Mutter war mit ihren zwei ledigen Schwestern und die mir dazumal in der schwierigen Situation, nachdem ich meine eigene Mutter verloren hatte, einfach wahnsinnig viel Wärme, Geborgenheit und Liebe gegeben hat. Nichts anderes habe ich zu jener Zeit gebraucht. Das Lied ist auch eine Hommage an eine Generation von Frauen, die damals in der Kriegszeit geschaut haben, dass der Karren läuft. Die sich und ihre eigenen Bedürfnisse zurückgestellt haben, sich als Rebbäuerinnen um die Reben und die Familie gekümmert haben, karg in der Sprache waren, aber dafür umso überschwänglicher in ihren Gefühlen. Ich habe immer gewusst, dass ich sehr geliebt war. Mit dem Lied wollte ich an diese Generation von Frauen und an meine Grossmutter erinnern und es ist ganz klar eines der persönlichsten Lieder auf dem Album. Bei diesem Lied war es für mich besonders hilfreich, dass ich mit dem Text begonnen habe und somit die Geschichte so beschreiben konnte, wie sie wirklich passiert ist, ohne immer im Hinterkopf haben zu müssen, dass das Lied eine bestimmte Struktur hat und ich da jetzt etwas drauftexten sollte. Auch hier hat die Geschichte den Rhythmus vorgegeben und darum ist das Lied so lang geworden. Und es war klar, dass es für Emma ein Walzerli im 6/8-Takt sein sollte. Sie sollte am Schluss einen Tanz und ein Gebet kriegen. Philip Henzi, ein grossartiger Pianist und Arrangeur, der beim Swiss Jazz Orchestra spielt, hat für mich das Streicherarrangement geschrieben, mit dem das Lied endet.

In diesem Lied erzählst du, wie du dich im Spiegel betrachtest und erkennst, dass ihr beide die gleichen Hände und den gleichen Mund habt. Und dann fällt im Lied auch der Satz: „Ei Hüüt han i z’wenig und äs Härz han i z’vill“. Beschreibt dieser sowohl dich als auch Emma?

Emma hat das Herz nie auf der Zunge getragen. Vielleicht habe ich für dieses Lied auch deshalb so lange gebraucht, um ihr näher auf die Spur zu kommen. Aber sie war jemand, der Dinge sehr nah an sich herankommen liess und das zeigt sich eben auch an der fehlenden Haut. Diese Haut ist normalerweise eine Abgrenzung nach vorne, um mit Dingen hart umgehen oder sich ein wenig davon distanzieren zu können. Das ist etwas, das ich natürlich in den letzten Jahrzehnten gelernt habe. Aber zum Teil habe ich immer noch etwas Empfindsames, worüber ich sehr dankbar bin. Etwas Kindliches auch, das Musik entstehen lässt, wie ich sie mache. Das wäre sonst gar nicht möglich. Ich bin dankbar für diese Durchlässigkeit, auch wenn es ab und zu wehtut.

Wie überlebt man mit einer dünnen Haut im Haifischbecken des Showbusiness?

Polo Hofer hat einmal gesagt, es sei ein Haifischbecken, in dem man auf dem Rücken eines Krokodils von der einen auf die andere Seite kommen müsse. Es gibt viele Haie, die um einen herumschwirren, das ist klar. Deshalb bin ich froh, dass ich auf ein so tolles Team zählen kann, meine Managerin Benita, meinen Promoter Rolf oder meine Band. Da weiss ich, dass ich den Schutz von vorne habe. Und alles andere, wofür man dann vielleicht noch eine Haut mehr benötigt, das passiert halt.

„Gitarru Ma“ erzählt eine Geschichte von verblasstem Ruhm und verpassten Chancen. In diesem Song sieht man, wie man mit wenigen Worten viel aussagen kann, wenn es heisst: „Hey hey Gitarru Ma / Het mu gseit wa du bisch icha cho / Hiitu deichä wiär das nummu no“. Früher war man stolz, dass man ihn persönlich gekannt hat und heute schämt man sich fast ein wenig dafür.

Dieses Lied erzählt die Geschichte von jemandem, der ein bisschen aus der Zeit gefallen ist. Er hadert mit dem, was nicht gewesen ist und auch mit dem, was nie sein wird. Er ist verhärmt, verbittert, kann nicht loslassen und deshalb die Zeit, in der er jetzt drin ist, nicht geniessen. Ich kenne ein paar Menschen – nicht unbedingt nur Musiker, aber auch -, bei denen nicht das geschehen ist, was sie erwartet haben und deshalb ist für sie eine Welt zusammengebrochen. Sie orientieren sich sehr stark an der Vergangenheit. Das ist die Geschichte von diesem „Gitarru Ma“, in der kurz beleuchtet wird, wie selbstbewusst er früher war und wie er sich seiner Wirkung auf andere Menschen sehr wohl bewusst war. Das liess ihn scheinen, aber irgendwann erlosch das Scheinwerferlicht und es ist nichts mehr davon übrig. Er hat es verpasst, jemand zu werden, auch für sich. Ich hatte bei diesem Lied eine ganz spezielle Person im Hinterkopf, die nicht Musik macht, aber genau in dieser Situation ist. Mich beelendet, dass ihm das passiert ist und ich wollte das deshalb auf diesen Gitarren-Mann transportieren. Das emotionale Gitarren-Solo am Schluss des Songs bringt all die Wut und den Schmerz zum Ausdruck. Dieses grandiose Solo von Jean-Pierre von Dach könnte ich stundenlang hören. Er spielt so intuitiv, ausdrucksstark und mit viel Gefühl. Das schätze ich unglaublich an ihm.

Für den Text dieses Liedes hast du wiederum mit dem Musiker Christoph Trummer zusammengearbeitet, mit dem bereits „Wartu uf ds Glick“ und „Ha gitröimt vom Meer“ auf dem Album „Tiger&Reh“ entstanden sind. Er ist im Vorstand und Leiter Politische Projekte bei „SONART-Musikschaffende Schweiz“, dem Berufsverband, der die Interessen der freischaffenden Musiker und Musikerinnen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene vertritt. Du warst bei der Gründung von Musikschaffende Schweiz im Beirat. Hat sich eure Zusammenarbeit dadurch ergeben?

Ja, das kann man so sagen. Wir waren bei der Gründungsgruppe von Musikschaffende Schweiz, machten uns über die Stellung von Musikern in unserem Land Gedanken und fragten uns, wo wir uns ungerecht behandelt fühlten, wogegen wir uns wehren und wofür wir kämpfen müssen. Ich habe ihn so näher kennengelernt und irgendwann begannen wir, zum Kreativen überzugehen und gemeinsam an Texten zu arbeiten.

Bei der Gründung des Berufsverbandes ging es vor allem um eine Anpassung der Gesetzeslage in der Schweiz bezüglich der illegalen Downloads.

Ganz genau. Das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum hat damals in der Arbeitsgruppe AGUR12 während zwei Jahren die Möglichkeiten zur Anpassung des Urheberrechts an die technische Entwicklung erörtert – und passiert ist zum Schluss gar nichts. Es ist in der Schweiz im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in Europa immer noch legal, gratis Musik herunterzuladen. Und mittlerweile haben wir noch ganz andere Probleme mit all diesen Streaming-Diensten, deren Popularität wahnsinnig zugenommen hat. Ich habe mal gelesen, dass sich der Umsatz von Spotify innerhalb kürzester Zeit versechsfacht hat. Es ist schwierig, mit solchen Realitäten umzugehen, weil man all die Arbeit, die man für ein Album aufwendet, nicht mehr monetarisieren kann, ausser bei Konzerten. Für ganz viele junge Künstler, die noch nicht ein gewisses Renommee oder einen grösseren Bekanntheitsgrad haben, ist die Situation deshalb noch viel schwieriger als für mich. Das ganze Musikgeschäft ist zwar viel professioneller geworden, es gibt viel mehr Bands als früher, aber dadurch ist es auch schwieriger, aus der Masse herauszustechen. 

Stellte sich für dich auch die Frage, ob du deine Lieder für Spotify freigibst oder nicht?

Ich hätte sie nicht freigeben wollen. Aber im Vertrag mit meiner Plattenfirma war das einfach inkludiert. Ich habe mich gar nicht dagegen wehren können. Mittlerweile denke ich, dass ich mich nicht mehr gegen etwas wehren muss, das zur Normalität geworden ist, sondern es gilt eher, zu schauen, wie die Situation für die Musiker zukünftig verbessert werden kann. Deshalb bin ich immer noch Mitglied von SONART. Ich probiere jetzt vor allem, ein Vorbild für junge Musikerinnen zu sein, mit gutem Beispiel voranzugehen und zu zeigen: Hey, es gibt mehr als 50% Frauen in der Schweiz, die Talente sind genau gleich verteilt, glaubt ein bisschen mehr an euch! Und schaut, es hat schon ein paar, die vorgeprescht sind. Es geht also.

Mich erstaunt immer, dass es in der Schweizer Musikszene zwar viele Frontfrauen gibt, aber nur wenige Musikerinnen in den Bands. Auch deine Band besteht nur aus Männern.

Es ist wahnsinnig schwierig, Musikerinnen für die Band zu finden. Vor 15 Jahren habe ich einmal eine Bassistin gesucht und die Erfahrung gemacht, dass viele Frauen das Gefühl haben, sie seien nicht gut genug. Andere hatten in jener Zeit Familienpläne. Wiederum andere wollten nicht von der Musik leben müssen, weil es ein hartes Business ist, das immer noch von Männern regiert wird – wie ganz viele andere Bereiche der Wirtschaft und der Politik auch. Kürzlich habe ich ein Interview mit den ehemaligen Bundesrätinnen Ruth Dreifuss und Elisabeth Kopp gelesen, die gesagt haben: „Wir mussten denken wie ein Mann und schuften wie ein Pferd.“ Ich glaube, dass Frauen ganz einfach mehr leisten müssen, um die gleiche Anerkennung wie Männer zu erhalten. Ich denke nicht, dass man Büne Huber fragt: „Du, schreibst und textest du deine Songs eigentlich selber?“. Das hat man mich jahrelang gefragt und man fragt mich das manchmal sogar heute noch. Als Frau muss man sich den Respekt anders erschaffen und es braucht mehr Einsatz. Das ist einfach so. Deshalb glaube ich, je mehr man Vorbild ist, desto normaler wird es, dass sich eine Frau beispielsweise an ein Schlagzeug setzt. Das ist übrigens auch ein Aufruf an alle Eltern: Bevor ihr eure Töchter in die Gitarren- oder Blockflötenstunde schickt, fragt sie doch, ob sie nicht auch das Schlagzeugspielen interessieren würde. Aber wie bei der Lohngleichheit braucht diese Entwicklung wohl einfach Zeit. Das kann man nicht übers Knie brechen. Doch das heisst nicht, dass man warten soll, bis es endlich soweit ist. Man kann sich schon dafür einsetzen, dass es etwas schneller geht.

Zurück zu deinem neuen Album: Im nächsten Lied „Numu ä Zahl“ versucht die Protagonistin, sich das Alter vom Leib zu halten – muss sich aber eingestehen, dass es sie früher oder später doch erwischt. Wie gehst du mit dem Älterwerden um?

Fangen wir einmal beim Guten an: Im Alter entwickelt man eine gewisse Gelassenheit. Zudem habe ich zwar nicht mehr die Energie einer 30-Jährigen, dafür mehr Erfahrung. Ich habe einen gewissen Stil, eine gewisse Souveränität und ein Selbstbewusstsein entwickelt, in dem Sinne, dass ich weiss, wer ich bin und dementsprechend agieren kann. Das schätze ich wahnsinnig. Aber das Älterwerden grundsätzlich und in der Öffentlichkeit im Speziellen ist total mühsam (lacht). Man kann in der heutigen digitalisierten Welt mit zwei Klicks genau eruieren, wie du wann wo ausgesehen hast. Früher gab es vielleicht einmal ein Foto in der Zeitung. Und das blieb nicht immer so präsent. Heute ist der Vergleich zu früher so viel schneller abrufbar und dadurch sehr viel präsenter. Und ach, man merkt einfach, dass man sich so langsam auflöst, schwächer und langsamer wird, auch in der Reaktion. Das kann ich jetzt nicht schönreden. Darum wollte ich dieses Lied schreiben. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich das Alter einfach als Zahl anschauen und mich darüber freuen kann, dass ich schon recht viel hinter mir habe und vieles gut herausgekommen ist. Aber es gibt ganz klar auch Zeiten, in denen ich mit dem Alter hadere. Dieses Thema wollte ich mit dem Lied mit einem Augenzwinkern ins Visier nehmen.

Im darauffolgenden Song „Wiär sii schön“, den du zusammen mit Gigi Moto und Anna Känzig interpretierst, geht es ebenfalls ums Alter und darum, dass man gegen die Natur nicht ankommt, auch wenn man das Spiegelbild poliert und den Lebenslauf frisiert. Dieses Lied hast du mit der Sängerin und Kabarettistin Olga Tucek getextet, mit der du erstmals zusammen gearbeitet hast. Wie kam es dazu?

Ich arbeite wahnsinnig gerne mit anderen Frauen zusammen. Und ich hoffe, dass es bald einmal mehr Autorinnen, Schlagzeugerinnen und Toningenieurinnen gibt. Ich habe Olga Tucek vor ein paar Jahren zum ersten Mal auf der Bühne gesehen. Später hatte sie mit ihrem Kabarett-Duo „Knuth und Tucek“ im Nachbardorf einen Auftritt. Meine Schwägerin hat den mitorganisiert und ich konnte deshalb die beiden nach dem Auftritt in der Garderobe besuchen. Mir hat es super gefallen, wie „Knuth und Tucek“ auf der Bühne Haltung gezeigt haben, in musikalischer Hinsicht aber auch mit ihren politischen, sozialkritischen und sehr feministischen Texten. So sind wir ins Gespräch gekommen. Irgendwann habe ich sie angefragt, ob sie mit mir arbeiten würde. Olga Tucek ist wirklich eine ganz tolle Frau mit einer klaren Haltung. In ihrem Bereich ist es schwierig, von der Kunst zu leben. Aber sie macht das mit viel Fantasie und positiver Energie und ist für mich diesbezüglich ein Vorbild. Zudem ist sie eine spannende und sprachaffine Diskussionspartnerin, die vieles anregt. Mit ihr gab es bei der Arbeit am Text jeweils ein sehr schnelles Hin und Her. Manchmal habe ich ihr eine Textversion geschickt und am nächsten Morgen lag schon wieder eine neue Version in meinem elektronischen Briefkasten. Sie ist eine sprudelnde und sehr lebendige Person und ich hoffe, dass wir auch in Zukunft wieder zusammenarbeiten werden.

In diesem Song gefällt mir unter anderem die Textzeile „Forever young hei wär mal griäft / Gmeint hei wär ä Haltig“ sehr gut. In „Forever young“ von Bob Dylan geht es ja entgegen der landläufigen Meinung nicht um die ewige Jugend, sondern eher um das Jungbleiben im Herzen und im Geiste.

Ja, genau. Es geht in diesem Zusammenhang eher um die Gelassenheit, die man im Alter entwickelt. Da kommt mir als Beispiel immer meine selige Schwiegermutter in den Sinn. Die ist einmal im Garten hingefallen, wie ein Käfer auf dem Rücken liegengeblieben und als ich sie später gefragt habe: „Was hast du denn in dieser Situation gemacht? Hast du um Hilfe gerufen?“. Da hat sie geantwortet: „Nein, ich habe einfach diese Tomatenstöcke von unten angeschaut und ein Lied gesungen.“ Das war typisch für sie, in solch einer Situation ruhig zu bleiben und einfach das Positive zu sehen. Mit dem Thema der Schönheit, das ich jetzt 24 Jahre nach „Unbeschriiblich wiilblich“ wieder aufnehme und aus der Sicht einer 52-Jährigen beschreibe, verhält es sich ähnlich. Man kann es drehen und wenden wie man will, am Schluss gewinnt immer die Natur. Also sollten wir probieren, es gelassen zu sehen und uns mit den Möglichkeiten, die wir haben, zu befassen. Ein Beispiel dafür ist das Albumcover: Pat Wettstein, der die Bilder realisiert hat, legt bei den Shootings immer viel Wert auf gute Lichtverhältnisse. Da sieht man automatisch jünger aus. Ich habe mir zum Coverbild aber Gedanken gemacht und mich gefragt, wo die Grenze zwischen einem professionellen Bild, das wirken soll, und meinem eigenen Ich liegt. Deshalb haben wir nachträglich ein paar Falten wieder eingefügt. Ich will nicht so aufgeräumt sein, dass ich aussehe wie mit 22. Trotzdem sehe ich auf dem Bild natürlich jünger aus, als wenn ich morgens um 2 Uhr nach einem Konzert auf dem Heimweg bin.

Du gibst auf deinen Alben immer wieder jungen Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform. Das war schon bei Ritschi und Steff la Cheffe der Fall, als diese am Anfang ihrer Karriere standen. Nun singt Anna Känzig zusammen mit dir und Gigi Moto dieses Lied. Wie hast du gemerkt, dass sie für dieses Frauen-Trio perfekt passt?

Ich habe einmal ein Konzert von Anna besucht und mir hat ihre feine Art gefallen. Sie hat eine sehr berührende Stimme und ist zugleich eine sehr sensible als auch kraftvolle Frau. Irgendwie hat sie mich ein bisschen an mich selber in meinen Anfängen erinnert. Ich finde, dass sie eine unglaublich gute Künstlerin und Songwriterin ist, die weiss was sie kann und mit beiden Füssen auf dem Boden steht. Deshalb hatte ich Lust, mit ihr zu arbeiten und fand, dass wir zusammen mit Gigi Moto ein gutes Trio ergeben.

Der Text des folgenden Songs auf dem Album, „Dä geisch“, ist zusammen mit dem Liedermacher und Mundart-Sänger Tinu Heiniger entstanden. Ihr seid vor zwei Jahren an einem Benefiz-Anlass zum Umbau des Casino Theaters Burgdorf zusammen aufgetreten. Nahm dort eure Zusammenarbeit ihren Anfang?

Ja, der Auslöser für unsere Begegnung war, dass wir im Casino Theater Burgdorf für einen neuen Vorhang aufgespielt haben. Verschiedene Künstler haben an diesem Benefiz-Anlass ohne Gage gespielt und Tinu war auch da. Wir haben uns in der Garderobe näher kennengelernt. Und ich glaube, diese Begegnung hat jetzt einfach sein müssen. Es war für mich ein riesiges Geschenk und eine grosse Freude, mit diesem so poetischen, witzigen und erfahrenen Musiker zusammen zu texten. Wir haben mehrere Texte geschrieben. Dieser ist nun auf dem Album vertreten. Tinu hat eine so schöne, tiefe Seite in dieses Lied hineingebracht und in dem Ping-Pong-Spiel des Texteschreibens hat er auch aus mir immer wieder etwas Neues herausgeholt.

Der Song ist eine wunderschöne, feine, jedoch sehr traurige Ballade über das Ende einer Freundschaft, in welcher der Wunsch geäussert wird, nicht im Krach und in Wut auseinanderzugehen, sondern sich noch voneinander zu verabschieden. Wie gehst du mit Abschieden um?

Nahe Freunde oder meine Familie wissen, dass, wenn ich weggehe, sie sich noch einmal umdrehen müssen, weil ich ganz sicher irgendwo auf dem Bahnsteig oder der Strasse stehe und nochmals winke. Ich bin mir bewusst, dass man Menschen sehr schnell zum letzten Mal sieht, weil ich das als Kind selber erlebt habe. Darum habe ich diesbezüglich wahrscheinlich einen Ecken ab. In diesem Lied geht es um eine langjährige und sehr enge Freundschaft mit einer Frau, die relativ abrupt diese Freundschaft beendet hat, ohne mir zu sagen, warum. Das Lied ist aufgrund dieses Ereignisses entstanden, weil Ich mich sehr schwer damit tue, wenn ich etwas nicht abschliessen oder nicht verstehen kann.

Beim nächsten Lied, „Värflüächu där Mond“, war ich erstaunt, dass der Text zusammen mit einem Mann, dem Autor Urs Augstburger, entstanden ist. Die Männer, oder besser gesagt eine bestimmte Spezies Männer, kommen im Text ja nicht so gut weg. „Jedä het gwisst was är het wellu / Ich äs Värsprächu und du ä Momänt / Und jede weiss dass die zwei Sachä / Äso güät wiä nit zämu geent“, heisst es dort. Jeder wusste, was er selber will, hat sich aber nicht damit beschäftigt, was der andere eigentlich möchte.

Ja, darum funktioniert es auch nicht, wenn man seine Bedürfnisse auf den anderen überwälzt. Also scheitert man eigentlich an den eigenen Erwartungen. Er wollte einfach einen guten Abend und sie den Mann fürs Leben. Das ist nicht kompatibel. Und in solchen Momenten braucht es manchmal etwas, worüber man fluchen kann. Auf dem leeren Bahnsteig, wo die Szenerie spielt, hatte es dann halt nichts ausser den Mond am Himmel und die Bahnhofsuhr, deren Zeiger nicht weiterspringen will.

Das Lied erinnert mit seinem sumpfigen Roots-Sound, dem prägnanten Kontrabass, dem Dobro und Banjo ein wenig an die Produktionen von T Bone Burnett.

Ah, ich liebe T Bone Burnett. All die Songs, die er für die „Nashville“-Serie geschrieben hat und auch seine anderen Produktionen sind grossartig. Das ist jemand, der genau weiss, welche Art Musik wie klingen muss. Diese Stilsicherheit hat auch Adrian Stern. Bei diesem Song, der geheimnisvoll beginnt und bei dem man zuerst nicht so recht weiss, wo er hinführt, spürt man speziell den warmen, runden Drum-Sound, der nicht stört, aber das Bauchige weiterträgt. Und Michael Chylewski zupft den Kontrabass, dass es eine wahre Freude ist.

Du hast mir einmal in einem Interview gesagt, dass deine Lieder eigentlich vertonte, verdichtete Alltagsgeschichten sind. Das Lied „Xundheit“, das mit Christoph Trummer entstanden ist, gehört für mich definitiv in diese Kategorie. Hast du die Szenerie im Lied, eine Klassenzusammenkunft zum 50. Geburtstag, selber erlebt?

Ja, ich bleibe in diesem Lied relativ nahe bei der Wahrheit. Lisa, mit der ich zusammen an die Klassenzusammenkunft ging, ist meine beste Freundin. Bei den anderen Personen, die im Lied vorkommen, habe ich nur die Namen abgeändert. An einem solchen Abend kommt einerseits die Freude auf, dass man es im Leben soweit geschafft hat, aber auch die Sorge, wie es weitergehen mag. Und dann sagt man sich: „Komm, jetzt zählt der Augenblick, an morgen denken wir jetzt nicht, sondern heben noch einmal das Glas.“ Es war einer dieser Abende im Leben, die sich so gut anfühlten, an dem die Gespräche so gut waren, dass man nicht will, dass er aufhört. Und gleichzeitig weiss man, dass einen am anderen Tag die Realität erwartet. Dann erwacht man vielleicht mit einem etwas zu grossen Kopf und merkt, dass man zwar 50 geworden ist, sich aber gerade wie 100 fühlt.

Die Charaktere im Song sind unglaublich lebensecht beschrieben.

Wenn man an ein Treffen von Gleichaltrigen geht, gibt es in jeder Gruppe einen, der findet, er müsse sich im Job bis 65 noch ein wenig stillhalten, um auf der sicheren Seite zu bleiben oder einen, der immer über die Stränge schlägt oder einen anderen, der früher alle Mädchen bekommen hat und jetzt irgendwie eine traurige Nummer geworden ist. Und man fragt sich: „Oh Schreck! Was ist denn mit dem in all den Jahren passiert?“ Vor einiger Zeit habe ich jemanden getroffen, der ebenfalls am Fest war und als ich ihm erzählte, dass der Abend mich so geprägt und beschäftigt hat, dass ich ein Lied darüber schreiben musste, hat er angefangen zu weinen. Und ich sagte ihm: „Um Gottes Willen! Ich habe nichts über dich geschrieben. Ich weiss nicht, wer deine Freundinnen gewesen sind. Es kommt nichts an die Öffentlichkeit. Es ist alles gut.“ Und dann sagte er mir, es berühre ihn einfach ungemein, dass ich über diesen Abend einen Song geschrieben hätte. Diese Reaktion fand ich wunderschön. Ich hoffe, er freut sich auch noch, wenn er den Song hört.

Das folgende Lied, „Zeppelin“, beginnt mit den sehnsüchtigen Akkordeonklängen von Patricia Draeger und endet mit einem prägnanten, bedrohlichen Akkordeon-Ton, der an einen Schrei und die Frage nach dem Warum des Verlassenwerdens anschliesst und so den Schmerz spürbar macht.

Ja, es ist ein sehr abrupter Schluss, wie eine abgeschnittene Emotion.

Weil die Frage nach dem Warum nicht beantwortet wird?

Genau. Die Geschichte ist unumkehrbar. Es wird nie mehr so sein wie in der Vergangenheit, weil der geliebte Mensch nicht mehr da ist. Der ist irgendwann gegangen und du merkst an dem Punkt, an dem du jetzt stehst, dass du nie mehr jemanden treffen wirst, den du so geliebt hast wie diese Person. Und das ist eine bittere Einsicht.

Im Lied scheinen schmerzliche Erinnerungen an ein vermeintlich perfektes Glück, eine heile Welt, die vor Jahren zusammengebrochen ist, wie ein Boot aus dem Nebel plötzlich wieder auf. Ein Gesicht erscheint im Wasser, man kann einen Stein werfen, aber das Gesicht verschwindet nicht.

Ja, weil die Erinnerung sich nicht ertränken lässt. Die bleibt und kommt immer wieder hoch. Die Einsicht, dass Dinge vorbei sind, ist schmerzhaft. Es geht in diesem Lied um Veränderung und um etwas, das endgültig ist.

Dieses Lied, das du zusammen mit deinem Mann geschrieben hast, ist wohl nicht autobiographisch.

Das stimmt. Es ist eine Geschichte von jemandem, den wir kennen. Der Partner dieser Frau ist nicht gestorben, sondern einfach aus ihrem Leben verschwunden, dabei hatte sie immer damit gerechnet, dass die Beziehung für ewig hält. Es geht auch um die Sprachlosigkeit, die man hat, wenn man realisiert, dass jemand plötzlich nicht mehr da ist. Und um die Fragen, die man sich in einer solchen Situation stellt: „Was ist eigentlich genau passiert? Was habe ich alles nicht gesehen? Ich war doch so sicher, dass ich die richtige Person für diesen Menschen bin. Hatte ich möglicherweise ein zu romantisches Bild oder vielleicht gewisse Dinge unter dem Deckel versteckt, damit mein schönes, unverdorbenes Bild stehenbleibt?“ Es zeigt, wie der Mensch immer wieder seine Sicht der Dinge für sich schönreden kann.

Das möglicherweise emotionalste Stück auf dem Album ist „Stärnschnuppä ubär dich“, in dem es um einen bevorstehenden, endgültigen Abschied von einem geliebten Menschen geht, der noch einmal gefeiert wird. Im Normalfall kann man sich etwas wünschen, wenn es Sternschnuppen regnet.

In diesem Fall nützt es leider nichts.

Kannst du mehr über die Geschichte hinter diesem Lied erzählen?

Das Lied handelt von einem meiner Grossvettern, der im Alter von 47 Jahren an Krebs gestorben ist. Wir haben uns erst relativ spät kennengelernt, hatten aber schnell eine Art Seelenverwandtschaft. Er hatte eine unglaubliche Ausstrahlung und ist auf eine Art und Weise mit seinem bevorstehenden Tod umgegangen, die ich mir immer vor Augen halten werde. Er strahlte eine solche Kraft aus und hat alle anderen getröstet. Jahrelang kam er immer an meine Konzerte und als er nicht mehr aus dem Haus gehen konnte, habe ich ihm zusammen mit meinem Mann ein Schlafzimmerkonzert geschenkt. Dazu hat er seine Mutter und alle seine Freunde eingeladen. Er konnte alle Lieder auswendig und merkte gleich, wenn ich einen Texthänger hatte. Er hat mitgesungen und alle seine Freunde waren um ihn herum und haben gleichzeitig geweint und gelacht. Ich glaube, ich hatte noch nie einen so harten Auftritt. Aber ich habe seine leuchtenden Augen gesehen und ich glaube, ihm dieses Konzert zu schenken, war das Beste, das ich überhaupt machen konnte. Alle seine Freunde kamen mit kleinen Gaben, einige haben Zigaretten gebracht, andere einen Kuchen gebacken. Die wussten, was ihm Freude macht und wir haben ihm Tschüss gesagt. Das waren unglaublich intensive Momente, weil wir wussten, dass er nicht mehr lange leben wird. Darum singe ich im Lied: „Was choschtut diini Wält ich biätu meh“. Wir hätten alles gegeben, dafür, dass er bleiben kann. Aber es lag nicht in unserer Hand und wir mussten ihn gehen lassen. Zwei Monate nach dem Konzert ist er dann zu Hause gestorben.

Das Eindrückliche an diesem Lied ist, dass es trotz aller Trauer eine gewisse Versöhnlichkeit mit dem Tod ausstrahlt.

Ja, genau. Er hat gesagt: „Ich bin so neugierig darauf, was nach dem Tod kommt. Lasst mich gehen. Ich komme dann schon wieder und werde euch immer wieder begegnen, irgendwo.“ Es ist ein Mensch, den ich sehr ungern und mit sehr viel Trauer gehen lassen musste. Er war eine so wertvolle Seele. Und es war mir ein grosses Bedürfnis, ihm dieses Lied zu schenken.

Das Album schliesst mit dem Titel „So eifach“, den du mit Adrian Stern in der freien Natur auf einer Bank an einem Waldrand aufgenommen hast. Man hört zu Beginn sogar eine Wespe oder Biene summen. Die sehr schlichte Umsetzung des Songs passt also zum Titel. Habt ihr von Anfang an gewusst, dass ihr das Lied in diesem Setting aufnehmen möchtet?

Ich glaube, Adi hat gar nicht mehr damit gerechnet, dass der Song noch aufs Album kommt. Wir gingen eigentlich davon aus, dass wir fürs Album zwölf Lieder aufnehmen und diese hatten wir bereits im Kasten. Das Demo von „So eifach“ war sehr intim, nur mit Gitarre und meiner Stimme. Und irgendwann haben wir uns einfach gesagt: „Komm, wir gehen doch in die Natur und nehmen es so auf, wie es gerade kommt“. Adi hat die Gitarre, zwei Mikrofone und Kopfhörer mitgebracht und dann haben wir das Lied in der freien Natur aufgenommen. Wenn wieder mal ein Flugzeug über uns geflogen ist, mussten wir unterbrechen. Aber es gab drei Versionen, die brauchbar waren und eine davon ist nun auf dem Album. Und mit diesem Lied zum Schluss des Albums landet man nun wieder sehr fein.

Für das Booklet des neuen Albums hast du, angeleitet durch die Kunstmalerin Karin Frank aus Bern, Bilder gemalt. Wie hast du die Songs ausgewählt, die du bebildern wolltest?

Ich hatte eigentlich bei den meisten Songs ein Bild im Kopf, weil das alles sehr bildhafte Geschichten sind. Aber ich musste mich für ein paar davon entscheiden. Auf dem Bild zum „Gitarru Ma“ beispielsweise ist mein Gitarrist Jean-Pierre von Dach zu sehen. Den Hintergrund – die Wand, vor der ich ihn fotografiert habe – haben wir anschliessend mit Farben verändert. Angefangen hat aber alles mit Elina, meinem Gottenkind, die nun auf der Rückseite des Albums zu sehen ist. Ich habe eine neue Kamera geschenkt bekommen, habe sie fotografiert und zur gleichen Zeit bekam ich auch einen Malkurs bei Karin Frank geschenkt. So hat es sich ergeben, dass wir für dieses Album zusammen gearbeitet haben. Wir haben Fotos auf Leinwände aufgezogen und dann mit Acrylfarben bemalt. Karin ist eine ganz tolle Frau. Früher war sie Journalistin bei Tele Bärn und lebt nun von der Malerei. Sie sagte mir: „Ich werde keinen Pinselstrich für dich machen, aber ich stehe hintendran und sage dir, wenn du Fehler machst.“ Es war eine sehr inspirierende Zusammenarbeit.

Karin Frank sagt, die Malerei habe bei ihr mit Kommunikation zu tun. Die menschliche Sprache, ob verbal oder nonverbal, stosse irgendwann an ihre Grenzen. Dort, wo Worte nicht mehr ausreichen würden, um feinste Nuancen auszudrücken und eine Message subtil auf den Punkt zu bringen, setze die Malerei an. Diese sei die leise Sprache zwischen den lauten Zeilen, die erst in der Stille gehört werden könne. Was konntest du mit den Bildern ausdrücken, was mit Worten nicht möglich gewesen wäre?

Ich glaube, es gibt einen Bogen von den Aussagen zum Bild. Was nicht mit Worten erklärbar ist, sieht man möglicherweise mit der Wucht eines Pinselstrichs: Die Energie, die Wut oder Verzweiflung. Ich male sehr intuitiv und könnte zum Beispiel nie eine Fruchtschale malen. Das war für mich in der Schule immer der pure Horror. Ich habe dort nie mithalten können. Aber mittlerweile habe ich zuhause etwa 15 Bilder gemalt, die vielleicht nie jemand sieht. Ich habe mit denen überhaupt nichts vor und muss mit niemandem konkurrieren. In der Musik habe ich Konkurrenz, bin in einem Markt, der umkämpft ist und in dem ich etwas liefern muss. In der Malerei nicht. Da kann ich machen, was ich will. Und das war für mich eigentlich die schönste Einsicht: Ich muss nichts und darf alles. Die Malerei ist für mich einfach eine neue, sehr persönliche Art, mich auszudrücken.

Hattest du zuvor noch gar nie gemalt?

Ich habe schon längere Zeit Kreativbücher geführt, Kalligrafien und Collagen erstellt, mit Farbstiften gemalt und Einladungen gestaltet. Aber auf Acryl grosse Leinwände zu bemalen ist nun wahrscheinlich die Quintessenz dieser kleinen Kreativbücher. Irgendwann musste es soweit kommen.

Karin Frank sagte in einem Interview über die Begegnung mit dir, es habe sich dadurch für sie eine neue Welt aufgetan. Ihr hättet euch gegenseitig inspiriert und bereichert und die Zusammenarbeit habe extrem viel Spass gemacht.

Es ist sehr schön, das zu hören. Sie hat übrigens gerade eine Ausstellung gemacht, in der Bilder zu sehen waren, die sie zu Songs gemalt hat, welche sie berührt und gestärkt haben, beispielsweise von Züri West oder Sinead O’Connor. Man konnte, während man die Bilder betrachtete, die Songs dazu anhören.

Photo: © Pat Wettstein

Du feierst mit deinem neuen Album „Emma“ und der laufenden Tournee nun offiziell dein 25-jähriges Bühnenjubiläum als Mundartsängerin. Aber eigentlich bist du bereits 1983 zum ersten Mal auf einer Bühne gestanden, als du am Schlagerfestival Brig mit „The House of the Rising Sun“ den ersten Preis gewonnen hast.

Das ist richtig. Die Zeitrechnung für das Jubiläum fängt für mich aber bei meiner ersten Mundart-CD „Sina“ an, die 1994 veröffentlicht wurde. Seitdem mache ich wirklich professionell Musik. Zuvor habe ich zehn Jahre lang Bühnenerfahrung gesammelt, war aber noch auf der Suche nach der eigenen Stimme.

In dieser Zeit bist du unter dem Künstlernamen Sina Campell aufgetreten. Stimmt eigentlich die Geschichte, dass dir einmal bei einem Auftritt in einem Zürcher Club jemand 100 Franken geboten hat, damit du mit dem Singen aufhörst? Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Die Geschichte stimmt hundertprozentig. Ich sage dir auch, wo das war: Im „Petit Prince“ in Zürich. Mein damaliger Manager Claus Scherer hatte für mich dort einen Auftritt gebucht. Das „Petit Prince“ war eine Cüpli-Bar, in der ganz viele Manager und Banker verkehrten und in denen es auch viele Frauen hatte, die auf diese Männer gewartet haben. Es war sozusagen eine Art Parship auf eine alternative Art. In der Bar waren etwa zehn Leute, der Auftritt war schon hart genug für mich und plötzlich rief mir ein Mann mit lauter Stimme zu: „Entschuldigung! Sie, mir wönd da rede. Wissen Sie was? Am Gescheitesten singen Sie gar nicht mehr. Ich gebe Ihnen 100 Stutz dafür“. In diesem Moment dachte ich: Wenn ich dieses Geld jetzt annehme, hat das Konsequenzen. Ich bin auf der Bühne, weil ich Musik machen will und wenn der das nicht hören will, soll er gehen. Und dann sagte ich: „Ich habe noch zwei Songs, die müsst ihr jetzt halt einfach durchstehen.“ Und habe dann „What a feeling“ sowie „She works hard for the money“ gesungen – was an diesem Abend auch stimmte (lacht). Aber weißt du, ich habe in dieser Zeit wahnsinnig viel gelernt.

Was ist dir aus dieser Zeit bezüglich Lernprozess sonst noch in Erinnerung geblieben?

Mein damaliger Manager hat einmal ein ganzes Team organisiert, das mich einen Nachmittag lang coachen sollte: Es kamen ein Kameramann, ein Journalist sowie ein Radiomoderator und diese sollten mich durch die Mangel nehmen, damit ich weiss, wie ich mich verkaufen soll. Die haben mich den ganzen Nachmittag mit Fragen gelöchert. Eine davon werde ich nie vergessen: „Bist du noch Jungfrau?“. Ich bin natürlich rot angelaufen, ich war damals 18 Jahre alt und fand: „Hey, was für eine Frage stellt der mir?“. Und dann sagte mir der Journalist: „Sehen Sie, mit solchen Fragen müssen Sie rechnen. Und wissen Sie, was man darauf antwortet? Nein, ich bin Zwilling.“ Das war eine lehrreiche Erfahrung. Aber jetzt muss ich noch eine Geschichte aus den Anfangstagen meiner Mundart-Karriere erzählen, die mir kürzlich Eric Merz berichtete, der damals für fast alle Schweizer Künstler bei den Plattenaufnahmen als Tonmeister tätig war. Er wurde von meiner Plattenfirma Musikvertrieb angefragt, ob er mich produzieren wolle. Er antwortete, er sei Tonmeister, nicht Produzent und schlug deshalb Markus Kühne vor. Dieser rief die Schmetterband sowie Thomas Fessler an und gründete das Produzententeam „Mister Jim“. Herr Merz und Herr Kühne bekamen nun meine Demos, trafen sich, hörten sich die Musik an und sagten zueinander: „Du, das Meitli kann noch gut singen, also daran liegt es nicht. Aber kann man die auch auf ein Cover nehmen? Wie sieht die überhaupt aus?“ (lacht schallend). Mittlerweile bin ich 14 Jahre mit Markus Kühne verheiratet, was nicht heisst, dass ich eine Schönheit bin, aber er ist zumindest nicht erschrocken.

Nicht nur die Produzenten, auch die Plattenfirmen hatten damals viel mehr Macht als heute.

So war es. Ich habe kürzlich ein Interview mit Drafi Deutscher gelesen, das er um die Jahrtausendwende gegeben hat. Darin erzählte er, dass in seinen Anfängen die Marketingabteilung der Plattenfirma alles entschieden habe. Sie hätten ihm vorgeschrieben, wie er sich zu kleiden habe, welchen Haarschnitt er tragen dürfe und welche Musik er machen müsse. Als die Plattenfirma seinen Song „Mama Leone“ zum ersten Mal hörte, sagte man ihm: „Was ist denn das für ein Scheiss! Wir wollen, dass alles so tönt wie Boney M.“ Er hat später dann mit diesem Lied einen Hit gelandet, einfach bei einer anderen Plattenfirma. Was erfolgreich war, musste man kopieren. Das war bei mir zu Beginn ähnlich. Mundart-Musik boomte und die Plattenfirma wollte, dass ich Mundartsongs singe. Ich hatte zwar meine ersten eigenen Lieder bereits in Mundart geschrieben und wollte ebenfalls unbedingt Mundart-Lieder singen. Hätte ich in englischer Sprache gesungen, hätten sie aber möglicherweise versucht, mich umzustimmen. Doch ich bin meiner Plattenfirma seit 25 Jahren treu und umgekehrt, weil immer eine gegenseitige Wertschätzung herrschte. Obwohl wir manchmal auch stürmische Zeiten hatten. Aber am Schluss wollten trotzdem beide die Zusammenarbeit immer wieder fortsetzen.

Welches waren die stürmischsten Zeiten?

Es gab zu Beginn einen sehr stürmischen Moment, als die Plattenfirma versuchte, auf meine Songs Einfluss zu nehmen. Ich hatte den Song „Damuwahl“ über eine lesbische Liebe geschrieben. Da bekamen die Produzenten ein Telefon von der Plattenfirma, die sagte, das Image der Sängerin sei dahin, wenn der Song erscheine. Sie müssten mit allen Mitteln versuchen, zu verhindern, dass der Song veröffentlicht werde. Das ganze Produzententeam schrieb dann einen Brief, den ich immer noch zuhause habe. Darin stand, dass sie es toll finden, wenn eine Künstlerin Haltung zeigt und dieses Thema aufnimmt und dass der Song definitiv auf die CD kommt. Der Tonmeister Eric Merz fasste es kürzlich gut zusammen: Sie hätten mich penetrant beraten. Aber immer in meinem Sinn. Ich hatte überall Mitspracherecht und habe nie einen Song gesungen, den ich nicht singen wollte. Ich habe schon für das erste Album einige eigene Songs geschrieben. Relativ schnell war klar, dass, wenn ich mich entwickeln soll, ich von der Interpretin zur Künstlerin wachsen muss. Und sie haben mir alle Möglichkeiten offen gelassen, dass das auch passieren darf.

Ich möchte das Interview gerne mit einem wunderbaren Zitat von Polo Hofer beenden, der einmal sagte: „Nur wer den Zeitgeist heiratet, ist früh verwitwet“.

Das ist wieder typisch Polo – und so schön.

Ich denke, gerade weil du in deiner Karriere nie dem Zeitgeist hinterher gerannt bist oder ihn gar geheiratet hast, bist du nach 25 Jahren immer noch erfolgreich und deine Alben sind gut gealtert, was man lange nicht von allen Künstlern und Künstlerinnen behaupten kann.

Es tönt jetzt vielleicht ein bisschen platt, aber es ist genau das, was ich auch jungen Künstlern immer ans Herz lege: Sich selber zu sein. Das ist einerseits unglaublich schwierig, weil du natürlich mit ganz vielen anderen Leuten arbeitest und auch auf deren Meinung und deren Goodwill angewiesen bist. Und auf eine Art und Weise bist du immer etwas dem Zeitgeist unterworfen, weil du dich ja auch inspirieren lässt von Dingen, die gerade jetzt passieren. Aber andererseits musst du dir bewusst sein, was du kannst und was dir am Herzen liegt. Dafür braucht es Talent, eine gewisse Hartnäckigkeit, Erfahrung, aber auch viel Glück. Das Team, mit dem man zusammenarbeitet, ist unglaublich wichtig: Ich habe immer mit Leuten gearbeitet, die ich sehr mag und denen ich vertraue. Das gibt einem eine unglaubliche Stärke. Daher ist mein Erfolg auch den Leuten um mich herum zuzuschreiben. Meine Managerin Benita, mit der ich seit 25 Jahren zusammenarbeite, weiss genau, wie ich ticke und ich kann mich total zurücklehnen. Bei meiner Plattenfirma ebenfalls, auch wenn es vielleicht mal Reibungen gibt, aber ich weiss immer, die wollen das mit mir durchziehen. Sie haben mir jetzt gerade wieder ein total herziges Mail geschrieben, wie toll sie diese neue CD finden. Das gibt einem ein unglaublich gutes Gefühl. Ich bin ein totaler Team-Mensch. Wenn man mir Abgebrühtheit und Kälte entgegenbringt, dann kann ich nicht blühen. Aber mit den Leuten, die ich als mein Team bezeichne, schon. Und dafür bin ich sehr dankbar.

Aktuelles Album:

„Emma“ (Musikvertrieb)

Zum 25-jährigen Jubiläum von Sina gibt es auch eine auf 250 Stück limitierte Box, die eine Doppel-Vinyl „Ds Beschta“ mit 21 Songs, eine Downloadcard für diese Songs, ein Konzert-Tagesticket fürs Sina-Konzert am Open-Air Gampel am 18. August 2019 sowie eine CD des Albums „Emma“ enthält:
https://www.sina.ch/jubilaeumsbox-sina-bestellen/

Live:

10.05.2019  Casinotheater, Burgdorf (ausverkauft)
11.05.2019  Moods, Zürich (ausverkauft)
17.05.2019  Kammgarn, Schaffhausen
18.05.2019  Mühle Hunziken, Rubigen (ausverkauft)
25.05.2019  Eintracht, Kirchberg (ausverkauft)
29.05.2019  Schüür, Luzern
29.06.2019  Neerifäscht, Neerach
05.07.2019  Vogellisi, Adelboden
06.07.2019  Strassenfestival, Amriswil
07.08.2019  Magic Night, Heitere Zofingen
09.08.2019  Musikfest, Einsiedeln
16.08.2019  Im Fluss, Basel
18.08.2019  Open-Air Gampel, Gampel
06.09.2019  Schlieren Fäscht
07.09.2019  Wandertag, Bad Ragaz
13.09.2019  Musicdays, Stäfa
05.10.2019  Mundartfestival, Arosa
18.10.2019  Forum, Seon 
19.10.2019  Kupferschmiede, Langnau         
02.11.2019  Musikfesttage, Wallisellen          
06.11.2019  Cubus, Birrhard
09.11.2019  KUFA, Lyss
15.11.2019  OldCapitol, Langenthal
22.11.2019  Kellertheater, Brig (ausverkauft)
23.11.2019  Kellertheater, Brig (ausverkauft)
29.11.2019  Guggenheim, Liestal
14.12.2019  Zauberwald, Lenzerheide
21.12.2019  Mühle Hunziken, Rubigen

https://www.sina.ch/konzerte/





Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert