Geschichten und Mythen als kulturelles Gedächtnis
Schriftloses Wissen
Geschichten faszinieren. Sie unterhalten und belehren uns, dienen zur Entspannung oder Belustigung. Doch sie können noch viel mehr sein als das. Denn die Rolle von mündlichen Überlieferungen als Träger des kulturellen Erbes ist uns, die wir von der Schrift und dem Aufgeschriebenen geprägt sind, nicht immer bewusst.

Foto von John Schnobrich (Unsplash)
Ein Dasein ohne Aufgeschriebenes können wir uns heute kaum noch vorstellen. Wissen wir gewisse Fakten nicht, so schlagen wir, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Buch auf oder suchen unsere Antworten im Internet. Wir sind so stark auf die Schrift geprägt, dass wir uns ein Leben ohne Schriftlichkeit nicht einmal denken können.
Dennoch gibt es sie: Kulturen ohne Schrift, die auf mündliche Erzählungen angewiesen sind, um ihr kulturelles Wissen zu speichern. Die sogenannten oralen Kulturen, welche die Schrift als Speichermedium ihres Wissens nicht kennen, müssen sich anderweitig erinnern und ihre kulturelle Identität bilden können.
Von einer Generation zur Nächsten
Kulturen zeichnen sich unter anderem aus durch bestimmte Objekte, Traditionen, Praktiken und ein kulturspezifisches Wissen. Diese materiellen und immateriellen Kulturgüter bilden zusammen das kulturelle Erbe. Dieses wird von Generation zu Generation weitergegeben. Dabei lassen sich gemäss Jack Goody und Ian Watt (siehe Literaturhinweis) drei Elemente unterscheiden.
Erstens wird das materielle Erbe weitergegeben, beispielsweise bestimmte Bauten, Trophäen, Werkzeuge und anderes.
Zweitens werden wichtige und allgemeine Handlungsmuster überliefert – teilweise durch sprachliche Übermittlung, grösstenteils aber auch durch ‘learning by doing’. So kann zum Beispiel die Art und Weise wie Nahrung zubereitet wird oder Kinder erzogen werden direkt durch Nachahmung überliefert werden.
Das dritte Element des kulturellen Erbes wird jedoch stets sprachlich vermittelt und betrifft das allgemeine Weltverständnis der jeweiligen Menschen. Dazu gehören mitunter Vorstellungen von Raum und Zeit, die kulturelle Identifikation oder die moralischen Grundsätze einer Gesellschaft.
Wissen weitergeben ohne Schrift
Dieses dritte Element wird in oralen Kulturen unter anderem mittels Geschichten und Mythen weitergegeben und immer wieder der Gegenwart angepasst. Dabei haben diese Geschichten die soziale Funktion sowohl des Gedächtnisses als auch des Vergessens in einer Gesellschaft.
Am Beispiel des Gründungsmythos des Reiches der Gonja, einem Stammesvolk in Nordghana, lässt sich zeigen, welche Bedeutung Geschichten und Mythen für Kulturen ohne schriftliche Aufzeichnungen haben:
Das Reich der Gonja in Nordghana ist in eine Anzahl von Bezirken unterteilt, die unter der Herrschaft eines Häuptlings stehen. Einige dieser Bezirke stellten abwechselnd den Herrscher über die gesamte Nation. Wenn die Gonja ihr System erklären, erzählen sie, wie Ndewura Japka, der Gründer des Reiches auf der Suche nach Gold von der grossen Biegung des Nigers herabkam, die Bewohner des Gebietes besiegte, sich selbst als Oberhaupt des Staates und seine Söhne als Herrscher der einzelnen Bezirke einsetzte. Nach seinem Tode wechselten sich die Bezirkshäuptlinge in der Oberherrschaft ab. Als diese Geschichte um die Jahrhundertwende zum erstenmal [sic] aufgezeichnet wurde – zu dieser Zeit weiteten die Briten ihre Herrschaft auf dieses Gebiet aus – hiess es, Japka habe sieben Söhne gezeugt, eine Zahl, die der Anzahl der Bezirke entsprach, deren Häuptlinge aufgrund ihrer Abstammung vom Gründer des Reiches für das höchste Amt, die Oberherrschaft über alle Bezirke, in Frage kamen. Doch zu der Zeit, als die Briten in dieses Gebiet kamen, wurden zwei der sieben Bezirke aufgelöst. […] Sechzig Jahre später wurde der Mythos der Reichsgründung erneut aufgezeichnet: Japka wurden jetzt nur noch fünf Söhne zugesprochen; die beiden, welche die zwei inzwischen aus der politischen Landschaft verschwundenen Bezirke begründet hatten, wurden überhaupt nicht mehr erwähnt.
Goody und Watt, S. 53f.
Die Vorstellung darüber wie das Reich gegründet wurde und die Identifikation der Menschen mit ihrer Herkunft wird alleine durch diese mündlich überlieferte Geschichte aufrechterhalten. Die Geschichte beziehungsweise der Gründungsmythos wirkt in diesem Sinne als Teil des kulturellen Gedächtnisses. Durch die Überlieferung wird Wissen über die Herkunft des Reiches und der Kultur der Gonja weitergegeben.
Die Geschichte klärt auf über die Identifikation der Menschen des Stammes mit ihrer Herkunft und ihrem Land. Ob die Erzählung (in unserem von der Schrift geprägten) Verständnis historisch korrekt ist, lässt sich nicht sagen. Denn aufgezeichnet wurde sie erst von Aussenstehenden. Dem Stamm an sich reicht es, die Geschichte weiter zu erzählen und sie gelegentlich anzupassen, wenn sie nicht mehr zu ihrer momentanen Lebensrealität passt.

Geschichten, Bilder und Szenen
Orale Kulturen kennen keine Schrift und somit auch keine Historiographie wie wir sie kennen. Sie funktionieren dementsprechend auf eine komplett unterschiedliche Art als Schriftkulturen. Dieses unterschiedliche Bewusstsein von verschiedenen Kulturen zeigt sich in den Überlegungen des tschechischen Medienphilosophen und Kommunikationstheoretikers Vilém Flusser (1920 – 1991). Er beschreibt, wie das Vorhanden- oder Nicht-Vorhanden-Sein der Schrift in einer Gesellschaft deren Bewusstsein und Denken fundamental prägt.
Während literale Kulturen in historischen Ereignissen und damit linear denken, zeichnet sich orale Kulturen durch ihr szenisches Denken, so ein Begriff Flussers, aus. Das heisst, dass Kulturen ohne Schrift sich und auch ihre Herkunft stets über ihre Gegenwart definieren. Sie nehmen ihre Welt in Szenen war, welche sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart in sich tragen. Ihr Denken ist im Gegensatz zu unserem nicht von einem historisch-linearen Geschichtsverständnis durchdrungen. Sie erzählen Geschichten oder fertigen Bilder und Gegenstände an, womit sie sich ihr jetziges, gegenwärtiges Dasein erklären und ihre Identität bilden.
Diese Geschichten können wie im Gonja-Beispiel ersichtlich wurde immer wieder angepasst werden. Die mündlichen Überlieferungen und materiellen Gegenstände sind Träger ihres kulturellen Erbes und damit ihr kulturelles Gedächtnis. Kulturen ohne Schrift sind dabei aber nicht weniger fortschrittlich zu werten als literale Kulturen, wie man aus unserer Perspektive als Fortschritts-Gesellschaft eventuell denken könnte. Vielmehr funktionieren sie einfach von Grund auf anders.

Literatur zum Thema
Vilém Flusser: Kommunikologie. Fischer Taschenbuchverlag (1998).
Der tschechische Medienphilosoph und Kommunikationstheoretiker Vilém Flusser (1920 – 1991) untersucht in diesem Buch den Vorgang und die Implikationen menschlicher Kommunikation. Die Lehre dieser Kommunikation nennt er Kommunikologie. Menschliche Kommunikation ist nach Flusser ein kultureller Vorgang, der sich auf bestimmte Codes (z.B. die Schrift, Höhlenmalereien, Fotografien) gründet.
Jack Goody und Ian Watt: «Konsequenzen der Literalität» in Literalität in traditionalen Gesellschaften (Jack Goody Hrsg.). Suhrkamp Verlag (1981).
Jack Goody (1919 – 2015, britischer Medientheoretiker, Ethnologe und Anthropologe) und Ian Watt (1917 – 1999, britischer Literaturkritiker und Literaturhistoriker) diskutieren in ihrem Essay, welcher Teil eines Sammelbandes ist, die Auswirkungen von Schrift und Aufgeschriebenem auf Gesellschaften. Dabei verhandeln sie die unterschiedliche Art und Weise der Wissensweitergabe in oralen und literalen Gesellschaften und die Veränderung des Bewusstseins durch die Schrift.
Im Netz
Orale Kommunikation und orales Denken. Ein Überblick darüber wie Mnemotechniken das Erinnern in kulturellen Vorgängen bestimmen und unterstützen.
Was bedeutet kulturelles Erbe überhaupt? Ein Überblick über das Kulturerbe und wie dieses (materiell und immateriell) in der Schweiz geschützt wird findet sich beim Bundesamt für Kultur.
Was ist das kulturelle Gedächtnis? Eine Erklärung an fünf Schlüsselbegriffen. (Artikel der Zeitung Die Welt).