Interview mit Balbina
„Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“

Balbina ist bereits seit einigen Jahren die spannendste Pop-Musikerin und Textdichterin Deutschlands. Aufgrund ihrer aufwendigen, extravaganten Outfits, sowohl in ihren Videos als auch in ihren Bühnenperformances, und weil sie sich weder optisch noch musikalisch in Schubladen stecken lässt, wird die Berlinerin mit polnischen Wurzeln oft mit Björk verglichen. Mit ihrem vierten Album „Punkt.“ setzt Balbina nun selbigen hinter einen Lebensabschnitt und signalisiert gleichzeitig einen Neubeginn: Näherte sie sich auf ihren früheren Alben in verspielten Texten mit Hilfe von Alltagsgegenständen den Grundfragen des Seins an, sind die Texte des neuen Werks – erstmals teilweise in englischer Sprache – direkter, die Beats sperriger. Und das Album, das ein Cover von Rammsteins „Sonne“ enthält, ein Lied, das Balbina durch schwere Zeiten trug, erscheint auf dem eigenen Label Polkadot. Im Interview mit Nahaufnahmen.ch erklärt Balbina, wieso sie sich in der Major-Musiklabel-Industrie deplatziert fühlte, warum sie ihre Lieder niemals fürs Radio kürzen würde, inwiefern ihre emotionale Verzweiflung und ihre Wut Einfluss auf die Texte des neuen Albums hatten und weshalb Herbert Grönemeyer sie zu Tränen rührte.
Von Christoph Aebi
Balbina, du hast dein neues Album „Punkt.“ genannt. Wenn man einen Punkt setzt, beendet man etwas. Gleichzeitig kann ein Punkt aber auch der Anfang von etwas Neuem sein. Was symbolisiert für dich der Punkt?
Er ist für mich ein ganz starkes Symbol, nicht nur für das Beenden von Sätzen, Abschnitten und Kapiteln, hinter welche man einen Punkt setzt und damit sagt, dass nun etwas vorbei ist. Ein Punkt signalisiert im gleichen Atemzug ein Neubeginn, weil alles, was nach dem Ende geschieht, etwas ist, das frisch ist, mit der Vergangenheit abgeschlossen hat und sich in viele Richtungen neu entwickeln kann. Deswegen ist der Punkt für mich essenziell für die Beschreibung von Leben im Allgemeinen. Wenn man das auf einer Metaebene betrachtet, ist der Punkt der Ursprung von allem, sozusagen der Urknall. All das, was wir heute sind und was wir um uns herum sehen, hat seinen Ursprung in einem kleinen Punkt, der in alle Richtungen gestrahlt hat. Deshalb kannst du, wenn du heutzutage über die Strasse läufst und deine Sohlen den Asphalt berühren, vielleicht auch ein bisschen darüber sinnieren, dass all dies aus Punkten besteht, nämlich aus ganz kleinen Atomen, die sich in verschiedenster Art und Weise zusammensetzen. Genau wie die Moleküle, die deinen Körper bestimmen. Somit ist für mich der Punkt als Superlativ-Metapher für das Leben essenziell. Und eben auch für einen künstlerischen Prozess, der irgendwann einmal seinen Anfang hatte und irgendwann wieder sein Ende findet.
Ein Ende gefunden hat auch die Geschäftsbeziehung zu deiner alten Plattenfirma. Du verarbeitest dieses Ende im Titellied „Punkt.“, in dem es heisst „I need to make my point / lass mich gehn, ich / ich brauch das Ende endlich / this is a life sentence“. Hat sich der Vertrag mit deiner alten Plattenfirma für dich wie eine lebenslange Haftstrafe angefühlt?
Jede Zeile, die ich in diesem Lied geschrieben habe und jede erste klare Deutung ist auf jeden Fall ein Rückschluss auf meine emotionale Wahrnehmung dieser Zusammenarbeit. Das Lied ist ein Weg für mich, dieses Kapitel zu beenden und emotional aufzuarbeiten, wie ich mich gefühlt habe als Künstler in der Major-Musiklabel-Industrie, nämlich deplatziert. Es mag viele Gründe geben, weshalb das so war. Aber die wichtigste Schlussfolgerung ist die, dass ich mich in einer Situation befunden habe, die nicht gut für mich war. Ich brauchte Mut, diese Situation zu beenden, weil ich nicht wusste, was es bedeutet, wenn ich einen Punkt setze und diese Geschäftsbeziehung aufgebe und wie die Zukunft dann für mich aussehen wird. Durch den Mut, diesen Punkt zu setzen, mich damit emotional und auch im Leben herauszufordern, habe ich erst wirklich begriffen, dass ich mit einem eigenen Label die richtige Richtung gewählt habe. Ich konnte mich zwar auch bei meiner alten Plattenfirma künstlerisch verwirklichen. Aber der ganze Prozess, der damit verbunden war, sich ewig erklären, argumentieren und für alles erst einmal kämpfen zu müssen, der ist nun komplett weggefallen. Ich entscheide etwas und kann dies gleich umsetzen, ohne mich in vielen Kommunikationsschleifen dafür zu rechtfertigen, weshalb und warum ich so und nicht anders bin.
Ich habe gelesen, dass du Kunst so verstehst: Wichtig sei nicht, dass sie einfach zu konsumieren sei – im Gegenteil, sie solle berühren, wehtun, heilen und manchmal auch vor den Kopf stossen. Sah das deine frühere Plattenfirma anders?
Ich glaube, es geht nicht einmal um die Plattenfirma an und für sich, sondern um die Major-Musiklabel-Industrie. Diese ist nur darauf ausgelegt, die aktuelle Massen-Nachfrage zu befriedigen. Wenn jene eher Musik fordert, die vielleicht eben gerade nicht fordernd ist, dann wird es problematisch für dich, wenn du in der Major-Industrie stattfindest. Das ist die Krux an der Geschichte: Ich glaube nicht, dass diese Industrie persönlich ein Problem damit hat, wie du dich künstlerisch ausdrückst. Sie weiss nur nicht, was sie damit machen und wie sie das verkaufen soll. Und richtet sich dann lieber nach der Massen-Nachfrage, statt eigeninitiativ etwas zu etablieren und ein Risiko einzugehen.
Auf deinem letzten Album „Fragen über Fragen“ hast du im Lied „Unterm Strich“ gesungen: „Das Radio will, dass ich meine Lieder kürze, dann kürze ich lieber mich“.
(Lacht) Ja, dazu stehe ich immer noch. Wozu sollte ich denn meine Lieder kürzen? Ich mache ja deswegen Musik, weil Musik meine Leidenschaft ist und mir das Schreiben und der Prozess des Aufnehmens im Studio Freude machen. Und in dem Augenblick, wo ich meine Leidenschaft sozusagen beschneiden oder ich mich in ein Raster zwingen müsste, wär’s nicht mehr meine Leidenschaft. Deswegen, ganz ehrlich: Bevor ich meine Lieder fürs Radio kürze, kürze ich lieber mich.
Wie kam es dazu, dass du auf „Punkt.“ in vier Songs nun erstmals Textzeilen in englischer Sprache singst?
Das hat sich über den Song „Blue Note.“ ergeben, weil ich fand, dass es in der deutschen Sprache keinen äquivalenten Ausdruck für „blue“ gibt. Dieser Begriff definiert im Englischen nicht nur die Farbe, sondern wird auch für eine Art von romantischer Melancholie verwendet. Wenn man sagt „I’m blue“ heisst das soviel wie: „Ich bin traurig, aber nicht auf eine depressive und dramatische Weise, sondern auf eine leichte melancholische Art.“ Ich habe den Song über genau diese Situation geschrieben und meine Hookline mit diesen englischen Worten skizziert. Ich hätte mich an dem Punkt zwar entscheiden können, die Textzeilen in meine Sprache umzuformulieren, weil ich ja eigentlich deutsche Musik mache und viel besser deutsch spreche. Aber erstens merkte ich, dass diese Worte so gut passen und klingen, dass ich sie auf Deutsch gar nicht anders hätte ausdrücken können. Und zweitens dachte ich mir: „Wozu soll ich mich selbst limitieren? Es gibt überhaupt keine Regeln, für das, was ich da tue. Ich kann die Regeln doch selber bestimmen.“ Und deshalb habe ich die Zeilen in englischer Sprache gesungen, weil es in dem Augenblick gepasst hat wie die Faust aufs Auge.
Ein weiteres Lied trägt den Titel „Wanderlust.“. Dies ist ein Germanismus, der ins Englische übernommen wurde und dort ebenfalls verwendet wird. Es gibt beispielsweise ein Lied von R.E.M., das auch „Wanderlust“ heisst.
Ja, und von James Bay gibt es ebenfalls ein Lied mit diesem Titel. Ich musste lächeln, als ich das letzthin entdeckt habe. Wanderlust ist ein deutscher Begriff, der sich international durchgesetzt hat. Ich finde den Begriff unglaublich schön, weil er für mich eine Neugier und eine Liebe für die Fremde symbolisiert. In der Zeit, in der wir gerade leben, gibt es so viel Angst vor der Fremde, viele Missverständnisse und viel Hass, der sich daraus entwickelt. Der Begriff Wanderlust steht für mich konträr dazu. Ich wollte unbedingt mit diesem Begriff arbeiten, weil er für mich persönlich in dieser Zeit so wichtig ist.
Es gibt in „Wanderlust.“ („Ich gehe weg / weg von hier / in eine Welt / weit weg von mir“) wie auch in „Hinter der Welt.“ („Your home is not your home / Your home is in your mind / Close your eyes / and you will find“) und „Weit weg.“ („Ich, ich bin jetzt ganz woanders / Ich bin jetzt jemand anders / Ich bin ganz weit weg / weg, weg, weg von der / die ich kenn“) dieses verbindende Thema, das auch in früheren Songs von dir, zum Beispiel in „Das Milchglas“ oder „Der Scheitel“, immer wieder vorkommt, nämlich jenes der Flucht aus der Realität. Wieso interessiert dich diese Thematik so sehr?
Weil ich glaube, dass man sich manchmal gedanklich von der Realität distanzieren und versuchen muss, mental an andere Orte zu reisen, um zu merken, was man eigentlich an der Realität hat. Man nimmt oft das Jetzt gar nicht wahr, weil alles so unfassbar überladen ist mit Arbeit, mit all den technischen Geräten, die man hat und mit der ganzen Nonstop-Kommunikation. Und so kommt es, dass man manchmal, obwohl man da ist, gar nicht wirklich existiert. In dem Augenblick, wo ich die Augen schliesse und mir die Erde, auf der wir leben, in einer perfekten Wunschvorstellung visualisiere und mich an einen anderen Ort hindenke, in eine Welt, die ich so noch nicht kenne, reise ich und kriege eine unglaubliche Ruhe. Wenn ich die Augen wieder öffne, nehme ich die Welt mit ganz anderen Augen wahr. Das ist so meine kleine tägliche Flucht, die mir ein Handwerkszeug ist, um mich wieder im Jetzt zu verankern.
Im Song „Weit weg“ fliehst du in die „Welt der vergessenen Dinge“. Was meinst du damit genau?
Ich spiele da mit zwei Metaphern. Zum einen geht es darum, dass ich manchmal einfach gerne einen Schalter in meinem Kopf umlegen und viele Dinge, die einen zerreissen, mal ausblenden und vergessen würde. Stattdessen würde ich gerne in eine Welt eindringen, in der es kein Handyklingeln und keine Deadlines gibt. Von dieser Welt spricht auch die Rapperin Ebow in ihrem Part des Songs: „Hier erscheint kein Hotline-Bling / chill an einem Ort, wo ich den Kopf frei krieg“. Es ist ein Rausgehen aus der Erinnerung an all diese Dinge, die so zu pressieren scheinen. Das ist die eine Ebene der „Welt der vergessenen Dinge“. Die andere Ebene handelt von Vergangenem, das einen manchmal traurig werden lässt oder einen an Dinge erinnert, die vielleicht nicht so schön waren und einen doch einen Leben lang begleiten, und dass man manchmal gerne einen Urlaub davon hätte. Nicht für immer, aber für eine gewisse Zeit. In einer Welt der vergessenen Dinge, in der diese Gedanken einfach nicht stattfinden.
Du hast Ebow, die deutsche Rapperin kurdischer Herkunft, angesprochen, die auf deinem Song ein Feature hat. Was fasziniert dich an ihr und ihrer Musik?
Ebow ist eine wahnsinnig charismatische und selbstbewusste Künstlerin und macht tolle Musik, die ich gerne höre. Sie hat eine tolle Stimme und ich finde ihre Texte sehr interessant. Mich interessiert ihre Realität, ihre Wahrnehmung und ich finde, sie hat den Heimatbegriff neu definiert, indem sie gesagt hat: „Meine Community ist das, was mich umgibt. Ich bin vielleicht häufig aus bestimmten Dingen ausgeschlossen gewesen, weil ich nicht die richtige geographische Zugehörigkeit hatte, aber ich gehöre dazu. Und zwar zu den Menschen, die ich mir selber aussuche und die ich mag.“ Das fand ich toll als Statement, das beweist Haltung und ich finde es wichtig für die kulturelle Entwicklung unserer Musiklandschaft, dass solche Aussagen getätigt werden.
Zum ersten Mal gibt es auf einem deiner Alben ein Cover, „Sonne.“ von Rammstein. Bei der Präsentation des neuen Albums sagtest du, dass du durch die Songzeilen dieses Liedes zu dir selbst gefunden hast. Kannst du diese Selbstfindung noch etwas genauer ausführen?
Der Song beschreibt die Entwicklung aus einer Dunkelheit in die Aufhellung, in die völlige Überbelichtung. Metaphorisch ist das für mich persönlich als Entwicklung zu sehen von der Unterdrückung einer Depression über Hürden und harte Zeiten hin zu einer Lichtung, in der man plötzlich alles sieht und in dem sich alles gelohnt hat. Ich hätte diesen Song selber so nicht formulieren können. Das Lied hat mich durch schwere Zeiten getragen und mir durch diese klare Metapher und auch durch sein wahnsinnig starkes Riff in Situationen, in denen ich das Gefühl hatte, fremdbestimmt zu sein, so viel Kraft und Motivation verliehen, dass ich mich wieder auf mich selbst besinnen konnte.
Inwiefern fühltest du dich fremdbestimmt?
Ich glaube, das ist ein Gefühl, das man oftmals dann hat, wenn man nicht richtig unterscheiden kann zwischen dringenden und wichtigen Dingen. Wenn du das Problem hast, dass du das Dringende nicht unterteilst in das Wichtige bist du in deinem Leben nur am Hetzen und Hinterherhetzen. Weil du versuchst, alles, was dringend ist, zu erfüllen und zu beantworten. In dem Augenblick bist du aber fremdbestimmt, weil du die ganze Zeit einer Nachfrage hinterherrennst und dich gar nicht darauf besinnst, was eigentlich selbst für dich wichtig ist und was du selbst priorisieren würdest. Mit den Jahren und auch mit dem Älterwerden habe ich gelernt, dass es wichtig ist, achtsam mit sich selbst zu sein. Und sich selbst zu vertrauen, dass, wenn man fühlt, dass etwas nicht gut für einen ist oder man etwas nicht machen möchte, man dann das Selbstbewusstsein hat, zu sagen: „Das mag vielleicht nach aussen dringend wirken, aber es ist nicht wichtig. Und deswegen werde ich auch nicht danach handeln.“
Das Lied „Sonne.“ haben Rammstein ursprünglich als Kämpferlied für den Boxer Vitali Klitschko geschrieben. Nun wird deine Version des Liedes auch als Untermalung für die Kampagne eines grossen Sportartikelherstellers über das Leben der jungen Berliner Boxerin Zeina Nassar verwendet. Wie kam es dazu?
Ich arbeite schon seit einigen Jahren mit dem Hersteller zusammen und habe schon viele visuelle Konzepte gemeinsam mit ihm verwirklichen dürfen. In meinen Videos und bei meinen Konzerten trete ich oft in relativ aufwendigen Kostümen auf und mit Schuhen, die ich individuell anpasse. Deshalb war ich mit dem Hersteller immer im Austausch und habe geschaut, wo es Überschneidungen gibt und wo es interessant wäre, gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Und in dem Fall war es so, dass die Geschichte von Zeina Nassar für eine Kampagne verfilmt wurde. Zeina kannte ich bereits aus Funk und Fernsehen und wir sind uns auch schon ein paar Mal an Veranstaltungen begegnet. Ich war immer zutiefst beeindruckt von dieser jungen Frau, sie ist erst 21 Jahre alt, der es verwehrt wurde, an Boxwettkämpfen teilzunehmen, nur weil sie einen Hijab trägt. Es lag nicht daran, dass sie nicht hart genug trainiert und sich nicht für Wettkämpfe qualifiziert hätte, sondern es hiess einfach, dass Frauen nicht mit langen Ärmeln und einer Kopfbedeckung boxen dürfen. Und dann hat die Zeina im Alter von 13 Jahren gesagt: „Das lasse ich nicht gelten. Das einzige, was mich davon abhält, an Wettkämpfen teilzunehmen, ist, dass ich mich nicht dafür qualifiziere. Aber wie ich aussehe, hat hier keinen zu interessieren.“ Und sie ist mit ihrer Trainerin so hart drangeblieben, hat so sehr dafür gekämpft, dass nun die Wettbewerbsbestimmungen geändert wurden, und zwar für sie, sowie für alle anderen Boxerinnen, die zum Beispiel mit Hijab boxen wollen oder mit einem Longsleeve-Shirt statt nur mit einem Hemdchen bekleidet. Ich finde das unglaublich stark, dass sie so selbstbestimmt und emanzipiert ihr Ziel verfolgt hat. Deshalb war das für mich das Tollste, was überhaupt passieren konnte, als ich angefragt wurde, für die Kampagne mit Zeina, die Aufmerksamkeit für gesellschaftlich relevante Werte wie Anti-Diskriminierung, Pro-Inklusion und Pro-Diversität schafft, den Soundtrack beizusteuern.
Das Lied steht auch symptomatisch dafür, wie du auf „Punkt.“ mit Streichern gearbeitet hast. Im Gegensatz zum Vorgängeralbum „Fragen über Fragen“ werden diese hier nicht flächendeckend, sondern sehr gezielt und effektvoll eingesetzt. Zudem sind die Beats sperriger als auf dem letzten Album. In einigen Momenten erinnert es an dein 2011 erschienenes Debut-Album „Bina“, das du damals als „extraterrestrischen Abenteuerelektroalternativpop“ bezeichnet hast. War dies eine bewusste Entscheidung oder hat sich das während der Arbeit am Album einfach so ergeben?
Nein, ich hatte keine konkrete Zielsetzung. Der Sound ist einfach so entstanden aus den Hörgewohnheiten, die ich während den Monaten hatte, als ich dieses Album produziert habe. Es ist einfach so passiert.
Auf den letzten beiden Alben „Über das Grübeln“ und „Fragen über Fragen“ waren deine Texte sehr verspielt. Du hast dich dort in Liedern wie „Ohropax“, „Seife“, „Blumentopf“, „Goldfisch“, „Tisch“ oder „Das Milchglas“ mit Hilfe von Alltagsgegenständen den Grundfragen des Seins angenähert. Die Texte des neuen Albums sind dagegen sehr viel direkter.
Auch dahinter steht kein Konzept, sondern es ist eine rein menschliche Weiterentwicklung. Es ist immer schwierig, sich selbst einzuschätzen. Oft kann man das erst nach ein paar Jahren, wenn man retrospektiv sieht, was man gemacht hat. Aber die direkteren Texte rühren vielleicht daher, dass ich aus einer emotionalen Verzweiflung und auch aus einer gewissen Wut dieses Album sozusagen aus mir herausgestossen habe. Und dass es diese Emotionalität ist, welche die Texte schroffer und direkter wirken lässt. Man kann es mit Alltagssituationen vergleichen: Du kannst dich auf einem bestimmten Niveau in einem Kaffeehaus zwei Stunden lang hochdetailliert mit jemandem über ein Thema unterhalten oder du kannst in einer hitzigen Diskussion auf einem Panel starke Punchlines, wie man im Rap sagt, herausstossen. Das ist beides meiner Meinung nach sehr interessant. Der unterschiedliche Charakter ergibt sich halt je nach aktueller emotionaler Lage.
Auf deinem neuen Album ist im Lied „Machen.“ Herbert Grönemeyer zu hören, den du 2015 auf seiner Tournee als Supporting Act begleiten durftest. Zum ersten Mal hast du ihn 2014 nach deinem Konzert am Reeperbahn-Festival in Hamburg getroffen. Bei diesem Gespräch soll er einen Satz gesagt haben, der, so habe ich gelesen, sich bei dir sehr eingebrannt hat: „Es ist okay, anders zu sein“. Wieso haben dir diese Worte so viel bedeutet?
Für mich war das wichtig, einen solchen Satz von jemandem wie Herbert Grönemeyer zu hören, weil man als Künstler, der noch nicht so lange in der Musikindustrie unterwegs ist, manchmal Unsicherheiten hat. Und wenn man jemand wie ich ist, der mit seiner Musik sehr polarisiert, hinterfragt man sich auch manchmal. Wenn so jemand wie Herbert einen darin bestärkt, dass es ok ist, gegen den Strom zu schwimmen, ist das wahnsinnig toll. Nur tote Fische schwimmen nämlich mit dem Strom.
Als du 2018 den Deutschen Musikautorenpreis der GEMA als beste Texterin erhalten hast, hat Herbert Grönemeyer auch die Laudatio auf dich gehalten.
Das war ein wundervoller Augenblick, einfach unglaublich. Ich hätte nie damit gerechnet, dass ein so wahnsinnig toller Künstler und Poet für mich eine Laudatio hält. Ich war sehr gerührt und weiss noch, dass ich Tränen in den Augen hatte. Nicht weil ich diesen Preis gewonnen habe, sondern weil Herbert die Laudatio gehalten hat.
Deine Texte haben für dich eine besondere Bedeutung. Du hast einmal gesagt: „Die Worte sind immer am Wichtigsten. Mit denen bin ich quasi verheiratet und die Musik ist ein sehr enger, guter Freund.“ Beim letzten Album hast du im Titelsong „Fragen über Fragen“ unter anderem die Frage gestellt: „Warum leben Texte länger als Texter?“. Mit welchem Text möchtest du den Menschen ganz besonders in Erinnerung bleiben?
Ich glaube, ich habe in „Kein Ende.“ auf dem neuen Album am Treffendsten formuliert, was für mein Leben am Relevantesten war: „Wir sind so selten / im Jetzt. / Sind nie im Ist. / Wir kriegen uns nicht mit. / Wann spüre ich mich? / Sag mir, wann / spüre ich mich?“ Das bedeutet für mich: Versuche, die Realität wahrzunehmen und nicht immer in der Vergangenheit oder der Zukunft zu leben.
Aktuelles Album:
„Punkt.“ (Polkadot / BMG Rights Management GmbH), als CD (eingebettet in ein 148-seitiges Buch mit Bildern, Lyrics, Gedichten und weiteren ergänzenden Texten) sowie als Vinyl-LP erhältlich.
Live:
23. April 2022 Berlin, Admiralspalast
(mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg)
Offizielle Homepage: