Im Dschungel der Ernährungstipps
Darum sind Ernährungsempfehlungen so oft gegensätzlich
Ein langes und gesundes Leben zu führen, wünscht sich so gut wie jeder Mensch. Eine gesunde Ernährung leistet dabei einen entscheidenden Beitrag. Doch wer sich mit diesem Thema beschäftigt, findet oft sehr unterschiedliche Ernährungsempfehlungen. Was man davon glauben kann und was nicht, ist schwierig einzuschätzen.

Fett sollte man nur wenig konsumieren. Fett in der Nahrung ist nicht gefährlich für die Gesundheit. Milch ist für den Calciumbedarf notwendig. Man braucht keine Milch, um seinen Calciumbedarf zu decken.
Gegensätzlichen Ernährungsempfehlungen konfrontieren und verwirren uns regelmässig. Vielen Ernährungsstudien kann man dabei leider nicht vertrauen. Aber auch verschiedene Interessengruppen machen uns zum Beispiel via das Internet zweifelhafte Empfehlungen.
Verantwortlich für die unterschiedliche Qualität von Ernährungsempfehlungen sind unter anderem:
- Problematische Methodik in der Forschung
- Die Komplexität des Menschen
- Das akademische System
- Offizielle Ernährungsrichtlinien
- Der Einfluss der Wirtschaft
- Die Medien und das Internet
1Ein grundlegendes, grosses Problem ist der methodische Aufbau von Studien. Denn bei vielen handelt es sich um Beobachtungsstudien. Die teilnehmenden Testpersonen werden zu einem oder zu mehreren Zeitpunkten körperlich untersucht. Ihre aktuelle Ernährungsweise wird durch Befragungen festgestellt, zum Beispiel über ihren Speiseplan der letzten sieben Tage oder allgemeine Ernährungsgewohnheiten. Oder die Forschenden beobachten die Teilnehmenden bei ihren Mahlzeiten und protokollieren die konsumierte Nahrung. Ausserdem stehen den Forschenden der Studie Patientendaten wie Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen zur Verfügung.
Korrelation und Kausalität
Die Ergebnisse solcher Studien sind Korrelationen, das heisst quantitative Zusammenhänge, zwischen Lebensweisen – wie dem Konsum von bestimmten Lebensmitteln – und der Gesundheit. Mit Beobachtungsstudien ist es aber nicht möglich kausale Zusammenhänge, also Ursache-Wirkung-Beziehungen, aufzudecken. Korrelationen können zwar auch Kausalität bedeuten, aber sie können auch zufällig entstanden sein.
Zum Beispiel stellte eine Beobachtungsstudie aus dem Jahr 2013 einen positiven Zusammenhang zwischen Vegetarismus und einer längeren Lebenserwartung fest. Die Studienautoren weisen aber auch darauf hin, dass sich Vegetarier womöglich allgemein ausgewogener ernähren und gesundheitsbewusster leben als Menschen, die Fleisch essen. Daher muss der Fleischverzicht nicht unbedingt die Ursache für ein längeres Leben sein.
Die bekannte Framingham Herzstudie, die 1948 begann, oder die Seven-Countries-Studie, die 1958 startete, sind bekannte Beispiele für umfassende Beobachtungsstudien. Mit diesen fanden die Forschenden unter anderem folgendes heraus: Personen mit hohem Fettkonsum, Übergewicht oder Bluthochdruck haben ein höheres Risiko für eine Herzkreislauf-Erkrankung wie einen Herzinfarkt. Der Zusammenhang dieser sogenannten Risikofaktoren mit Herzkreislauf-Krankheiten ist nicht bestreitbar, doch sie wurden ohne weitere Untersuchungen als Ursache für sie angesehen.

Der goldene Standard der Studien
Um kausale Zusammenhänge aufzudecken, werden sogenannte Interventionsstudien durchgeführt, vor allem randomisierte kontrollierte Studien, bei denen Testpersonen bewusst beeinflusst werden. Bei Lebensmittelstudien ist es meist so, dass sich eine Gruppe von Testpersonen an eine bestimmte Diät hält, während sich eine Kontrollgruppe wie zuvor ernährt. Daher nennt man diese Studien «kontrolliert». Es ist Zufall, welche Gruppe die bestimmte Diät bekommt und welche die Testgruppe ist, daher «randomisiert».
Viele, wenn auch nicht alle, solcher Studien zeigen im Gegensatz zu Beobachtungsstudien keinen Zusammenhang zwischen dem Gesamtfettkonsum und Herzkreislauf-Erkrankungen. Ebenso zeigen viele Metastudien, die eine grosse Anzahl an Studien auswerten, keine Kausalität.
Doch auch randomisierte kontrollierte Studien haben ihre Schwachstellen. Es werden sehr viele Versuchspersonen benötigt und diese repräsentieren nicht unbedingt die gesamte Bevölkerung. Studien, die in unterschiedlichen Ländern durchgeführt werden, sind ausserdem oft nicht 1:1 vergleichbar, da kulturell bedingte Ernährungs- und Lebensweisen oder andere genetische Voraussetzungen einen entscheidenden Einfluss haben können.
2Ausserdem können auch randomisierte kontrollierte Studien nicht die Mechanismen in unserem Körper – im Blut, im Verdauungsapparat oder in bestimmten Organen – identifizieren, die zu den beobachteten Effekten führen. Dafür sind wiederum andere Studien notwendig, die den genauen Vorgängen im Körper auf den Grund gehen.
Der Mensch ist komplex
Ein weiterer Grund für fehlerhafte Empfehlungen ist, dass Lebensmittel und der Mensch zu vereinfacht betrachtet werden. Ein gutes Beispiel ist das Calcium in der Kuhmilch. Die Argumentation ist simpel: Milch enthält viel Calcium, unsere Knochen brauchen Calcium, daher sollte man viele Milchprodukte konsumieren, um Osteoporose vorzubeugen. Inzwischen weiss man, dass die Wahrheit viel komplizierter ist und viele Faktoren bei der Gesundheit der Knochen und bei der Calciumaufnahme eine Rolle spielen.
Damit der Körper Calcium aufnehmen und verwenden kann, sind viele andere Nährstoffe wie Vitamin D, Magnesium oder Vitamin C notwendig. Zudem spielen der Proteinanteil im Essen, die Menge an konsumiertem Salz und die Bewegung eine Rolle für die Aufnahme von Calcium. Ausserdem ist bei Osteoporose die Ernährung nur teilweise verantwortlich. Weitere Risikofaktoren sind niedrige Hormonspiegel von Östrogenen oder Testosteron, andere Erkrankungen, Darmprobleme oder genetische Voraussetzungen.
Auch wurde in vielen der Studien zu den Auswirkungen des Fettkonsums vereinfacht. Die Forschenden massen nur die Menge des Fettes in der Nahrung, die Qualität des Fettes wurde nicht untersucht. Doch diese ist entscheidend, denn ungesättigte Fettsäuren zeigen in vielen Studien gesundheitliche Vorteile gegenüber gesättigten Fettsäuren.
3Das akademische System ist ebenfalls entscheidend bei der Publikation von fehlerhaften Studien. Für viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gilt das Motto «publish or perish», also «publizieren oder untergehen». Sie veröffentlichen eine möglichst grosse Anzahl Fachartikel, um Fördergelder zu erhalten. Dieser Druck führt zu vielen publizierten Studien mit schlechter Qualität. Dabei sind oft statistische Analysen nicht korrekt durchgeführt. Mal passiert das aus Unwissenheit, mal aber auch bewusst, um eine möglichst spektakuläre Schlussfolgerung zu erhalten.
Fehlerhafte Forschende
Das Prinzip des «peer reviewing», also das Überprüfen von Artikeln durch Forschende im selben Gebiet, soll die Qualität von Fachartikeln sicherstellen. Jedoch hat dieses Vorgehen auch seine Tücken. Es finden sich nicht immer geeignete Freiwillige, die sich genug Zeit nehmen, um einen Artikel zu prüfen. Ausserdem sind die Personen, die ein Review durchführen, teilweise voreingenommen gegenüber der Methodik der Studie oder möchten Konkurrenten das Leben schwer machen. Auch Artikel von Frauen werden im Durchschnitt schlechter bewertet. Zudem gibt es einige völlig unseriöse Verlage, die, um Geld zu verdienen, leichtfertig Artikel mit schlechter Qualität oder sogar mit gefälschten Ergebnissen veröffentlichen.
4Staatliche Ernährungsorganisationen sollen unabhängige und vertrauenswürdige Empfehlungen geben. Doch wie beim Fettkonsum wurden zum Beispiel in den 70er und 80er Jahren offizielle Richtlinien veröffentlicht, die einzig auf Beobachtungsstudien beruhten.
Vorschnelle Ernährungsempfehlungen
Inzwischen wurden viele Ernährungsrichtlinien aktualisiert, sodass nun wieder mehr Fett «erlaubt» ist. Trotzdem haftet dem Fett noch immer ein schlechtes Image an. Das zeigt, dass alte Richtlinien beziehungsweise Mythen bestehen bleiben, auch wenn längst viele wissenschaftliche Studien das Gegenteil beweisen. Allgemein dringen neue Forschungsergebnisse oft nur langsam zur breiten Bevölkerung durch. Auch Ärzte sind oft nicht über neuste Studien informiert und geben Empfehlungen, die veraltet sind.
Bei der Milch zeigt die Mehrheit an randomisierten kontrollierten Studien oder Metastudien tatsächlich einen positiven Effekt auf die Knochengesundheit – aber nur für Kinder und Jugendliche. Es ist nicht erwiesen, dass Milchkonsum im Erwachsenenalter vor Osteoporose schützt.
Verschiedene Forschungsarbeiten konnten zudem zeigen, dass es auch mit pflanzlicher Nahrung wie Gemüse, Nüssen oder Hülsenfrüchten möglich ist, den Calciumbedarf zu decken. Trotzdem empfehlen Ernährungsorganisationen wie die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE), dass Calcium vorwiegend mit der Milch aufgenommen werden sollte.

5Milchprodukte seien ein wichtiger Baustein einer gesunden Ernährung, postuliert auch der Verband swissmilk, dem die Schweizer Milchproduzenten angehören. Swissmilk ist eine der wirtschaftlichen Interessengruppen, die Ernährungsempfehlungen zu beeinflussen versuchen. Und damit die ohnehin schwierig zu beurteilende Faktenlage in der Wissenschaft verkomplizieren.
Wirtschaftliche Interessengruppen
Das Gleiche postuliert auch – nicht sehr erstaunlich – der Verband swissmilk, dem die Schweizer Milchproduzenten angehören. Viele Lebensmittelstudien sind ausserdem von der Industrie selber in Auftrag gegeben und bezahlt. Das Problem dabei ist nicht unbedingt, dass Ergebnisse gefälscht werden, auch wenn das in einzelnen Fällen vorkommt.
Problematisch ist, dass im Allgemeinen nur Studien mit positiven Ergebnissen veröffentlicht werden. Studien, die etwas Schlechtes über das entsprechende Lebensmittel zeigen, werden gar nicht publiziert. Somit wird das Gesamtbild der wissenschaftlichen Ergebnisse verzerrt. Für den Konsumenten wird es dadurch nicht einfacher, einzuschätzen, was auf den Teller gehört und was eher nicht.
Ein Beispiel für direkte Einflussnahme von Lobbies ist die amerikanische Ernährungspyramide von 1992. Hier werden Unmengen an Kohlenhydraten und relativ wenig Gemüse und Obst empfohlen – aufgrund der Intervention von Getreideproduzenten. Die Empfehlungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hingegen wurden ignoriert. Daraufhin entwickelte und verkaufte die Lebensmittelindustrie viel mehr fettarme und kohlehydratreiche Produkte.

6Auch wer im Internet nach Informationen über Lebensmittel sucht, zum Beispiel über Fette oder Milch, findet eine riesige Menge an unterschiedlichen Informationen. Prinzipiell ist hier Vorsicht geboten.
Medien und Internet
Zum einen können Schlagzeilen auf fehlerhaften Studien beruhen. Und diese gelangen bereits in die Öffentlichkeit, bevor fundierte Kritik an der jeweiligen Studie geübt werden konnte. Darüber hinaus gibt es aber auch oft Schlagzeilen, vor allem in Boulevardmedien, die möglichst schockierend sein sollen. Die Erkenntnisse der Studie werden dabei nicht korrekt wiedergeben.
Auch bei Internetplattformen, die auf Ernährung und Gesundheit spezialisiert sind, sollte man sehr vorsichtig sein. Manche vertreten eine bestimmte Überzeugung, zum Beispiel sind sie gegen Fleisch, für Milch oder gegen Gentechnik in Lebensmitteln. Solche Plattformen bieten oft nur einseitige Informationen. Wenn sie wissenschaftliche Studien als Quellen angeben, häufig nur eine einzige oder wenige. Und sie wählen Studien mit Ergebnissen, die ihr Weltbild unterstützen. Auch werden schlechte Studien zitiert ohne auf vorhandene Kritik hinzuweisen.
Vertrauenswürdige Empfehlungen
Bei der Menge an gegensätzlichen Ernährungsempfehlungen mag der Eindruck entstehen, dass man keiner wissenschaftlichen Studie mehr glauben kann. Prinzipiell ist es ratsam, nicht jeder Studie, jeder Schlagzeile und jedem ärztlichen Rat blind zu vertrauen und ebenfalls gängige Ernährungsempfehlungen zu hinterfragen. Die meisten Metaanalysen und randomisierte kontrollierte Versuche zeigen hingegen robuste und vertrauenswürdige Ergebnisse.
Dem ist hinzuzufügen, dass die Wissenschaft im komplexen Bereich der Ernährung in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht hat. Schritt für Schritt werden neue Erkenntnisse gewonnen. Mechanismen im Körper werden immer besser verstanden und vorschnell gegebene Empfehlungen von früher werden gründlicher untersucht und wenn nötig korrigiert.
Dank neuer Methoden entwickelt sich die Forschung auch konstant weiter. Aktuelle, spannende Forschungszweige sind etwa geschlechterspezifische und individuelle Auswirkungen der Ernährung sowie die Rolle des Mikrobioms, also der Mikroorganismen im Verdauungssystem.
Quellen und weitere Infos im Netz
Studie über die Lebenserwartung von Vegetariern (Jama Network, 2013)
Seven-Countries-Studie
Artikel aus dem European Heart Journal von 2017
Framingham-Herzstudie
Spiegel-Artikel
Nahaufnahmen-Artikel von 2009
Neue Erkenntnisse über alte Richtlinien (British Medical Journal, 2015)
Zur Geschichte der Ernährungsempfehlungen zu Fett (Journal of Nutrition, 1998)
Publikation über gesättigte und ungesättigte Fettsäuren (Prostaglandins Leukot Essent Fatty Acids, 2018)
Informationen zu Calcium
Osteoporose Selbsthilfegruppen Dachverband e.V. (Deutschland)
Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (pdf)
Swissmilk (pdf)
Genug Calcium für Vegetarier (The American Journal of Clinical Nutrition 2014)
Calcium, Milchprodukte und Osteoporose (Journal of the American College of Nutrition, 2000)
Neue Erkenntnisse zur Rolle vom Milch bei Osteoporose (Advances in Nutrition, 2019)
Über den Einfluss der Lebensmittellobbys auf offizielle Ernährungsrichtlinien in den USA
Food lobbies, the food pyramid, and U.S. nutrition policy (abstract aus International Journal of Health Services, 1993)
Visual Representation of Health Information: A Critique of the 2005 Food Pyramid (American Communication Journal, 2008, pdf)