„Man stelle sich das vor!“

Das neue Buch Stefan Piaseckis nimmt sich des Spiele-Trailblazers Ed Smith an. 

Kellee Santiago, Shigeru Miyamoto oder Warren Spector sind klingende Namen in Spieler*innen-Ohren und gleichzeitig übliche Verdächtige in oberflächigen Aufzählungen der Granden des Spieledesigns. Wir wollen das Jahr 2021 jedoch mit einem anderen Namen beginnen – Ed Smith. Sie haben noch nie von ihm gehört? Dann freuen Sie sich auf unser Interview mit Prof. Dr. Stefan Piasecki.   

Rudolf Inderst (RI): Netflix hatte 2020 eine mehrteilige Computer- und Videospiel-Dokumentation namens High Score im Angebot, die meines Erachtens viele Chancen ausgelassen hat, um einigen grundsätzlichen Phänomenen und Herausforderungen der Spiele-Industrie nachzuspüren. Interessanterweise hatte ich beim Querlesen der Kritiken zu der Show allerdings den Eindruck, dass das Auftauchen des POC-Ingenieurs Jerry Lawsons Mitte der 1970er Jahre im Silicon Valley etwas darstellte, das aufhorchen ließ. Mir scheint es so, als fänden wir hier eine Brücke zu unserem Thema?

Stefan Piasecki (SP): Vermutlich sorgte Jerry Lawson deshalb für Aufmerksamkeit, weil mit ihm, mit seiner Persönlichkeit, plötzlich ein neuer Aspekt in das Thema Gaming hineinkam: Identität und Abstammung. Die öffentliche Aufmerksamkeit war leider jahrzehntelang auf die Gewaltfrage konzentriert. Was ist nicht in den 1980er und 1990er Jahren alles an unsinnigen Betrachtungen produziert worden. Wer aber die Spiele macht, darum hat sich kaum jemand gekümmert. Ich habe von 1993 bis 2003 selber in der Branche als Producer gearbeitet, und ich weiß noch sehr gut, welche technischen und kreativen Meisterleistungen diese digitalen Narrateure oder Storyteller vollbracht haben – ohne wissenschaftliche Rückendeckung, ohne Blaupausen, ohne großartige finanzielle Unterstützung, zumindest in Deutschland (heute kann man sich bei Indieproduktionen orientieren, unter welchen Bedingungen manchmal echte Juwelen erzeugt werden).

Das interessierte aber kaum jemanden. Ich bin mal als Entwickler zu einer Podiumsdiskussion eingeladen worden (ich glaube, es war die Interschul´96) und wurde da von den Pädagoginnen und Pädagogen ungefähr so freundlich, weltoffen und tolerant empfangen, als wäre ich der Vertreter der Pornoindustrie – bevor ich überhaupt nur ein Wort gesagt habe. Die Fokussierung auf Gewalt hat extrem lange alle anderen Facetten der Thematik in den Hintergrund gerückt. Ich wurde 2015 habilitiert mit einer religionspädagogischen Arbeit zu Weltanschauungen im Computer- und Videospiel. Die Habilitationsschrift wurde 1040 Seiten lang. Nicht, weil ich unbedingt meinen Schreibdrang befriedigen wollte, sondern weil ich viele zentrale Themen explorativ selber erarbeiten musste. Es gab keine Grundlagenliteratur zu meinem Thema in der Schnittmenge zwischen Game Studies, Theologie und Sozialwissenschaften, abgesehen von einigen weitsichtigen Aufsätzen im deutschsprachigen Raum. Ich musste ja Pädagogen, Gamern und Theologen gleichzeitig unter die Augen treten damit – und keiner wusste viel von den anderen.

In den USA sah es auch nicht besser aus. Das muss man sich mal vorstellen: Mehr als 40 Jahre nach Pong, nachdem Generationen von Spielenden sich mit mythischen Symbolen und Ritualen in Games die Nächte um die Ohren geschlagen hatten, fragt mal jemand nach Religion. Ich hatte das selber nicht für möglich gehalten, aber plötzlich hing ich drin und musste ja liefern. Zum Glück hatte ich eine Habilmutter, Petra Freudenberger-Lötz aus Kassel, die mich immer wieder inspirierte. Aber zurück zu Jerry. Jerry war, und Ed ist, ein Katalysator, um die kulturelle Bedeutung des Game zu verdeutlichen. Die Spielenden selber denken doch gar nicht darüber nach, welche Hautfarben, Kulturen, Religionen an einem Spiel beteiligt waren oder sind. Wer könnte es ihnen verdenken? Das Spiel beschäftigt sie ja bereits. Die Persönlichkeiten von Jerry und Ed wirken kontrastierend, wenn man sich auf sie einlässt, wobei die Hautfarbe rein äußerliches Merkmal ist.

Ed vereint in sich die gesamte Gegenseite des amerikanischen Traumes, die Gegenwelt von Hollywood. Er hat sich alles selbst erarbeiten müssen und die Chancen und der Wind standen gegen ihn. Die Gamer erhalten alleine durch sein Beispiel einen Einblick in die Welt hinter dem „Spiegel“ des Flatscreens. Die Menschen, ihre Motivation, ihr Denken, ihre Träume und auch Ängste. Spielekritiker erkennen plötzlich anhand seiner Persönlichkeit, dass es sich bei den Game-Designern nicht um subversive Mächte handelt (ich übertreibe nicht, sprechen Sie mal mit vielen Praktikern im pädagogischen oder kirchlichen Bereich), sondern um Menschen, die ihren Träumen folgen, die Geschichten erzählen wollen, die andere Menschen unterhalten möchten. Bei einem Buchautoren würde man diese Motivation nie in Frage stellen. Als Game-Designer musste man sich lange rechtfertigen. Ed Smith bietet uns einen Blick auf beide Welten: Die hinter und die vor dem Bildschirm.

RI: Lassen Sie uns ein wenig über die Entstehungsgeschichte des Buches sprechen. Wie kam es zustande? Anschließend daran: Es handelt sich, wenn ich es richtig verstanden habe, um eine Übersetzung aus ihrer Feder, jedoch fügten sie etwas hinzu, was als „soziologische Einordnung“ seitens des Verlags beschrieben wird. Um was geht es da genau?   

 SP: Es gibt neben dem Hauptteil des Buches, dem Text von Ed, und meiner soziologischen Einführung, noch ein Vorwort von mir als Übersetzer, in dem ich meine eigenen Beweggründe zur Verfolgung des Projektes schildere, denn wie die meisten tollen Dinge im Leben konnte ich das Projekt nicht planen, es passierte einfach. Ich bin mit Videospielen aufgewachsen. Diese haben meine Kreativität geformt, ebenso wie Bücher. Als ehemaliger Game-Designer und Zeitzeuge faszinieren mich die ersten beiden Generationen der Videospiele. Man entwickelte ohne Handbücher, Vorlagen, Newsgroups, FAQs – alles musste man selbst entdecken und erfinden. Es gab keinen etablierten Markt in dem Sinne. Wenn man an etwas arbeitete und nicht weiterkam, lief man zum nächsten Radio Shack und fragte die anderen Technikfreaks. Es war die Zeit des digitalen Goldrauschs. Wer die Steve Jobs-Biographie gelesen hat, weiß, was ich meine. Ich sammle solche Spiele und führe seit Jahren schon Interviews mit Zeitzeugen. Mein Interessensgebiet richtet sich auf die Emerson Arcadia 2001-Familie und das Umfeld. Sämtliche Unterlagen, Prototypen und Zeitzeugen, die ich über die Jahre bekommen oder sprechen konnte, waren aber ungefähr ab 1981 aktiv.

Durch einen Zufall stieß ich vor einigen Jahren auf einen Artikel von Benj Edwards über Ed, der im Buch übrigens ebenfalls in einem persönlichen Vorwort schildert, wie inspirierend er den Kontakt zu Ed empfand. Ich kontaktierte Ed anfänglich als Zeitzeuge der Ereignisse vor 1980. Ich habe über die Hautfarbe gar nicht nachgedacht, wenn ich ehrlich bin. Auch zu meiner Zeit in der Branche war das nie wichtig. Man arbeitete mit Polen, Tschechen, Engländern. Alles spannende Leute – und nie fragte wirklich jemand nach der Herkunft. Es ging nur darum, ob jemand den Job machen konnte oder nicht (interessanterweise war das bei Ed in den 1970ern auch so). Im Gespräch mit Ed aber kamen sehr schnell andere Dinge zur Sprache und plötzlich floss Gaming zusammen mit Soziologie, die ich ja hauptamtlich lehre. Ich schrieb einen Artikel über Classic Gaming und Ed für meine Projekte-Webseite (stefanpiasecki.de) und band ein Video von Ed ein, das auf YouTube gehostet wurde. Dort tauchten plötzlich zustimmende Kommentare auf. Eds waches soziales Gespür, Benjs und mein Interesse an seinen Erfahrungen und solche Kommentare motivierten ihn, seine Geschichte aufzuschreiben.

Ich habe sie übersetzt und bearbeitet, damit deutsche Leserinnen und Leser sie einordnen können. Das Buch soll inspirierend sein für spielende Gamer, für entwickelnde Gamer und … es soll nicht zuletzt pädagogisch oder soziologisch Tätigen das Medium mal auf eine andere Weise nahebringen. Die soziologische Einführung schrieb ich, weil ich an meiner Hochschule zum einen viele Gamer unter meinen Studierenden habe und gleichzeitig Stadtsoziologie lehre, also die Bedingungen und Prozesse sozialer Interaktion im Raum. Mit Imagine That! hoffe ich, für beide Seiten mehr Interesse zu generieren: für Games und für Soziologie. Die Einordnung ist aber wichtig, weil viele der Jüngeren vielleicht gar nicht wissen, dass die Rassentrennung in den USA erst 1964 aufgehoben wurde und dass natürlich die Änderung einer rechtlichen Lage allein nur wenig für den Alltag von Menschen verändert. Es ist daher nach wie vor die Lebensgeschichte von Ed und kein soziologisches Fachbuch. Aber ich hoffe, dass Menschen nun die verschiedenen möglichen Schlaglichter auf das Thema nutzen und diese Zeitspanne besser ausleuchten können. Ich habe in einem Zeitstrahl das alles auch noch in den Kontext weiterer gesellschaftlicher und (pop-)kultureller Entwicklungen gestellt. Ich selbst habe extrem viel gelernt, als ich während der Arbeit an dem Buch mit seinen Augen durch sein Leben spazierte und dabei hätte ich vorher jedem erzählt, dass ich schon fast alles wüsste. 8-))

RI: Zum Abschluss möchte ich gerne die Brücke aufgreifen, mit der ich die erste Frage einleitete, um von diesem Buch sozusagen „ins Feld zu führen“: Wenn wir das Buch auch als Beitrag der deutschsprachigen Spieleforschung lesen (wollen), so stellt sich für mich die Frage, ob und wie man Ihren Beitrag in den Game Studies verorten und welche Impulse er möglicherweise im Sinne einer soziologischen game research setzen kann?  

SP: Es gibt bereits einige gute Untersuchungen zum sozialen Faktor des Gaming: Thorsten Quandt et al. und Martin Geisler natürlich, die über Motivation und jugendkulturelle Aspekte geschrieben haben. Nicole Schikorra mit ihrem Buch über die Heavy User und ihre sozialen Bezüge. Oder Ilona Nord und Astrid Dinter, die bereits vor mir weltanschauliche Gedanken erörtert haben. Aber wenn man sich die Literaturlage ansieht, so ist sie nach wie vor nicht besonders üppig. Natürlich gibt es etliche Aufsätze, die sich mit Teilaspekten beschäftigten. Es gibt aber viel weniger biographische Berichte und Imagine That! führt auch die Game Studies in ein Feld, das sie vielleicht sonst wenig berühren, nämlich die soziale und mentale Lebenswirklichkeit von Menschen.

Die Halbwertszeit, die Aktive in dieser absoluten Turbobranche aushalten, beträgt fünf Jahre. Wo sind die vielen Kreativen eigentlich hin, die ich in all den Jahren getroffen habe? Die skurrilen Typen, die nicht bei den Top-3-Studios gearbeitet haben. Was machen die heute? Machen sie noch Games? Oder wieder Games? Rennen sie dem Geld nach oder arbeiten sie bewusst für Indies, als Indies? Oder noch viel spannender und wichtiger, weil ich mich der islamischen Kultur verbunden fühle: Ich habe im Iran Spitzenentwickler getroffen. Kreative und moderne Leute, die dennoch ihr Erbe und ihre Kultur in Spiele einbringen. Wer sind diese Leute? Wie ticken die? Mal ernsthaft: Wollen wir immer wieder Geschichten von US-Entwicklern lesen, die ja doch zu 50 Prozent aus Hollywoodgelaber bestehen, weil sie die miesen Arbeitsbedingungen unerwähnt lassen: Arbeitszeiten von 14+ Stunden am Tag, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, gebrochene Verträge, ausbleibende Zahlungen, Betrug bei Abrechnungen? Mich würde viel mehr interessieren, wie die Entwickler in Pakistan oder Kasachstan arbeiten und denken, deren Apps wir zocken. Oder China. Die bleiben ungenannt, wie Ed damals. Wissen Sie dazu genauso wenig wie ich? Dann verstehen Sie, warum ich unbedingt für eine soziologische Game Research bin und dafür, diese auch auf kultur- oder religionspädagogische Aspekte auszuweiten.

Mittlerweile gibt es einige Gedanken dazu und die Branche selbst ist ja viel sensibler geworden für Lebensentwürfe, Geschlechterfragen und solche der Identität oder auch körperliche Merkmale oder gar Behinderungen. Meinen allerersten Lehrauftrag hatte ich 2001 an der Games Academy in Berlin. Ich habe die Leute im Kurs gebeten, ein Spieldesign zu umreißen (nur ganz kurz, eine Ideenskizze) und dann aufgefordert darüber nachzudenken, ob der oder die Heldin im Rollstuhl sitzen könnte. Es gab kein Staunen oder Zögern, eher ein Heureka-Erlebnis und die Leutchen fingen an, die tollsten Ideen zu entwerfen. Leider sind mir die Namen entfallen. Ich wüsste gerne, was die heute machen. Es geht mir natürlich nicht darum, Spiele zu verändern oder bestimmte Inhalte reinzudrücken. Ich bin für eine extrem breite Vielfalt aller denkbaren Formate und Sujets, weil ich von der Eigenverantwortung von Menschen überzeugt bin und die Wirksamkeit des Jugendmedienschutzes.

Aber ich würde mir wünschen, dass nicht mehr nur über die Geschäftsführenden von Firmen gesprochen wird oder die Projektleiter. Bis auf wenige Ausnahmen stehen Musiker, Storyteller, Leveldesigner nie im Fokus. In Die Siedler 1 hört man als Soundeffekt das Kurbeln der Angelrute meines 1997 verstorbenen Vaters, eines begeisterten Hobbyanglers. Menschen machen doch die Qualität eines Spiels aus. Die komponieren es, verleihen ihm den Rhythmus, der Spielende im Thema bleiben lässt, der sie inspiriert, zum Weinen bringt oder ihnen sogar Flügel verleiht, den nächsten Tag zu überstehen. Was geht in solchen Köpfen vor? Welche Lebensereignisse, gut oder schlecht, haben sie geprägt und brachten sie überhaupt an den Punkt, dass das Werk ihrer Hände jemand anderen faszinieren kann? Spiele bleiben kalt, wenn man sie nur ökonomisch sieht oder als Prozess eines Projektplans. Wenn man sie als zu Digitalisat geronnenes Leben betrachtet, erkennt man erst ihre wahre kulturelle Bedeutung.  

RI: Vielen Dank für das Gespräch! 

Hier können Sie das Buch bestellen. 

Prof. Dr. Stefan Piasecki auf LinkedIn.

 





Rudolf Inderst

*1978 in München. Lebte in Kopenhagen und verliebte sich. Doppelt promoviert, übernimmt er Verantwortung als Ressortleiter für digitale Spiele hier bei nahaufnahmen.ch. Liebt Stanislaw Lem, Hörspiele und Podcasts. Spielt Videospiele seit etwa 40 Jahren. Lehrt als Professor für Game Design mit dem Schwerpunkt Game Studies / Spielanalyse / Game Business an der IU und krault sich gerne seinen Bart.

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