Interview mit Jaël

„Man sollte sich nicht von der Angst dominieren lassen“

Bild: © Jan Bösch

Ein erster musikalischer Höhepunkt im Jahr 2021: Jaëls neues Album «Sinfonia» ist eine zauberhafte Melange aus Pop und Klassik, in deren Klanglandschaften man richtiggehend versinken kann. Nahaufnahmen.ch traf die Berner Sängerin zu einem ausführlichen Gespräch, unter anderem über ihren fehlenden Killerinstinkt, das Alleinsein als effektives Dasein sowie die grosse Dankbarkeit, die sie nach einer Nacht im Kinderspital in Litauen verspürte. Zudem erfuhren wir, wieso sie sich früher in der Melancholie und im Schmerz suhlte und warum die erfolgreichste Zeit in ihrem Leben bei weitem nicht die glücklichste war.

Von Christoph Aebi

Jaël, an deinem letzten Geburtstag hast du auf Facebook das Zitat von Nelson Mandela „May your choices reflect your hopes, not your fears“ geteilt, mit der Bemerkung, dass dieses gerade ganz fest in dir resoniere. Inwiefern sind deine Entscheidungen eine Reflexion deiner Hoffnungen?

Mir hat dieses Zitat sehr gefallen. Nelson Mandela sagt damit: Du solltest dich nicht von Ängsten steuern lassen, dich nicht bremsen lassen von Dingen, die dir Angst machen, sondern den Weg gehen, der für dich stimmt und tun, was dein Herz oder dein Bauchgefühl dir sagen. Ängste sind oft verbunden mit Meinungen anderer Menschen, die dir sagen wollen, was du sollst, darfst, kannst oder eben nicht. Im Vorfeld der Veröffentlichung meines neuen Albums „Sinfonia“ gab es Leute, die meinten: „Was, in diesem Corona-Jahr hast du ein Album gemacht? Interessiert das überhaupt jemanden?“ Ich hätte mich von diesen Meinungen beeinflussen lassen und ebenfalls finden können, dass die Zeit nicht ideal ist, um ein neues Album aufzunehmen, zu veröffentlichen und zu vermarkten, auch weil man nicht wirklich damit auf Tournee gehen kann. Aber für mich gilt je länger je mehr das Credo, dass ich einfach das machen möchte, was sich für mich richtig anfühlt. Wenn es etwas Schönes ist und ich das Gefühl habe, dass es eine Daseinsberechtigung hat, dann mache ich es. Klar bin ich als Musikerin auch Geschäftsfrau und muss mir manchmal überlegen, ob ich mich mit einem Projekt wohl gerade ruiniere. Aber grundsätzlich sollte man etwas wagen und davon ausgehen, dass es das Leben am Ende des Tages gut mit einem meint. Ich bin kein Fan von Bungee Jumping, weder im übertragenen noch im effektiven Sinne, und bin wirklich kein leichtsinniger, sondern eher ein vorsichtiger Mensch. Aber man sollte sich nicht von der Angst dominieren lassen, dass etwas nicht gut kommen oder was alles passieren könnte.

Hast du dich in deiner Musikkarriere von Meinungen anderer Leute schon einmal so beeinflussen lassen, dass du entweder auf etwas verzichtet hast oder andererseits etwas gemacht hast, nur weil es von dir verlangt worden ist?

Es gibt nichts, bei dem ich heute sagen würde, dass ich es nicht hätte tun sollen und deswegen bereue. Für mich waren die letzten 20 Jahre im Musikbusiness ein Prozess, um immer besser herauszufinden, was ich wirklich will und was nicht. Kürzlich habe ich in der zweiten Staffel von „Sing meinen Song – das Schweizer Tauschkonzert“ mitgewirkt, die nun im März/April ausgestrahlt wird. Dabei habe ich oft an die Anfangszeiten von Lunik gedacht und habe Revue passieren lassen, was ich in meinem musikalischen Leben schon alles gemacht habe. Darunter gab es einige Dinge – wenn auch kein konkreter Song oder kein konkretes Album -, bei denen ich mich fragte: „War das wirklich mein Traum oder war es eher die Vision der Band?“ Ich habe mich bei Lunik zwar nie von den anderen überrumpelt gefühlt und hatte auch nie das Gefühl, etwas machen zu müssen, das ich gar nicht wollte. Ich habe zu allem mein Jawort gegeben und habe mich bei dem, was wir getan haben, eigentlich immer sehr gut vertreten gefühlt. Aber während den Dreharbeiten von „Sing meinen Song“ hat mich etwas sehr zum Nachdenken gebracht: In dieser Runde von Musikern und Musikerinnen gab es eine starke Bewegung, möglichst positiv zu denken und das auch nach aussen zu tragen. Ein Ziel zu visualisieren, um es zu erreichen und an den Erfolg zu glauben, den man haben wird. Der Leitgedanke war sozusagen Erfolg = Glück. Man hat manchmal das Gefühl, dass Personen, die unglaublich erfolgreich sind, automatisch glücklich sein müssen. Wenn ich ganz ehrlich bin, war aber die erfolgreichste Zeit in meinem Leben bei weitem nicht die glücklichste. Mir ging es in jener Zeit nicht unbedingt gut – und mir würde es auch heute mit einer die ganz breite Masse ansprechenden Musik oder damit, eine Figur zu sein, die wahnsinnig viele Leute anspricht, nicht wirklich gut gehen. Wenn man die Anzahl der Facebook-Follower als Gradmesser nimmt, bin ich in der Künstlerrunde bei „Sing meinen Song“ im Ist-Zustand die Unerfolgreichste – aber ich fühle mich nicht so. Ich war mit Lunik und den Platin-Auszeichnungen, die wir erhalten haben, einmal dort, wo vielleicht ein Kunz jetzt gerade ist. Man könnte nun sagen: Die hat ihren Zenit überschritten und ist jetzt wieder vom Thron runtergekommen. Ich empfinde jedoch kein Gefühl des Scheiterns. Im Gegenteil: Ich fühle mich wahnsinnig erfolgreich mit dem, was ich mache und in dem Rahmen, in dem ich es machen will und der gesund für mich ist. Ich habe gemerkt, dass es nicht nur eine Form des Erfolges und nicht nur eine Form des Glücks gibt. Das sind Dinge, mit denen ich mich in der letzten Zeit, auf dem Weg meiner Selbstfindung, sehr auseinandergesetzt habe. Ich habe gemerkt, dass es wichtig ist, sich selbst treu zu bleiben und immer besser zu spüren, wann und wo man sich wohlfühlt. Dann kann man sich auch besser gegen aussen abgrenzen. Ein Typ einer amerikanischen Plattenfirma sagte einmal zu mir: „You have a lack of killer instinct.“ Das wurde mir in meinem Leben immer wieder attestiert. Wenn dieser Killerinstinkt jedoch bedeutet, die Ellenbogen auszufahren und das kleinste Fürzchen, das man gemacht hat, als etwas Grossartiges zu verkaufen, dann fehlt er mir wirklich – und ich bin froh darum, weil das einfach nicht mein Weg ist. Ich bin eher jemand, der im Stillen arbeitet. Wenn ich etwas kreiert habe, zeige ich es gerne, aber eigentlich fast lieber nur jenen Leuten, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie es auch verstehen. Die anderen müssen es gar nicht unbedingt mitbekommen.

Heutzutage wird, gerade auch von Bookern der Konzertlokale, stark darauf geschaut, wie viele Follower eine Künstlerin in den diversen sozialen Medien hat und wie oft die Musik auf Spotify gestreamt wurde. Du hattest vielleicht in dieser „Sing meinen Song“-Runde die wenigsten Facebook-Follower, dafür hast du ein treues Publikum, das dich schon lange bei allem, was du tust, begleitet. Das ist auf die Dauer, finde ich, viel wertvoller als ein Hype, der nach kurzer Zeit wieder vorbei ist.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der es oft nur um Zahlen und Leistungen geht. Dazu kommt mir gerade ein Beispiel in den Sinn: Mein neues Album „Sinfonia“ erschien am 1. Januar. Es gab Leute, die fanden: „Wie kommst du auf die Idee, an einem Datum ein Album zu veröffentlichen, an dem die Geschäfte geschlossen sind?“ Wir hatten das Album über Vorbestellungs-Optionen auf meiner Website jedoch bereits gut verkauft. Der Vertrieb fand deshalb, dass ich, statt die Alben über meine eigenen Kanäle zu verschicken, dies durch cede.ch erledigen lassen könnte, damit diese Vorverkäufe für die Charts gelten würden. Und da wohl sonst praktisch niemand auf die Idee komme, ein Album in der ersten Januarwoche zu veröffentlichen, würde das Album dank der Vorbestellungen wahrscheinlich gleich auf der Nummer 1 einsteigen. Ich fand diese Idee jedoch dämlich, denn ich hätte so von jeder verkauften Platte nur halb soviel Geld erhalten, als wenn ich sie über meine eigenen Kanäle verkaufe. Und das alles nur, damit in 20Minuten oder auf SRF vielleicht einmal kurz erwähnt wird, dass Jaël mit dem neuen Album eine gute Charts-Platzierung erreicht hat. Leute mit einem Killer-Instinkt würden sich jetzt sicher an den Kopf langen und sagen: „Geht’s noch? Du musst doch gross denken und in den Charts stattfinden!“ Ich wollte zudem lieber denjenigen Leuten, die mich in einer Zeit, in der es schwierig ist, von Musik zu leben, seit Jahren unterstützen und auf meiner Website mein Album vorbestellt hatten, dieses bereits einige Wochen vor dem offiziellen Release signiert zuschicken. Das hätte ich bei der anderen Option nicht machen können.

Du warst in diesem vergangenen, wegen Corona sehr speziellen Jahr unglaublich aktiv: Neben den Aufnahmen zum neuen Album „Sinfonia“ und dem Mitwirken an der zweiten Staffel von „Sing meinen Song“ hattest du für den Frühling eine Akustik-Tournee im Trio geplant, die du zuerst in den Herbst und nach einigen Konzerten wiederum in den Frühling 2021 verschieben musstest. Zudem hast du ein Streaming-Konzert auf dem Niesen, 2362 Meter über Meer, gespielt und, als Konzerte nicht möglich waren, in der Mühle Hunziken in Rubigen für Gäste einen vegetarischen Dreigänger gekocht. Wie hast du dieses Corona-Jahr insgesamt erlebt?

Ich hatte eigentlich alles sehr schön geplant: für den Frühling die Akustik-Tournee, für den Juli die Aufnahmen für das Orchester-Album und als krönender Abschluss das Silvester-Konzert mit dem Orchester im Kultur Casino in Bern. Nach den Album-Aufnahmen hätte ich somit genügend Zeit gehabt, das Album zu mischen und zu mastern. Wegen Corona mussten jedoch die Akustik-Tournee in den Herbst und die Aufnahmen mit dem Orchester in den August verschoben werden. So habe ich schliesslich mehrere Monster-Projekte, die eigentlich auf ein Jahr hätten verteilt sein sollen, innerhalb von 7 Wochen gestemmt. Dazu kam schliesslich noch meine Teilnahme an „Sing meinen Song“. Die Anfrage dafür hatte ich eine Woche vor dem geplanten Start der Frühlings-Akustik-Tournee erhalten und deshalb zuerst abgesagt, weil das Jahr eigentlich ausgebucht war. Als ich die Tournee in den Herbst verschieben musste, sagte ich dann aber doch zu. Sechs Tage nach dem Ende der Album-Aufnahmen bin ich für die Dreharbeiten nach Gran Canaria geflogen und drei Tage nach meiner Rückkehr von den Dreharbeiten ging schliesslich die Akustik-Tournee los, wir haben 10 Konzerte gespielt und sind zwischendurch nach Winterthur ins Studio gefahren, um das Album zu mischen. Als Anfang Oktober alles im Kasten und der Mix fertig war, war ich nudelfertig. Mir war es also das ganze Jahr über nie langweilig. Ganz im Gegenteil: Im Frühling habe ich auch noch begonnen, Songs für mein nächstes Studio-Album sowie Kinderlieder zu schreiben. Dazu kam die ganze administrative Arbeit, unter anderem für die Unterstützungsgelder-Gesuche.

Ich glaube, wie für viele andere Menschen auch war das vergangene Jahr ein extremes Auf und Ab. Am Freitag, den 13. März spielten wir den Warm-up-Gig für die Akustik-Tournee, die am 14. März hätte starten sollen. Es war eine private Show in der Innerschweiz anlässlich eines Festes von zwei Leuten, die ihre Pensionierung feierten. Während des Soundchecks zu diesem Auftritt erfuhren wir, dass der Warm-up-Gig wegen des Lockdowns gleichzeitig die Première und Dernière der Tournee sein sollte, Das war ein ziemlicher Schock für alle, zumal wir zwei Monate lang für die Tournee geprobt und uns sehr darauf gefreut hatten. Ausserdem bedeutete es, dass die Einnahmen von 33 geplanten Konzerten flöten gingen, ich aber im Sommer ein Orchester für die Aufnahmen zum neuen Album bezahlen sollte. Im ersten Moment hatte ich wirklich das Gefühl, das sei das Ende meiner musikalischen Karriere. Zum Glück wurde dann relativ schnell klar, dass man Unterstützungsgelder beantragen konnte. Zudem entschieden wir uns, proaktiv mit den Vorbestellungen für das neue Album zu starten. Wir versuchten, uns von der Hoffnung und nicht von der Angst steuern zu lassen und sagten: „Wir schaffen das! Irgendwie kommt das Geld für die Album-Aufnahmen zusammen.“ Schliesslich kam wirklich alles wunderbar ins Rollen. Rückblickend ist es ein unglaublich schönes Gefühl, das alles geschafft zu haben.

Bild: © Jan Bösch

Du hast bereits einige Male mit Orchestern gearbeitet: Lunik trat mit dem Zürcher Kammerorchester auf und am Klanggantrisch-Festival in Riggisberg (dokumentiert auf dem Live-Album „Orkestra“) sowie am Montreux Jazz Festival und in Litauen hast du Konzerte mit dem Klaipédos Kamerinis Orkestras gegeben. Für das neue Album „Sinfonia“ kam es nun zur Zusammenarbeit mit dem Variaton-Orchester aus Bern, einem Orchester bestehend aus jungen Musikern und Musikerinnen, das sich für Crossover-Projekte immer wieder neu zusammensetzt. Wieso hast du dich diesmal für das Variaton-Orchester entschieden?

Ich habe mitbekommen, dass das Orchester für Crossover-Projekte bereits mit den Kummerbuben und Steff La Cheffe zusammengearbeitet hat. Zudem wusste ich von anderen Berner Musikern, dass Droujelub Yanakiew, der Dirigent des Orchesters, ein cooler Typ ist. Es ist selten, dass klassische Musiker so offen sind für Popklänge. Wenn man mit Orchestern zusammenarbeitet, gibt es oft Musiker, die das eher langweilig und nicht so toll finden, sondern nur mitmachen, weil der Chef d’orchestre es so beschlossen hat. Da das Variaton-Orchester aus einem grossen Pool an Musikern schöpfen kann, konnte Drouji alle anschreiben und fragen, wer Interesse am Projekt hat. So fanden sich für das Projekt wirklich nur diejenigen Musiker zusammen, welche es spannend fanden. Für mich war von Anfang an klar, dass ich das grosse Konzert im Kultur Casino in Bern, das nun am 11. November 2021 stattfindet, mit dem Variation-Orchester machen will. Für die Album-Aufnahmen wollte Drouji aber in den 1. Stimmen gerne Profis verpflichten und so heisst das Orchester, das er extra für die Aufnahmen zusammengestellt hat, nun Drouji’s Friends Orchestra. Weil er bereits mit so vielen Leuten in der Klassikwelt zusammengearbeitet hatte, wusste er sehr gut, wer für diese Art von Musik besonders geeignet ist. Der ganze Prozess war unglaublich spannend. Bevor wir zum ersten Mal mit dem Orchester geprobt haben, sind Cédric Monnier, mein Pianist, und ich mit Drouji zusammengesessen. Wir haben uns sozusagen angenähert und uns ausgetauscht, damit Drouji während den Proben und Aufnahmen den Musikern genau vermitteln kann, was wir wollen. In diesen verschiedenen musikalischen Welten wird nämlich oft ein ganz anderes Vokabular verwendet. Drouji hatte aber ein sehr gutes Gespür für unsere Wünsche und konnte schnell sagen, was funktionieren würde und was eher nicht.

Wie würdest du die Unterschiede zwischen dem Zürcher Kammerorchester, dem Klaipédos Kamerinis Orkestras und nun dem Drouji’s Friends Orchestra beschreiben?

Bei dieser neuen Platte war ich viel intensiver in den ganzen Entstehungsprozess involviert. Die allererste Zusammenarbeit mit dem Zürcher Kammerorchester entstand für deren Konzertreihe „ZKO meets…“ im Kaufleuten in Zürich, zu der sie jeweils einen Gast eingeladen haben. Für jenes Konzert im Februar 2012 hat das Orchester die meisten Arrangements erarbeitet. Als wir später mit Lunik einige Konzerte mit dem Orchester spielten, konnten wir uns bereits ein bisschen mehr einbringen. Im Vorfeld des Konzerts am Klanggantrisch Festival in Riggisberg mit dem litauischen Klaipédos Kamerinis Orkestras habe ich bezüglich Arrangeuren zuerst etwas herumgefragt, bis man mir sagte, dass sie beim Festival  vor allem mit dem litauischen Arrangeur Rimas G. zusammenarbeiten würden, der auch Komponist ist und das Orchester sehr gut kennt. Ich fand, er solle doch mal ein oder zwei Songs arrangieren und mir die Arrangements schicken. Diese haben mir sehr gefallen und so hat die Zusammenarbeit mit Rimas G. begonnen, der immer wie mehr gespürt hat, was ich gerne möchte. Als wir mit dem Orchester in Litauen Konzerte spielten, lernte ich Rimas G. dann auch persönlich kennen. Für mich war deshalb von vornherein klar, dass ich für die Arrangements zu „Sinfonia“ als erstes gleich Rimas G. anfragen würde. Da er schon sehr gut wusste, was mir gefällt und was eher nicht, war bereits viel Vorarbeit geleistet. Für die Umsetzung mit dem Orchester konnte ich auch bei der Zusammenarbeit mit Drouji nochmals sehr viele Ideen einfliessen lassen. Zudem war ich beim Mix sowie beim Mastering des Albums ebenfalls involviert. Somit war es die erste Zusammenarbeit mit einem Orchester, die sich anfühlte wie ein Gemeinschaftswerk, bei dem ich bereits die Samen pflanzen und diese mit Wasser begiessen konnte. Es ist schon sehr fest mein Pflänzchen, wenn man dieses Bild gebrauchen will. Und es ist wahnsinnig zufriedenstellend, wenn man etwas erarbeitet hat, von dem man am Schluss sagen kann, dass es genau so ist, wie man es haben wollte.

Die Arrangements von Rimas G., das muss man betonen, sind wirklich grosses Kino. Im Gegensatz zu vielen, insbesondere amerikanischen Crossover-Produktionen, bei denen Pop-Songs einfach mit einem flächendeckenden Streicherteppich versehen werden, setzt das Orchester in den Arrangements von Rimas G. dramaturgisch starke Akzente. Ich glaube, Rimas G. hat diesbezüglich die gleiche Einstellung wie Drouji, der einmal in einem Interview Folgendes sagte: „In den letzten 15 Jahren gab es viele Projekte, bei denen eine Rockband mit Orchester auftrat und das Orchester einfach einen Streicherteppich darunterlegte. Ein paar blonde Geigerinnen, ein bisschen San Remo-Style. Sowas finde ich schrecklich. Bei Crossover sollten beide Parteien sich selbst bleiben und es muss Sinn machen, dass sie sich verbinden.“

Ja, genau. Es sollte nicht Popmusik mit ein bisschen symphonischem Gesäusel im Hintergrund, sondern wirklich eine klassische Platte sein. Natürlich singe ich keine Opern, sondern interpretiere meine Songs immer noch so, wie ich sie spüre. Aber für mich ist das Album eine wirklich gute Melange beider Welten. Rimas G. schreibt seine Arrangements mit dem Gehör eines Klassikers, was ich für diese Platte sehr wichtig fand. Bei den Aufnahmen merkte man den Orchester-Musikern an, dass sie nicht einfach von einem Keyboarder komponierte Arrangements spielen mussten, bei denen drei Minuten lang die gleichen Töne erklingen, sondern dass sie wirklich Arrangements spielen durften, die für sie spannend waren, bei denen sie sich herausgefordert fühlten und die ihnen Spass bereiteten. Viele Künstler aus dem Pop-Bereich nehmen auch bei Orchester-Begleitung mit Clicktrack auf, einem elektronischen Metronom, welches das Tempo vorgibt. Das wollten wir ebenfalls nicht. Auch bei den Konzerten der Akustik-Tournee arbeiten wir nicht mit Clicktracks. Die Musik soll leben und schnaufen und auch einmal nicht perfekt sein dürfen. Ich habe das Gefühl, dass wir das erreicht und alle Beteiligten deshalb eine grosse Freude an diesem Album haben.

Eines meiner Lieblingslieder aus dem Lunik-Repertoire, „Slide“, ist auf diesem Album besonders schön arrangiert. Das Lied beginnt nur mit Pianoklängen, in der zweiten Strophe setzen die Streicher sowie sanfte Perkussion- und Bläserklänge ein, erst dann nimmt die Intensität des Orchesters zu, bis das Lied zum Schluss wieder mit der Pianobegleitung endet. Bei unserem Interview zum Release deines letzten Studio-Albums „Nothing to hide“ sagtest du bezüglich des Songs „Falling again“, der von wiederkehrenden Melancholieattacken handelt, dass es in „Slide“ (in der Originalversion 2003 auf dem Lunik-Album „Weather“ erschienen) eigentlich um dasselbe Thema geht. Inwiefern sind für dich die beiden Songs Seelenverwandte und worin unterscheiden sie sich?

Es geht in beiden Liedern um den kleinen Dämon, der zwischendurch vorbeischaut: In „Slide“ erscheint er als „black knot inside of me“, in „Falling again“ nenne ich ihn bereits den „sweet friend melancholy“. Und während ich in „Slide“ „let me suffer passionately“ singe, ist der Dämon bei „Falling again“ ein alter Bekannter, der halt wieder einmal auftaucht.  Dieses leidenschaftliche Leiden wie zu der Zeit, als „Slide“ entstand, findet heute in meinem Leben nicht mehr statt. Früher war es so, dass ich mich der Melancholie und dem Schmerz hingegeben, mich darin gesuhlt und dazu noch ein Glas Rotwein getrunken habe. Das hatte vielleicht auch etwas mit dem Alter zu tun. Damals war ich Mitte 20, noch sehr auf der Suche und diese Stimmungen gehörten viel mehr zu meinem Alltag. Heute kommen sie nicht mehr so häufig vor und manchmal habe ich schon fast vergessen, wie der „sweet friend melancholy“ aussieht. Und wenn er doch wieder einmal kommt, weiss ich, dass er nicht mehr tagelang mein Begleiter ist, sondern vielleicht einen Abend lang und dann ist es wieder gut. Als ich jünger war, habe ich in diesem Zustand auch viel mehr Potential gesehen als heute. Ich hatte damals das Gefühl, so viel besser Songs schreiben zu können und hatte das Bild der leidenden Künstlerin, die nur in diesem Zustand kreativ sein kann, ziemlich verinnerlicht. Heute kann ich auch schöpferisch tätig sein, ohne dass der „sweet friend melancholy“ dabeisitzt.

Zum ersten Mal seit dem Erscheinen des Lunik-Debut-Albums „Rumour“ 1999 bist du nicht auf dem Album-Cover zu sehen. Stattdessen ziert das „Sinfonia“-Cover ein Bild, das deine Mutter, die Kunstmalerin Vera Krebs-Wyssbrod, gestaltet hat. Ist das Bild speziell für dieses Album entstanden?

Nachdem ich meine Mutter gefragt hatte, ob sie ein Bild für das Album kreieren würde, begann sie, an ihrem Zweitwohnsitz in Frankreich zu experimentieren. Als sie wieder zurück in die Schweiz kam, hatte sie die neuen Bilder jedoch nicht dabei, weil sie noch am Trocknen waren. Da wir aber mit den Album-Vorbereitungen vorwärts machen mussten, schaute sie in ihrem Fundus in der Schweiz nach, welche Bilder sonst noch in Frage kommen könnten. Das Bild, welches nun auf dem Cover ist, war eines davon.

Welche Bedeutung hat dieses Cover für dich?

Ich wollte schon lange einmal ein Bild meiner Mutter als Cover. Für dieses neue Album hatten wir kein passendes Foto und ich fand, dass nun der perfekte Moment für ein Bild meiner Mutter gekommen war. Aus der Auswahl an Bildern, die mir meine Mutter vorgeschlagen hatte, gab es noch ein Zweites, das mir ebenfalls sehr gefiel. Es hätte gut zu einem Live-Album gepasst, war von den Farben her viel dunkler mit einer hellen Fläche in der Mitte und sah fast aus wie eine Festival-Bühne bei Nacht. Als ich jedoch das Bild, das nun das Cover ziert, zum ersten Mal erblickte, wusste ich, dass es für das Album perfekt war. Ich kann dir gar nicht genau sagen warum. Es war einmal mehr ein Bauchentscheid, bei dem nachher alle fanden, dass es wunderbar passt, obwohl meine Mutter das Bild nicht extra für mich gemalt hatte. Sie findet jedenfalls, dass das Bild die Musik des Albums gut verkörpert: die Flächen auf dem Bild repräsentieren ihrer Meinung nach die Streicher, die Striche hingegen die Melodien sowie meine Stimme.

Auf dem neuen Album „Sinfonia“ sind sieben Songs deines letzten Albums „Nothing to hide“, zwei Songs aus der Zeit mit Lunik („Slide“, „Serenity“), ein Song aus einer Zusammenarbeit mit dem kanadischen Electronic-Duo Delerium („Lost and Found“) sowie drei bisher unveröffentlichte Songs („Reminded for life“, „Belong Nowhere“, „It’s time“) versammelt. Wie hast du die Songs für dieses Orchester-Projekt ausgewählt?

Ein Jahr nach der Veröffentlichung meines ersten Solo-Albums „Shuffle the cards“ im Jahr 2015 nahm ich das Album „Acoustic“ auf und 2017 erschien das Live-Album „Orkestra“. Die Ursprungsidee war, auch in Zukunft jeweils eine Trilogie zu veröffentlichen, also nach dem Studioalbum eine akustische sowie eine orchestrale Version aufzunehmen. Nach dem Erscheinen meines letzten Studio-Albums „Nothing to hide“ 2019 bin ich jedoch von dieser Idee weggekommen, weil ich einsehen musste, dass das kaum bezahlbar wäre. Aber als wir für die Akustik-Trio-Tournee probten, merkte ich, dass sich die sieben Songs aus „Nothing to hide“, die nun auf „Sinfonia“ sind, perfekt dafür eignen würden, um sie mit einem grossen Orchester aufzunehmen. Das gilt auch für den Lunik-Song „Slide“, zumal wir ihn nie live mit einem Orchester gespielt haben. „Serenity“ war auf dem Lunik-Live-Album „Life is on our side“ einer von zwei neuen Studio-Tracks. Wir haben damals aber „Summer’s Gone“ als Single veröffentlicht und „Serenity“ ging deshalb ein wenig unter. Es gehört zu meinem Wesen, dass ich eine wahnsinnige Liebe für die eher kleinen, feinen, versteckten Songs habe, bei denen ich das Gefühl nicht los werde, dass sie es verdient hätten, noch ein bisschen mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. „Lost and Found“, der Song, den ich mit Delerium geschrieben habe, ist für mich einer der Höhepunkte dieses Albums. Ihn zu performen, macht unglaublichen Spass. Wir haben den Song sehr schnell aufgenommen. Ich merkte gleich, wie lustvoll das Orchester bei der Sache war. Das Lied bietet sich für das Konzert mit dem Orchester zudem geradezu als Grande Finale an. Die drei bisher unveröffentlichten Songs sind eigentlich gar nicht so neu. „Reminded for life“ habe ich 2018 in Litauen geschrieben, als ich mit dem Klaipédos Kamerinis Orkestras Konzerte gegeben und gleich gemerkt habe, dass dieser Song ein orchestrales Arrangement braucht. „It’s time“ ist einer jener Songs, die ich ursprünglich für das Konzert mit dem Zürcher Kammerorchester im Kaufleuten im Jahr 2012 geschrieben habe. Damals gab es Lunik noch, aber die anderen Bandmitglieder waren beim Konzert nicht dabei. Deshalb wollte ich nicht einfach nur bekannte Lunik-Songs singen, sondern auch noch etwas Eigenes und Neues zum Konzert beisteuern. Am Konzert habe ich schliesslich „It’s time“ gespielt, mit einem Arrangement, das Anita Kerr für mich geschrieben hat. Ich habe den Song immer geliebt, es existierte jedoch bisher nur die unveröffentlichte Live-Version vom Kaufleuten-Konzert. Aber weil das Arrangement so schön war, wusste ich, dass das Lied irgendwann einmal auf einer Orchester-Platte erscheinen wird. „Belong Nowhere“ tönte in der Originalversion sehr elektronisch und ich fand es spannend, gerade dieses Lied in ein Orchesterarrangement zu überführen. Für jene, welche das Lied in seiner ersten Version kannten, tönt es nun fast wie neu oder ist zumindest eine Wiederentdeckung.

Ich muss zugeben, dass ich „Belong nowhere“, das auf dem neuen Album einer meiner Lieblingstracks ist, bisher nicht kannte.   

Das Lied hatte ich zwar mal aufgenommen, es ist jedoch nie offiziell veröffentlicht worden, deshalb hast du es wohl als brandneues Lied wahrgenommen. Ich habe das Lied mit Mirko von Schlieffen geschrieben, der ursprünglich zusammen mit Christopher von Deylen das Pop-Ambient-Projekt Schiller gegründet hat. Bereits bevor ich zum ersten Mal bei Schiller ein Featuring machte, hatte mich Mirko angefragt, ob wir zusammen Songs schreiben wollen und so entstanden drei Lieder. Eines davon war „Belong nowhere“. Als Mirko sich von Christopher trennte, wollte er ein eigenes Projekt namens Mensano realisieren. Das war gross geplant, sogar mit Heather Nova hat er dafür einen Song aufgenommen. Ich weiss nicht wieso, aber das Album wurde nie veröffentlicht. Ich fand das über all die Jahre unglaublich schade. Ich fragte Mirko deshalb schon im Vorfeld zu den Aufnahmen meines ersten Solo-Albums „Shuffle the cards“ und dann nochmals für „Orkestra“ an, ob ich das Lied veröffentlichen darf. Er lehnte beide Male ab, weil er meinte, vielleicht würde er das Projekt doch noch zu Ende führen. Als ich jetzt für „Sinfonia“ abermals anfragte, fand er, nun sei es vielleicht wirklich an der Zeit, das Lied zu veröffentlichen, da er das Mensano-Projekt wohl nicht mehr herausbringen werde und ich sei deshalb frei, mit dem Lied zu machen, was ich wolle.  

Im Text des Liedes „Belong nowhere“ geht es um eine Person, die das Gefühl hat, zu einem ganz bestimmten Menschen zu gehören, von diesem aber zurückgestossen wird. Woher kam die Inspiration für den Song?

Es geht in dem Song um den totalen Herzschmerz, den man nach einer Trennung empfindet. In dieser Situation hat man das Gefühl, dass die andere Person doch wirklich die Richtige gewesen wäre und dass man ohne diese Person nie mehr im Leben glücklich sein wird. So ist es oft, wenn man den ersten grossen Liebeskummer erlebt. Ich habe damals, als ich den Song geschrieben habe, dieses Gefühl voll gelebt. Das war noch zu einer Zeit, in der ich fest davon ausging, dass es für jeden einen einzigen passenden Menschen auf dieser Erde gibt. Das glaube ich heute nicht mehr. Es war deshalb sehr speziell, diesen Song wieder zu singen, weil er für mich eigentlich recht weit weg ist. Und trotzdem konnte ich sehr schnell wieder einen Bezug zu diesen Gefühlen herstellen.

Insbesondere bei diesem Lied fallen die prägnanten Klänge des Perkussionisten und Schlagzeugers Martin Fischer auf, mit dem du erstmals zusammengearbeitet hast. Du schreibst im Album-Booklet über ihn: „Thanks for playing the coolest drums. I can hardly believe it we finally made music together! Yay!! ;-))“. Wie bist du auf ihn gestossen?

Nachdem sich Lunik im Jahr 2013 aufgelöst hatten, spielte ich mit meinem Gitarristen Domi Schreiber einige Duo-Shows. So gaben wir unter anderem anlässlich des Songbird-Festivals im Hotel Schatzalp in Davos ein Konzert. Es hiess, vor uns werde noch ein Supporting Act auftreten, ein irisches Duo mit Gitarren und zweistimmigem Gesang. Wir dachten, das würde vom akustischen Sound her gut zu uns passen. Und dann tanzten die zu viert zum Soundcheck an, drei irische Brüder oder Cousins – den Namen der Band weiss ich leider nicht mehr – sowie Martin, der gleich mit dem Schlagzeugspielen begann. Der Sound ging richtig U2-mässig ab. Domi und ich schauten uns an und fragten uns, ob es wohl nicht besser wäre, die Slots zu tauschen, weil unser Sound viel ruhiger war. So kamen wir mit der Band ins Gespräch. Wir fanden insbesondere Martin sowohl als Mensch als auch als Musiker super, waren uns gleich auf Anhieb sympathisch und hatten einen tollen Abend zusammen. Da ich wusste, dass ich wohl bald ein Solo-Album aufnehmen, damit auf Tour gehen und dafür höchstwahrscheinlich einen Schlagzeuger brauchen würde, bat ich ihn um seine Kontaktdaten. Ursprünglich war denn auch geplant, dass er mich auf der „Shuffle the cards“-Tour als Drummer begleiten würde. Während der Tournee-Vorbereitung merkten jedoch mein Gitarrist Domi, mein Pianist Cédric und ich, dass wir die Show zu dritt hinkriegen würden, auch weil Domi begann, einige Drum-Parts selber zu spielen und viele Loops ab Band kamen. So mussten wir Martin wieder absagen. Ich fühlte mich deshalb immer ein bisschen schlecht, hoffte aber, dass es irgendwann einmal mit einer Zusammenarbeit klappen würde. Als wir für mein letztes Album den Videoclip zu „Never feel alone again“ drehten, der auf einer Dachterrasse spielt, wollte mein Bruder das Video zuerst nur mit mir allein realisieren. Drei Tage vor den Dreharbeiten fand ich jedoch, dass es viel stimmiger sein würde, wenn die ganze Band mitmacht. Mein Bassist und mein Drummer waren aber in den Ferien und so rief ich Martin an und fragte ihn, ob er für das Video zum Playback des Songs quasi Luftschlagzeug spielen würde. Aufgrund dieser Situation lachten wir während den Dreharbeiten immer wieder und fanden, dass wir irgendwann einmal wirklich noch richtig zusammen Musik machen müssen. Als ich merkte, dass es für „Sinfonia“ neben den Orchester-Perkussionisten auch noch jemanden braucht, der unsere Musik-Welt ein wenig reinbringt, fand ich, dass Martin dafür perfekt wäre. Er hat sich über die Anfrage sehr gefreut, hat wunderbare Arbeit geleistet und es war toll, dass es jetzt endlich einmal klappte, mit ihm zusammen zu musizieren. Deshalb schrieb ich dieses augenzwinkernde Dankeschön ins Booklet.

Du hast vorhin, als es um die Songauswahl fürs Album ging, bereits angetönt, dass Anita Kerr das Arrangement für „It’s time“ geschrieben hat. Die mittlerweile über 90-jährige Sängerin, Pianistin, Komponistin und Arrangeurin feierte mit den Anita Kerr Singers grosse Erfolge und wurde mit drei Grammys ausgezeichnet. Sie komponierte auch das Lied „Piano, piano“, mit dem Mariella Farré und Pino Gasparini 1985 für die Schweiz am Concours Eurovision de la Chanson teilnahmen. Anita Kerr war damals erst die dritte Frau, die bei diesem Concours als Komponistin das Orchester dirigierte. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Zu jener Zeit, als mich das Zürcher Kammerorchester für das Konzert im Kaufleuten anfragte, war Alex Grob, der zuvor Nena wieder zu grossem Erfolg verholfen hatte, der Manager von Lunik. Alex ist zudem Anita Kerrs Ehemann und war früher, als sie noch in Nashville lebten, auch Anitas Manager. Er meinte, dass wir für die Arrangements der neuen Songs unbedingt Anita fragen müssten. Ich hatte damals viele Songs alleine geschrieben, die nicht alle auf dem MiNa-Album „Playground princess“ oder dem Lunik-Album „What is next“ Platz fanden. So gab ich Alex die Demos für einige Songs, unter denen bereits „Waiting for a sign“ sowie „It’s time“ waren. Anita hatte Freude an den Songs, komponierte schliesslich die Arrangements und als ich sie in Genf besuchte, war das eine sehr schöne und total herzliche Begegnung. Als wir „It’s time“ für das Kaufleuten-Konzert im Saal des Zürcher Kammerorchesters probten, war Alex dabei und weinte vor Freude – er war unglaublich stolz auf seine Frau. Die beiden kamen auch gemeinsam ans Konzert. Das sind wahnsinnig schöne Erinnerungen. Dieser Song hat etwas Magisches. Als wir ihn nun für „Sinfonia“ aufnahmen, merkte ich, dass die Musiker das Arrangement mit einer gewissen Ehrfurcht spielten. Rimas G. adaptierte das Arrangement für das neue Album noch ein wenig, weil ich damals im Kaufleuten Gitarre gespielt und zwei Backing-Vocalistinnen dabei gehabt hatte. Die Gitarrenklänge werden nun bei der neuen Version durch das Klavier ersetzt und statt den Chören erklingen Bläsersätze. Ich nahm deshalb wieder mit Alex Kontakt auf und fragte ihn, ob Anita diese Adaption machen wolle oder ob es in Ordnung wäre, wenn Rimas G. das ursprüngliche Arrangement adaptiert. Sie gaben für Letzteres ihr Einverständnis. Mittlerweile ist Anita glaube ich auch in einem Alter, in dem sie nicht mehr so viel arbeiten mag.

Der Schluss des Liedes tönt erst wie ein Lullaby, wenn du singst: „Go to sleep all you worries / and never return / I don’t need you anymore / cause all has become so quiet now“. Aber dann folgt der letzte Satz, der ein starkes Statement setzt, das man so nicht erwartet hat: „And I finally accepted / that we’re all alone.“

Es geht für mich darum, dass wir am Ende des Tages merken und akzeptieren, dass wir in uns drinnen mit unseren Gedanken und unserem Sein ganz allein sind  – und dass das in Ordnung ist. Mir kommt dazu ganz spontan das Gefühl in den Sinn, das man hat, nachdem man beispielsweise während der Schulzeit in einer Lagerwoche gewesen ist und die ganze Zeit zusammen mit seinen Schulfreunden verbracht hat. Am Samstag im Zug auf dem Heimweg nach Hause picknickt man noch zusammen und lässt eine tolle Woche Revue passieren – aber dann ist man schliesslich zuhause und verbringt das Wochenende ohne seine Freunde. Früher empfand ich am Ende einer Tournee ähnliche Gefühle und hatte jeweils eine Art Tourblues: Diese Angst vor der Leere, dem Alleinsein und davor, sich seinen Gedanken stellen zu müssen und somit auch den Abgründen, die teilweise zum Vorschein kommen. Dabei ist das Alleinsein doch eigentlich das effektive Dasein. Auch wenn du zig Freunde und eine liebende Familie um dich hast, bist du mit dir im Sein allein. Deshalb finde ich es wichtig, dass man mit sich allein wohl und im Frieden ist und dass man all das, was um einen herum läuft, zwar geniessen kann, es aber nicht braucht, um sich ganz zu fühlen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der man das Gefühl hat, man müsse ständig von Leuten umgeben, lustig und gut drauf sein und Party machen. Wenn jemand gerne alleine zuhause oder alleine mit seinen Gedanken ist oder sich mit einem Buch oder Musik zurückzieht, haben viele Leute das Gefühl, diese Person sei ein Einzelgänger oder sonst irgendwie speziell. Ich liebe es, Zeit mit anderen Leuten zu verbringen, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich lernen muss, dieses Alleinsein auszuhalten und habe auch die Schönheit darin entdeckt. Du kannst nie mit jemand anderem ganz verschmelzen, auch wenn wir das wie verrückt versuchen und uns deshalb wahrscheinlich fortpflanzen. Aber du wirst nie jemanden finden, der genau gleich spürt, sieht und empfindet wie du. Heute heisst für mich allein zu sein nicht mehr, einsam zu sein. Deshalb singe ich am Schluss des Songs auch „and I finally accepted / that we’re all alone“ und nicht „that we’re all lonely“.

Ich möchte gerne noch näher auf den bisher unveröffentlichten Song „Reminded for life“ eingehen, der das neue Album eröffnet. Den Song hast du geschrieben, als du 2018 für drei Konzerte mit dem Klaipédas Kamerinis Orkestras in Litauen weiltest. Die erste Nacht nach der Ankunft verbrachtest du jedoch im Kinderspital statt im Hotel, weil dein damals halbjähriger Sohn krank geworden war.

Im Lied beschreibe ich den Moment, wie ich mich fühlte, als alles überstanden war, nachdem ich die Nacht neben Eliah im Kinderspital verbracht hatte. Er hatte, an Schläuche angeschlossen, mit einer Infusion in seinem Kinderbettchen gelegen und ich hatte, weil ich die ganze Zeit nach ihm schaute und aus Angst, ob alles wieder gut kommt, kaum ein Auge zugetan. Am nächsten Tag bekamen wir die Resultate der Tests und es hiess, dass alles in Ordnung sei, Eliah einfach noch ein bisschen Ruhe brauche, wir aber das Spital verlassen könnten. Im Lied erinnere ich mich daran, wie ich am Morgen aus diesem Kinderspital gelaufen bin. Ich weiss nicht einmal mehr, wie das Spital ausgeschaut hat, aber ich kann mich noch gut an das Gefühl einer grossen Dankbarkeit erinnern, dass mein Kind gesund ist und wir wieder nach Hause gehen können. Gleichzeitig verspürte ich jedoch eine Art Schuld, weil dieses Spital für ganz viele andere Kinder und deren Eltern möglicherweise die Endstation bedeutet oder sie zumindest viel länger als nur eine Nacht dort verbringen müssen. Ich fragte mich: „Wieso muss eigentlich immer etwas Schlimmes passieren, damit wir dankbar sind?“ Man muss zuerst krank werden, damit man dankbar ist, dass man einen gesunden Körper hat. Man muss zuerst etwas verlieren, damit man schätzen kann, was man zuvor gehabt hat. In dem Moment, als ich mit meinem Sohn das Krankenhaus verlassen konnte, nahm ich mir fest vor, dieses Gefühl der Dankbarkeit zu verinnerlichen. Eigentlich sollte ich jeden Morgen aufstehen und singen und tanzen vor Freude, dass ich einen so tollen, gesunden Sohn habe. Der Krankenhaus-Aufenthalt fiel in eine schwierige Zeit, weil Eliah ein Schreibaby und ich somit ziemlich am Anschlag war. Aber es half mir, zu sagen, dass er dafür gesund ist. Man muss versuchen, sich nicht immer so fest auf das Negative zu konzentrieren und sich immer wieder vor Augen halten, was im Leben eigentlich alles gut ist. Mir hat das auch im vergangenen Jahr, das so sehr durch Corona geprägt war, geholfen. Einfach zu sagen: „Es ist zwar mühsam mit all diesen Einschränkungen, aber wir sind in der Schweiz immer noch sehr privilegiert.“ Eigentlich sind wir Könige und wissen es oft nicht einmal.

Das erinnert mich an die Passage im Lied, in der du singst: „Send your sad face away / give your bad mood a break / on your golden throne.“

Ja, wir vergessen das viel zu oft. Wir Schweizer sind die Privilegiertesten der Privilegierten. Ein ehemaliger Studienkollege meines Mannes sagte mir einmal in einem Gespräch: „Wenn man sich vorstellt, dass es eine Insel auf der Welt gibt, auf der alle privilegierten Menschen wohnen, dann sitzen wir Schweizer im Turmgeschoss eines stattlichen Hauses, das auf dem Hügel dieser Insel liegt.“ Einfach weil wir Schweizer sind, weiss und gesund sind und einen Job sowie ein Einkommen haben. Wir nehmen das als selbstverständlich wahr, weil es unsere Normalität ist und wir nichts anderes kennen. Aber wenn man ein bisschen in der Welt herumreist oder die Augen aufmacht und schaut, was rundherum passiert, müsste eigentlich wirklich jeder hier in unserem Land am Morgen aufstehen und einfach mal eine Stunde lang aus Jubel schreien. Und das machen wohl die Wenigsten.

Letzte Frage: Was wünschst du dir fürs Jahr 2021?

Ich wünsche mir, dass wir wieder Konzerte spielen können. Aber auch, dass all die Ängste, die momentan in der Welt grassieren, wieder verschwinden: Angst vor Corona, Angst vor den Spätfolgen der Masken und Impfungen, Angst, jemandem zu nahe zu kommen oder in Bezug auf die Massnahmen, die ergriffen werden, etwas Falsches zu sagen und als Idiot abgestempelt zu werden. Wir konnten im September des letzten Jahres 10 Konzerte spielen. Es war zwar sehr schön, wieder vor Publikum aufzutreten und man merkte, dass die Konzertbesucher es einerseits unglaublich genossen – andererseits war dieses latente Angstgefühl omnipräsent. Deshalb finde ich, dass es keinen Sinn macht, irgendwelche Konzerte durchzustieren, wenn die Leute dann bibbernd mit Maske im Saal sitzen. So kann man es gar nicht richtig geniessen. Ich wäre froh, wenn dieses Angstmonster wieder aus unserem Alltag verschwinden würde, weil ich es sehr anstrengend finde. Auch wenn man nicht darüber spricht, ist die Angst sehr präsent. Wenn man auf dem Land ist und dort auf irgendeinem Hügel spazieren oder wandern geht, ist man zwar etwas davon entfernt, aber wenn man durch die Stadt läuft, schauen dich alle misstrauisch hinter ihren Masken an. Ich merke das bei mir selber: Man ist es gar nicht mehr gewohnt, wenn sich im Bus jemand neben einen setzt und hat dann gleich Angst, dass diese Person einem zu nahe kommen könnte.

Insbesondere, wenn die Person auch noch zu husten beginnt – obwohl sie sich möglicherweise nur verschluckt hat.

Oder einfach an einer normalen Erkältung leidet. Das gab es ja bisher in jeder Wintersaison. Man ist im Moment einfach wahnsinnig misstrauisch. Ich erhoffe mir mehr als alles andere, dass dieses Misstrauen und die Ängste irgendwann wieder verschwinden und man sich wieder unbeschwerter bewegen und begegnen kann.

Jaël beim Interview im Bellevue Palace Bern
Bild: © Cédric Monnier

Aktuelles Album:
„Sinfonia“ (Zealand Records), als CD und LP erhältlich.
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TV:
„Sing meinen Song – Das Schweizer Tauschkonzert“ mit Jaël, Seven, Dodo, Adrian Stern, Kunz, Ta’Shan und Beatrice Egli
Jeden Mittwoch, 20.15 Uhr, auf TV 24 (noch bis 21. April 2021)
https://www.3plus.tv/sing-meinen-song

Live:
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