Die wunderbare Welt der Teilchenphysik

Das Standardmodell mit seinen Lücken und Tücken

Dank den Fortschritten in Wissenschaft und Technologie der letzten Jahrzehnte können wir das Wesen der Materie erforschen. Aber wir sind noch weit davon entfernt, alles zu verstehen. Das zeigt auch eine erst vor wenigen Wochen publizierte Entdeckung: Wissenschaftler sind möglicherweise physikalischen Kräften auf der Spur, die bisher völlig unbekannt waren. Das „grosse Ganze“ von Materie, Raum und Zeit, in welchem wir uns befinden, überrascht uns immer wieder aufs Neue.

Es ist zwar eine der einfachsten Modellvorstellungen zum Aufbau der Materie. Dennoch ist das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchenphysik für Laien zunächst schrecklich kompliziert. Das Standardmodell ist Teil der sogenannten Quantenfeldtheorie und wurde so konzipiert, dass es den Gesetzen der speziellen Relativitätstheorie entspricht. Im Standardmodell werden die Erkenntnisse über die bekannten Elementarteilchen und drei der vier grundlegenden Kräfte der Physik zusammengefasst. Eine dieser Kräfte ist der Elektromagnetismus, die anderen sind die Kräfte, die im Atomkern wirken. Zusammen liefern sie eine konsistente Erklärung zum Aufbau der Atomkerne.

Die vier Grundkräfte der Physik
Soweit bisher bekannt, sind die vier Grundkräfte für alle physikalischen Phänomene in unserem Universum verantwortlich.
Die Gravitation sorgt dafür, dass sich Massen gegenseitig anziehen. Somit ist sie verantwortlich dafür, dass Sterne und Planeten entstanden sind und beispielsweise dafür, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht ziellos durchs Weltall schwebt.
Die elektromagnetische Wechselwirkung ist wie die Gravitation in unserem Alltag spürbar und ebenfalls allgegenwärtig. Wie der Name schon sagt, ist diese Wechselwirkung für elektrische und magnetische Phänomene verantwortlich.
Die starke- und die schwache Wechselwirkung sind Kräfte, die für den menschlichen Alltag kaum von Interesse sind, da sie sich nur in den Atomkernen abspielen. Die starke Wechselwirkung ist dafür zuständig, dass der Atomkern, trotz sich abstossender Elementarteilchen, zusammenbleibt. Hingegen sorgt die schwache Wechselwirkung u.a. für den radioaktiven Zerfall von gewissen Atomkernen.

In der Teilchenphysik wurden viele Entdeckungen gemacht, die vom Standardmodell vorhergesagt wurden. Wie beispielsweise das Higgs-Boson, welches von Peter Higgs 1964 berechnet und im Juli 2012 am CERN durch Experimente nachgewiesen werden konnte. Dies im Gegensatz zu weiteren Teilchen, die bisher nur postuliert wurden. So wie ein „Gravitationsteilchen“, das dereinst noch entdeckt werden könnte. Und für die Erklärung der dunklen Materie müssten sogenannte supersymmetrische Teilchen nachgewiesen werden.

Alle Elementarteilchen des Standartmodells im Überblick. Bild Wiki Commons, User MissMJ

Diese Entdeckungen und Nachweise „neuer“ Teilchen setzen neben den theoretischen Grundlagen auch eine entsprechende Technik zum Nachweis voraus. Eines der wichtigsten Instrumente dafür sind die Teilchenbeschleuniger.

Der Teilchenbeschleuniger und wozu man ihn braucht
Ein Teilchenbeschleuniger ist eine Anlage in welcher geladene Teilchen durch elektrische Felder auf grosse Geschwindigkeiten beschleunigt werden, je nach Teilchenart und Beschleunigertyp beinahe Lichtgeschwindigkeit. In einem Teilchenbeschleuniger werden Teilchen aufeinander oder Teilchen auf ein fixiertes Ziel geschossen. Mit Hilfe des Teilchenbeschleunigers möchte man die grundlegende Struktur von Materie und die vier fundamentalen Grundkräfte der Physik untersuchen.

Der grösste Teilchenbeschleuniger ist der LHC, der Large Hadron Collider der Forschungsinstitution CERN bei Genf. Das CERN ist das grösste Zentrum für die experimentelle Erforschung von Elementarteilchen und deren gegenseitige Wechselwirkung.
Seinen Namen hat das CERN vom französischen Namen des Rates, der die Organisation gründete, dem Conseil européen pour la recherche nucléaire.

Diesen Blick ins CERN erhält, wer an einer Besucherführung teilnimmt. Was „nach Corona“ bestimmt wieder möglich sein wird. https://visit.cern/

Was beim Zusammentreffen zweier Teilchen passiert
Wenn man wissen möchte, was in einem Überraschungsei drin ist, muss man dessen Schale aufbrechen. So ähnlich machen es Forscher mit Teilchen. So werden im LHC Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinander geschossen. Bei solch einer starken Kollision zerfallen die Protonen in Einzelteile und bilden neue kurzlebige Teilchen, wie beispielsweise Myonen und Photonen. Und es ist möglich, dass bei solchen Kollisionen weitere bisher unbekannte Teilchen entstehen. Ziel ist es, diese Teilchen zu entdecken, um somit den Aufbau unserer Materie besser verstehen zu können.

Erst kürzlich kamen Wissenschaftler einem solchen „neuen“ Teilchen auf die Spur, dem Odderon. Verantwortlich für dessen (rechnerische) Entdeckung ist ein Wissenschaftsteam um den TOTEM-Detektor beim LHC im CERN, sowie das Wissenschaftsteam vom DØ Detektor, das die Daten des Fermilab Tevatron Colliders im US-Bundesstaat Illinois ausgewertet hat. Die klaren Hinweise auf die Existenz des Odderons wurden am 16. März 2021 auf der offiziellen CERN-Website veröffentlicht. Doch vorhergesagt wurden das Teilchen bereits vor 50 Jahren.

Beim Odderon handelt sich um ein Teilchen, welches aus Gluonen besteht. Gluonen sind sogenannte Austauschteilchen und die Träger der starken Wechselwirkung. Das heisst, sie bewirken, dass die Bestandteile der Protonen und Neutronen, die Quarks „zusammenkleben“. Die starke Wechselwirkung ist zudem die Kraft, die Neutronen und Protonen im Atomkern zusammenhält.

Künstlerische Darstellung subatomarer „Teilchen“ von Tomislav Jakupec.
Für Teilchen, wie das Odderon, die aus mehreren Gluonen bestehen, wird die Bezeichnung “Glueballs“ verwendet, was ins Deutsche übersetzt “Klebbälle“ bedeutet.

Der (mögliche) Beweis der Existenz des Odderons war eine experimentelle Herausforderung und benötigte detaillierte Messungen von Protonen, welche bei hohen Energien voneinander abprallten.
Während die Entdeckung des Odderons bestens ins Standardmodell passt, gilt dies nicht für eine weitere mögliche Erkenntnis der letzten Zeit.

Gibt es eine fünfte Grundkraft?
Die ersten publizierten Ergebnisse des Muon g-2 Experiments im Fermi National Accelerator Laboratory des US- Energieministeriums zeigen auf, dass sich Myonen auf eine andere Weise verhalten, als das Standardmodell vorhersagt. Myonen sind eine dem Elektron ähnliche, elementare Teilchenart: Sie sind negativ geladen und die starke Wechselwirkung hat keinen Einfluss auf sie, sie sind aber rund 200-mal massereicher als das Elektron.

muon g-2
Für das Experiment wurde ein im Durchmesser 15 Meter grosser supraleitender magnetische Speicherring eingesetzt. 2013 wurde er von Long Island bis in die Vororte Chicagos transportiert. Dort konnten Wissenschaftler den Teilchenbeschleuniger vom Fermilab nutzen, um den intensivsten Myonen-Strahl der USA zu erzeugen.

Die im Experiment gemessenen Eigenschaften des Myons, weisen auf eine neue physikalische Grundkraft hin, die im bisherigen Standardmodell nicht enthalten ist. Das bedeutet, dass Myonen mit noch unentdeckten Teilchen und Kräften interagieren könnten.

Ringmagnet am Fermilab. Ursprünglich erstellt am Brookhaven National Laboratory auf Long Island (New York). Der supraleitende magnetische Speicherring ist das Herzstück des Experimentes, in welchem Temperaturen von -450°C herrschen.
Bild: Reidar Hahn

Myonen beinhalten so wie Elektronen einen inneren Magneten. Wenn ein Myon durch ein starkes Magnetfeld geschossen wird, begibt sich sein innerer Magnet in einen „Wackelzustand“ – ähnlich wie bei einem Spielzeugkreisel. Die Stärke des internen Magneten bestimmt die Geschwindigkeit, mit welcher das Myon in einem externen Magnetfeld präzediert. Sie wird als Zahl mit dem Namen g-Faktor beschrieben.

Die bisherigen theoretischen Werte des Standardmodells ordneten den Myonen einen g-Faktor von 2,00233183620(86) zu. Hingegen wurde beim Muon g-2 Experiment durchschnittlich ein Wert des g-Faktors von 2,00233184122 (82) gemessen.
Berücksichtigt man die Standardabweichung, ergibt sich daraus ein Hinweis, dass es sich um neue physikalische Grundkräfte handeln könnte, andere als unsere vier bisherig bekannten.

Nun stellt sich die Frage, ob sich mit dieser möglichen neuen Kraft eine von uns noch unentdeckte Welt eröffnet, welche für uns bisher nicht wahrnehmbar war. Das Mysterium des „grossen Ganzen“ birgt noch viel unbekanntes Wissen, dass es zu entdecken gilt.

Literatur zum Thema
Owe Philipsen; Quantenfeldtheorie und das Standardmodell der Teilchenphysik; Springer Spektrum, 2018.
Falls Sie sich für das Thema interessieren und noch mehr darüber wissen möchten, wird dieses Buch Sie gut einführen.

Im Netz

Einführendes Kurzgesagt-Video zum Thema Teilchen.
Höhepunkte des Jahres 2020 im CERN
Auch diese Forschung an der „B-Physik“ könnte das Fundament des Standardmodells ins Wanken bringen.
B-Physik meint die Physik der b-Quarks, also der bottom Quarks. Wenn diese kurzlebigen Teilchen zerfallen, entstehen zwar die Teilchen, die Physiker voraussagen, aber nicht in den erwarteten Verhältnissen. Würden sich die Messungen der letzten Jahre bestätigen, bedeutete dies, dass das Modell mit den vier Grundkräften überarbeitet werden müsste. Nach wie vor ist kein Durchbruch passiert und es ist offen, wie eine „neue Physik“ aussehen wird – einfach und verständlich oder unendlich kompliziert.




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