Schmerzlich schön.

Kein „Happy“, sondern ein „Great“ End: How We Know We’re Alive    

Gepriesen seien die Kolleg*innen des EDGE-Magazins. In der aktuellen Print-Ausgabe stolperte RUDOLF INDERST über deren Spieletipp How We Know We’re Alive. Das für Windows, MacOS und Linux erhältliche Point-and-Click-Adventure August Håkanssons entführt Sie in die äußerst stimmungsvolle, etwas verschrobene Welt einer Kleinstadt im schwedischen Bible Belt.  

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Der Kopf hinter How We Know We’re Alive, August Håkansson, erklärt auf der Spiele-Website: „HOW WE KNOW WE’RE ALIVE is a passion project among friends and completely free for everyone.“ Nicht nur angesichts der großen Begeisterung, die der Titel in mir auslöste, möchte ich gleich hier eingangs unterstreichen, dass Sie gerne auch mehr als einen Zwickel abtreten sollten, um das kleine Team zu unterstützen. Es ist eine Frage des Anstands. 

Es ist was faul im Staate…Härunga?

Es regnet. In Strömen. In einer kleinen Stadt hält ein Bus und eine junge Frau steigt aus – Sara ist zurück. Sie kennt diesen Ort. Er liegt nicht weit entfernt von Stockholm, wo sie jetzt lebt. Und doch könnten die Lokalitäten nicht unterschiedlicher sein. Die schwedische Hauptstadt gibt sich als die bekannte weltoffene Metropole im Norden Europas, während Härunga, das wir als Spieler*innen zunächst durch die Augen (und die Erzählung) Saras näher gebracht bekommen, ein religiös-dogmatisch-infiziertes, rückständig-verschlafenes Nest zu sein scheint. Immer noch Regen. Ginge es nach Sara, wäre sie vermutlich nie wieder zurückgekehrt. Doch es gibt einen konkreten Grund, einen…traurigen Anlass. Vor einem Jahr ist Saras beste Freundin Maria bei einem Unfall ums Leben gekommen. 

Doch einigermaßen schnell wird klar: Über die Freundschaft hatte sich bereits ein Schatten gelegt. Zusammen wollten die beiden ursprünglich ihre Heimatstadt verlassen, um in Stockholm als Starautorinnen in spe zu residieren, um in einem Rausch aus zu erschaffender Prosa und Lyrik in der großen modernen Stadt zu existieren. Doch es sollte anders kommen: Nur Sara war es schließlich, die die Abkehr praktizierte, während Maria schwanger in Härunga mit Freund Jakob zurückblieb – dieser Bruch war offenbar nicht mehr zu kitten, denn die emotionale Distanz Saras, die in Stockholm Texterin in einer Werbeagentur wurde (statt den nächsten Großen Amerikanischen Roman zu erschaffen), wird in den ersten Momenten des Spiels eindrücklich abgebildet. 

Während die Neu-Stockholmerin die Beerdigung Marias nicht besuchte (es bleibt offen, ob sie beruflich eingespannt war oder sich diesem finalen Abschied nicht stellen wollte), ist sie nun, pünktlich zum Todestag in die verhasste Kleinstadt zurückgekehrt und ihr Weg führt sie nun auf den Friedhof. Ihre Schritte im strömenden Regen und in der Dunkelheit geleiten sie an ihren Erinnerungsorten entlang: von der Polizeistation, über den Supermarkt bis zur Kirche – das narrative exploration game führt uns im sprichwörtlichen Vorbeigehen hier in „Land und Leute“ ein.    

Wie die Geschichte sich in den nächsten ca. 40 Minuten samt zweier Rückblicke auf die gemeinsame Zeit der Freundinnen entwickelt, sei an dieser Stelle nur kursorisch angedeutet: Durch vermeintliche Hinweise wähnt sich Sara recht plötzlich einer Verschwörung auf der Spur – war der Unfall Marias etwa gar keiner? Steckte etwas ganz anderes dahinter? 

Eine wunderbare Symbiose 

Stimmig. Das ist es, was zuerst auffällt. Das Murmeln der Stimmen, die Mono- und Dialog-Textboxen, die – wie Sie auf den Bildern unschwer erkennen können – pixelreiche, farblich großartig durchkomponierte Optik und die wunderbare Audio-Rahmung durch den Soundtrack Ivan Starenius‘ – das alles trägt zu der melancholischen Stimmung bei, die Spieler*innen von Sekunde eins an umfängt und einhüllt. Look and feel gehen eine gekonnte Verbindung mit der Erzählung ein, die in ihrer Inszenierung genau zu verstehen scheint, wie breit ein Pinselstrich sein kann, um gerade genug auszubuchstabieren, in welcher Beziehung Sara zu den Personen und Örtlichkeiten der Stadt steht.  

Als letztes Bild sehen wir Sara auf einem Autowrack sitzen und auf Härunga blicken. Wenn Erzählzeit und erzählte Zeit sich in etwa decken, hat sie in der letzten Stunde mehr über die Kleinstadt, ihre tote Freundin Maria und über sich selbst gelernt, als in ihrer gesamten Lebenszeit zuvor. Das ist es, was englischsprachige Kolleg*innen in ihren Besprechungen als „hitting hard“ bezeichnen und verstehen. Die Protagonistin blickt in diesen Sekunden auf etwas, das ihr alles gab und gleichzeitig alles nahm. Es könnte kein besseres Ende geben.  

 





Rudolf Inderst

*1978 in München. Lebte in Kopenhagen und verliebte sich. Doppelt promoviert, übernimmt er Verantwortung als Ressortleiter für digitale Spiele hier bei nahaufnahmen.ch. Liebt Stanislaw Lem, Hörspiele und Podcasts. Spielt Videospiele seit etwa 40 Jahren. Lehrt als Professor für Game Design mit dem Schwerpunkt Game Studies / Spielanalyse / Game Business an der IU und krault sich gerne seinen Bart.

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