Geboren am 1. August
Gedanken zum Nationalfeiertag
Die grösste Schweizer Fahne der Welt wurde gestern wieder entrollt. Am Säntis, 80 mal 80 Meter. Diese Meldung hat mich irritiert. Unweigerlich stellte sich mir die Frage: Wozu soll das gut sein? Das absurd grosse Format, der ganze technische und logistische Aufwand. Was wollen die Leute uns sagen, die so etwas planen und ausführen? Dass hier ist die Schweiz, beziehungsweise die Eidgenossenschaft ist? Will man sich der eigenen Identität versichern? Den Stolz ausdrücken Schweiz (er/in) zu sein? Natürlich, dieses Land ist ganz ok. Ich wäre dumm, dies nicht anzuerkennen. Gerade mit Blick in andere Weltgegenden ist es mir hier äusserst wohl.

Als ich zur Schule ging, verstand ich die Schweiz-Kritik oft ein wenig übertrieben und ungerecht. Es lief doch bei uns besser als anderswo. Nun, vielleicht ist es eine Frage des Alters, aber man verliert nicht nur das Interesse an 1. August-Raketen und Lampions mit Schweizerkreuz. Auch merkt man, dass die Kritik am Land durchaus berechtigt war und es nach wie vor ist. Die weniger schönen, ja hässlichen Seiten der Schweiz darf man keinesfalls ausblenden.
Ausserdem lernt man auch, dass Kritik einen helfen kann, sich zu verbessern, wenn man sie annimmt und nicht ungehört und empört abwehrt. Und etwas weiteres passiert beim Älterwerden: Der eigene Geburtstag wird weniger wichtig. Warum also soll es mit dem Geburtstag des Heimatlandes anders sein. Zunehmend suspekt wird mir ein Land, dass sich selber feiert. Denn das Festen dient unter anderem dazu, sich der Illusion zu versichern, dass man ganz und gar unabhängig und frei sei. Das ist natürlich Quatsch.
Klar haben wir kulturelle Eigenheiten und eine gewisse politische Eigenständigkeit. Das alles ist mir durchaus sympathisch: so gehe ich sehr gerne wählen und abstimmen. Aber da wären eben noch die gewaltigen globalen Probleme, denen wir uns nicht entziehen können. Die bevorstehende Klimakrise ist nur eine der Bedrohungen. Sie wird uns mit voller Wucht treffen, nachdem wir jahrzehntelang nichts für den Klimaschutz unternommen haben.
Natürlich bestünde theoretisch die Möglichkeit, das Schlimmste noch abzuwenden. Aber allzu viel Hoffnung habe ich nicht. Man muss sich nur den Ansturm auf die Ferienflüge ansehen, um zu erkennen, dass den Menschen ein paar Tage „Spass“ offenbar wichtiger sind als ihre Zukunft.
Die 80-mal-80-Meter-Fahne werden wir in Zukunft also doch noch gut gebrauchen können: um sie als schattenspendendes Segel aufzuspannen. Dies und die Tatsache, dass sie anregt, darüber nachzudenken, wozu sie gut ist und wozu die Nation feiert: Das sind die wahren Gründe für die absurd grosse Schweizerfahne am Säntis. Das hätte ich nicht gedacht, als ich die Meldung hörte.
Einen schönen 1. August – mit der Hoffnung auf viele weitere.