Der gefälschte Mensch

Ein Hobbyforscher narrt die Wissenschaft

Eine grosse Entdeckung zu machen, davon träumen wohl zahlreiche Wissenschaftler und Forscherinnen. Doch nur den wenigsten gelingt es – warum also nicht ein wenig nachhelfen?
Das fragte sich möglicherweise der englische Hobbyforscher Charles Dawson im Jahr 1912. Möglicherweise, weil nie restlos geklärt wurde, ob wirklich er der (alleinige) Drahtzieher hinter einer der spektakulärsten Täuschungen der Wissenschaftsgeschichte war.

Am 18. Dezember 1912 präsentierte der Amateur-Archäologe Charles Dawson zusammen mit dem renommierten Paläontologen Arthur Smith Woodward einen sensationellen Knochenfund: Fossile Überreste einer bis dahin unbekannten Menschenart, die vor 500’000 Jahren gelebt haben soll. Das Alter leiten sie ab von den andern in derselben Schicht gefundenen Fossilien.

Gruppenbild mit Gans: Am Ort des Sensationsfundes wird weitergegraben.
Foto: Nils Jörgensen, 1912

Woodword fertigte aus den Schädelfragmenten und einem Unterkiefer zudem eine Rekonstruktion eines ganzen Schädels an, der dem eines modernen Menschen schon recht ähnlich sah und beweisen sollte: Wir haben das fehlende Glied zwischen Affe und Mensch gefunden!

Bereits einige Jahre zuvor, so behauptete Amateurforscher Dawson, seien erste Fragmente des Schädels aufgetaucht, in einer Kiesgrube beim Dorf Piltdown im Süden Englands (rund 20 km Luftlinie von Brighton entfernt). Zusammen mit Woodward fand Dawson weitere Fossilien, scheinbar zum ersten Fund dazugehörend, sowie diverse Tierknochen.

Die Entdeckung warf hohe Wellen. Und sie wurde vor allem in England mit Begeisterung aufgenommen: Dass ein derart alter Mensch ein Engländer war, schmeichelte dem Nationalstolz – die Wiege der Menschheit lag dort, wo man sie sich schon immer ersehnt hatte.

Die Untersuchung der Piltdown-Knochen: links vom Mann, der den Schädel vermisst, steht Charles Dawson, rechts Arthur Smith Woodward. Dass vom Ereignis 1915 ein Gemälde erstellt wurde, unterstreicht die Bedeutung des Fundes. Der Maler ist John Cooke.

Widerspruch unerwünscht
Und so, vielleicht auch weil man in England an die Geschichte glauben wollte, wurden Ungereimtheiten und kritische Fragen beiseite geschoben. Schon 1913 melden der Schotte David Waterston und 1915 der französische Paläontologe Marcellin Boule Zweifel an. Beide vermuten, der Kiefer stamme von einem Affen und der Schädel von einem modernen Menschen.

Aber erst 1953 wurde die Fälschung definitiv von einem Team britischer Paläoanthropologen aufgedeckt und der Piltdown Man vom Sockel gestossen. In den 41 Jahren, die er als echt galt, verfälschte er die Theorien zur Herkunft und Evolution des Menschen.

War es wirklich Dawson?
Irgendjemand, vielleicht der bereits 1916 verstorbene Dawson, hatte die Welt an der Nase herumgeführt. Die Knochen stammten nicht von einem 500’000 Jahre alten Urmenschen sondern von einem modernen Menschen sowie einem Orang Utan. Von diesem hatte der Fälscher den Unterkiefer geborgt und die Zähne so zurechtgefeilt, dass sie menschlich erschienen. Die Kochen waren mit Chemikalien so behandelt, dass sie den Anschein hohen Alters erhielten.

Der Kiefer des angeblichen „Piltdown-Menschen“, der von einem Orang Utan stammt. Gefunden wurden die grauen Teile, die weissen wurden rekonstruiert. Der Fälscher hatte die fehlenden Teile des Kiefers wohl selbst weggebrochen, weil sie nicht zum Rest des (menschlichen) Schädels passten.

Nach vier Jahrzehnten war es nicht mehr ganz einfach, den Urheber der Fälschung zu entlarven. Am ehesten in Frage kam und kommt Charles Dawson. Einerseits, weil er bei allen Funden anwesend war und man nach seinem Tod auch keinerlei weiteren vergleichbaren Entdeckungen in Piltdown machte. Andererseits hatten sich im Nachhinein auch dutzende andere seiner Funde als Fälschungen erwiesen.

Suspekt ist auch, warum Arthur Smith Woodward die Fälschung nicht aufgefallen ist, bzw. warum er die Knochenfragmente nicht genauer untersucht hat. Der Verdacht liegt nahe, dass er entweder am Betrug beteiligt war oder zu sehr an die Sensation glauben wollte.

Dies vielleicht, weil durch die Entdeckung auch etwas von deren Glanz auf ihn abfiel. Möglicherweise aber auch weil ein Britischer bzw. Englischer Urmensch bisher fehlte.

Und diese Lücke füllte endlich der Fund in Piltdown. An diversen Stellen auf dem Globus stiess man in den Jahrzehnten zuvor bereits auf fossile Menschenknochen. Diese Entdeckungen wollten eingeordnet werden in die relativ neue Frage nach Herkunft und Entwicklung des Menschen – der sich der Wissenschaftszweig der Paläoanthropologie angenommen hatte.

Eine neue Wissenschaft, die ihre Geburt nicht zuletzt einem ziemlich zufälligen Ereignis verdankt. Blenden wir rund ein halbes Jahrhundert zurück, zum bis heute weltbekannten Fund der ersten Neandertaler-Knochen 1856.

Der Mensch ist nicht (mehr) einzigartig
Damals wurde im Tal des Flüsschens Düssel Kalkstein abgebaut. Das Tal war benannt nach dem reformierten Geistlichen Joachim Neander, der im 17. Jahrhunderts die damalige Schlucht oft besuchte. Im Zuge des industriellen Kalkabbaus ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Schlucht zerstört. Dabei wurden von Arbeitern in einer Grotte jedoch 16 Knochenfragmente eines Menschen gefunden. Diese unterschieden sich von denen eines Menschen der Neuzeit.

Das Flüsschen Düssel durchliesst das heutige Naturschutzgebiet Neandertal.
Foto J. & N. Suchorski, Quelle: wikimedia

Der zum Fund im Neandertal hinzugezogene Naturforscher Johann Carl Fuhlrott postulierte, dass es sich bei den menschlichen Überresten, um solche eines vorsintflutlichen Menschenstamms handelte. Selbst diese aus heutiger Sicht vorsichtig formulierte These, wurde von zahlreichen Kollegen abgelehnt.

Für sie waren die Knochenfunde aus dem Neandertal bloss das Skelett eines kranken, missgebildeten Menschen. Eine andere Menschenart konnten sie sich schlicht nicht vorstellen, geschweige denn einen Vorfahren des heutigen Menschen. Charles Darwin sollte seine Evolutionstheorie erst rund drei Jahre nach dem Fund vorlegen. Sie würde zwar die Frage nach der Entwicklung von Arten und damit des Menschen auf eine neue Grundlage stellen – aber nicht gerade von heute auf morgen uneingeschränkt akzeptiert werden.

Für den Fund aus dem Neandertal postulierte 1864 der irische Geologe William King eine eigene Menschenart, den Homo neanderthalensis. Bestätigt wurde diese These rund 22 Jahre später. Damals fand eine Gruppe um die Archäologen Marcel De Puydt und Max Lohest in einer Höhle im belgischen Spy zwei fast vollständige Skelette. Sie konnten beide eindeutig dem Homo neanderthalensis zugeordnet werden. Ebenfalls 1886 beschrieb der Brite George Busk einen 18 Jahre zuvor in Gibraltar gefundenen, gut erhaltenen Schädel und konnte auch ihn als Neandertaler identifizieren.

Die Grotte von Spy, Béche-aux-Roches, war Fundort zweier Neandertaler-Skelette 1886. In den
Jahren 2004 und 2006 wurden hier weitere Neandertaler-Knochen ausgegraben.

Damit war nun zumindest für die Wissenschaft klar: Der Mensch hatte einen Verwandten – von dem nichts in der Bibel stand. Kirchliche Kreise konnten mit derlei Erkenntnissen selbstredend weiterhin nichts anfangen. Für sie besass der Mensch eine (gottgegebene) Sonderstellung, an der es nichts zu rütteln galt.

Woher kommt der Mensch?
Der deutsche Mediziner und Philosoph Ernst Haeckel nahm die Evolutionstheorie in seine eigenen Theorien zur Abstammungslehre auf. Darin postulierte er unter anderem, dass der Mensch wohl in Südostasien entstanden sei. Nicht zuletzt aufgrund dieser Annahme, reiste der Niederländer Eugène Dubois auf die indonesische Insel Java. Dort entdeckte er im Jahr 1891 fossile Knochen eines Menschen – eine Schädeldecke, beide Oberschenkelknochen und Zähne. Die Überreste werden heute der Art Homo erectus (javaensis) zugeordnet, zunächst waren sie unter dem Namen „Java-Mensch“ populär.

Die von Eugène Dubois 1891 entdeckten Knochen des „Java-Menschen“. Der später als Homo erectus bezeichnet werden sollte.

Zusammen mit den Erkenntnissen der Evolutionstheorie bildeten die Funde der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert eine Diskussionsgrundlage über die Entstehung des Menschen. Eine der Fragen, die sich stellte: Wann in der Ahnenreihe hatte sich das relativ grosse Gehirn des Menschen entwickelt? Die einen waren der Meinung, dass dies schon sehr früh geschehen sein müsse, bevor der Mensch gehen und jagen gelernt habe. Die anderen postulierten, dass sich andere Merkmale wie das Gebiss zuerst haben entwickeln können, das grosse Gehirn sei erst später dazugekommen.

Und hier kommt wieder der Piltdown-Mensch ins Spiel: Denn dieser belegte genau die These, dass das Grossgehirn ziemlich am Anfang der Entwicklung stand. Dass der Mensch sich also schon sehr früh vom Affen getrennt habe, damals schon sehr menschenähnlich und etwas ganz besonderes gewesen sei. Einer der bedeutendsten Verfechter dieser Idee des sogenannten Dawn Man war Henry Fairfield Osborn.

Die Überlegenheit des Europäers
Aus heutiger Sicht kommt man nicht umhin, Fairfield Osborn und den Anhängern seiner Theorien zu unterstellen, sie seien wohl nicht immer streng wissenschaftlich vorgegangen. Vielmehr beeinflusste wohl ihr Menschenbild, ihre Weltanschauung, was sein sollte und was nicht. Man darf ihnen durchaus eine confirmation bias (einen Bestätigungsfehler) vorwerfen: Alles was ins Weltbild passte, wurde akzeptiert, alles andere ignoriert.

So hat Fairfield Osborn Funde aus Afrika, die seiner Theorie widersprachen, nicht beachtet. Hierbei mitgespielt haben könnten vielleicht seine Ansichten zu Menschen anderer Hautfarbe. Heute würde man sie als verstörend rassistisch bezeichnen. Er war überzeugt, dass die nordische bzw. angelsächsische „Rasse“ die am höchsten entwickelte sei. Auch wenn er bei weitem nicht der Einzige oder Einflussreichste mit eugenischen Ideen war, so färbten seine Thesen nachweislich auch auf Adolf Hitler ab.

Somit ist der Piltdown-Mensch nicht bloss ein kleiner Schabernack geblieben. Vielmehr zeigt er geradezu beispielhaft auf, wie Wissenschaft missbraucht werden kann. Für eigene Interessen und Ideologien statt für den Erkenntnisgewinn der Menschheit. Bereits vor über hundert Jahren wurde also gefälscht und gelogen und nicht erst seit neuestem. Auch wenn sie wenig überraschend ist, zumindest diese Erkenntnis verdanken wir heute den Fälschern von Piltdown.

Im Netz

SWR2 Zeitwort: Der Piltdown-Fund von 1912.

Artikel im Guardian von 2012 (englisch)





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