Traumaforschung.

Ein Interview mit Thomas Spies

Über das Medium der digitalen Spiele findet zunehmend eine Auseinandersetzung mit psychologischen Traumata statt. Posttraumatische Belastungsstörung, Krankheit und Tod sowie Depressionen und Phobien sind hierbei vorherrschende Themen und Motive. Zu diesem Thema hat Autor Thomas Spies geforscht und promoviert – wir sprachen mit dem Wahlkölner über sein Buch Trauma im Computerspiel.

Rudolf Inderst (RI): Lieber Thomas Spies, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, um über Ihr im Frühjahr 2022 erschienenes Buch* mit uns zu sprechen. Bevor wir auf den Titel selbst zu sprechen kommen, wäre es schön, wenn Sie sich unseren Leser:innen vorstellen könnten. 

Thomas Spies (TS): Gerne. Ich habe Germanistik, Biologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften in Mainz studiert und arbeite bis heute auch als Gymnasiallehrer. Seit 2011 wohne ich in Köln, wo ich schließlich mein lebenslanges Hobby zum Beruf machte und am Institut für Medienkultur und Theater der Universität Köln zum Thema Videospiele promovierte. Daraus resultierte das Buch, um das es im Interview gehen soll.

Aber darüber hinaus bleibe ich meinem Hobby beruflich nicht nur über einen Lehrauftrag treu, so plane ich gerade als Mitherausgeber einen Sammelband zu kritischen Spielbetrachtungen. Über vielstimmige Beiträge wollen wir beleuchten, wie Videospiele als Medium, ihre Produktion, Konsumtion und Rezeption, mit sozialen, historischen sowie kulturellen Strukturen in einem Spannungsfeld stehen. Kritik meint dabei auch eine systemische Gesellschafts- und Kapitalismusanalyse, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzeigen will und verdeutlicht, wie diese durch Videospiele aufrechterhalten, (re-)produziert oder herausgefordert werden. Mit dem Band brechen wir auch die bestehenden Produktionsstrukturen auf, vor allem durch den Einbezug von freischaffenden Autor:innen, die nicht akademisch angestellt sind. Da es für deren Honorare keinerlei Förderprogramme gibt, haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, die gerade mit Erfolg angelaufen ist. Abseits der Theorie bin ich leidenschaftlicher Spieler geblieben und habe die virtuelle Fotografie für mich entdeckt.

RI: Ich möchte gerne in das Jahr 2011 zurückspringen. In Ihrer Einleitung ist zu lesen, dass ein Spiel namens Trauma aus eben jenem Jahr „exemplarisch für eine Phase der allgemeinen Öffnung des Spielemarktes in Bezug auf ernsthafte, erwachsene Inhalte“ stehe. Das ist eine schöne These, wie ich finde – könnten Sie uns das bitte einmal näher aufschlüsseln?


TS: Die Ursprünge dieser Öffnung sind in der Finanzkrise von 2008 zu suchen, von der auch die Spieleindustrie betroffen war. Aufgrund der Rezession mussten viele Entwicklungsstudios schließen oder ihre Teams verkleinern. Infolgedessen bildeten sich zahlreiche Independent-Unternehmen, die mit kleinem Budget (und damit reduziertem finanziellen Risiko) Spieletitel auf den Markt brachten. Insbesondere aus dem Bedürfnis heraus, sich von der Masse abzuheben, hatten viele dieser „Indie“-Produktionen den Anspruch, eine bisher unbesetzte Nische zu besetzen. Sie wollten ein breiteres emotionales Spektrum abbilden, um eine Spielerfahrung für ein reiferes, erwachsenes Publikum anzubieten und somit eine neue Zielgruppe erreichen.

Da dieses Konzept sehr erfolgreich war, griffen es in den Folgejahren große Entwicklungsstudios auf und banden thematisch wie spielmechanisch eben auch tiefgehende Emotionen und Gefühle wie Verlust, Schuld oder Depression ein. Somit kam es auch aus marktökonomischen Überlegungen heraus zu einem Emotional Turn, der auch hoch budgetierte Spieleproduktionen erfasste.

Seit der Emotionalen Wende sehen sich mehr Videospiele in der Verantwortung, auch Erfahrungen außerhalb der Lebens- und Vorstellungswelt des männlichen, weißen (nicht traumatisierten) Spielers zu vermitteln. Meiner Meinung nach sollte die Empathie, die gegenüber den Protagonist:innen des Spiels ermöglicht wird, nicht nur Raum lassen für ein emotionales Einfühlen, sondern vor allem auch ein rationales Eindenken in die repräsentierte Situation. Denn so fühlen wir nicht nur mit, sondern beginnen bestenfalls realweltlich zu handeln und gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen und zu verändern.

RI: Essentiell in Ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema „Trauma“ scheint eine Definitionsfindung bzgl. des virtuellen Körpers und seiner Verbindung mit dem Körper der Spieler:innen. Wie packten Sie diesen Komplex in Ihrer Arbeit an?

TS: Für mich war es wichtig, den Begriff des Körpers neu zu denken, um zu verstehen, wie wir mit Videospielen interagieren. Wie wir über den Spielakt, also die Interaktion mit dem Spiel, traumatische Situationen nicht nur als Zeug:innen, sondern ebenso als Partizipierende erleben und gleichzeitig das „Erspielte“ reflektieren können. Ich nähere mich dem Körper vor allem über die Kognitionswissenschaften an, die zunächst die Trennung von „Geist“ und „Körper“ aufheben und zudem unser Sein in der Welt immer in Relation zu unserer Umwelt sehen.

Das Konzept lässt sich auf den spielenden Körper übertragen: Wir sind über ein Eingabegerät mit einem Avatar als leibliche:r Stellvertreter:in in der virtuellen Welt verbunden, der:die damit zu einer Art Körpererweiterung wird. Spielende befinden sich somit in einer komplexen Doppelrolle: Sie sind physisch weiterhin in der Realwelt, psychisch aber ein Stück weit in der Spielumgebung (auf die sie mitunter auch physisch reagieren und zum Beispiel vor Schreck zusammenzucken).

Wenn man nun eben Psyche und Körper als Einheit denkt, ist es durch die Aus- oder Verlagerung unseres Selbst in die Spielwelt möglich, intensive Erfahrungen wie eine Traumatisierung tiefgehender zu vermitteln, als es beispielsweise das passive Medium Film könnte. Dabei kann sich natürlich dem Trauma nur repräsentativ angenähert und nicht der Anspruch erhoben werden, dieses in seiner ganzen Komplexität wiederzugeben.

RI: Sie entschieden sich dafür, Ihre theoretische Vorarbeit im Untersuchungsteil u.a. auf die beiden Titel Hellblade: Senua’s Sacrifice und Disco Elysium zu münzen. Können Sie uns zur Ihrer Spiel-Auswahl bitte Auskunft geben?    

TS: Beide Titel wurden von eher kleinen Entwicklungsstudios produziert – Hellblade: Senua’s Sacrifice 2017 von Ninja Theory aus England und Disco Elysium 2019 von ZA/UM, die in Estland ansässig sind. Die Produktionen hatten jedoch den Anspruch, qualitativ mit großen Studios mitzuhalten und haben dies, zahlreichen Kritiken zufolge, auch geschafft. Semi-unabhängig entstanden, haben die Titel aber auch gemeinsam, sich einem Thema ernsthaft anzunähern, und so setzen sie sich vielschichtig, aber über unterschiedliche Genres und Perspektiven, mit Trauma auseinander. Die beiden Videospiele stehen für mich als Repräsentanten einer komplexen Trauma-Repräsentation.

Ninja Theory strebte, auch durch den Einbezug von Expert:innen und Betroffenen in den Entwicklungsprozess, eine akkurate und möglichst stereotypenfreie Repräsentation der durch eine Psychose veränderten Wahrnehmung und Verarbeitung der Realität an. Das Narrativ des Action-Adventures Hellblade: Senua’s Sacrifice folgt der vor über 1000 Jahren lebenden keltischen Kriegerin Senua, die aufbricht, um im Totenland der nordischen Wikinger die Seele ihres toten Geliebten aus den Fängen der Todesgöttin Hela zu reißen. Senua hört Stimmen, die über ein aufwändiges Verfahren als binauraler 3D-Sound wiedergegeben werden. Spielmechanisch sind die inneren Stimmen, wie auch Senuas visuelle Halluzinationen, vielfach eingebunden und erleichtern oder erschweren die Orientierung in der Spielumgebung. Senuas Wahrnehmung der Welt wird dabei ernst genommen und nicht, wie bei vielen anderen medialen Repräsentationen, einer angenommenen Realität entgegengestellt. Darüber hinaus wird gezeigt, wie nicht unbedingt die Halluzinationen traumatisierend für sie wirken, sondern die Stigmatisierung durch die Gesellschaft, die sie misshandelt und ausgrenzt.

Auch Disco Elysium beleuchtet die psychosoziale Dimension von Trauma aus einer subjektiven Perspektive. Protagonist Harry erwacht nach einer durchzechten Nacht ohne Erinnerung in einem Hotelzimmer der fiktiven Stadt Revachol. Mit ihm zusammen müssen wir nicht nur das Rätsel seiner Identität, sondern auch einen Mordfall lösen. Der zunächst klassisch anmutende Plot entpuppt sich im Spielverlauf als ebenso einzigartig wie die Spielmechanik: Angelehnt an klassische Rollenspielsysteme wie Dungeons & Dragons kämpfen wir allerdings nicht gegen feindliche Kreaturen, sondern innere Dämonen. Harrys Gedanken werden durch 24 Bewusstseinsanteile repräsentiert, die wie unterschiedliche Persönlichkeiten miteinander in Dialog treten und auch in Widersprüche geraten. Es wird zunehmend klar, dass Harrys Vergangenheit von persönlichen Traumatisierungen durchzogen ist, die sich in der nicht minder traumatisierten Gesellschaft von Revachol spiegeln. Erst über die Erkenntnis, dass sein subjektives Schicksal stets mit dem der Gemeinschaft verknüpft ist, kann Harry schließlich zu einer Sinnhaftigkeit seiner Existenz zurückfinden.

Sowohl Hellblade: Senua’s Sacrifice als auch Disco Elysium beschäftigten also sich mit unterschiedlichen Repräsentationsformen von individuellem sowie soziokulturellem Trauma und zeigen auf, dass eine hier oft angenommene Binarität nur scheinbar existiert: Die Traumatisierung eines Subjekts (und die mediale Repräsentation) steht immer in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen.

RI: Vielen Dank für das Gespräch! 

 

*Disclaimer: Das Buch wurde Rudolf Inderst vom Verlag bereitgestellt.

Weitere Informationen zu Thomas Spies:

Website: www.thomseips.com

Crowdfunding-Kampagne: https://gofund.me/672f5c16

Research-Gate-Account: https://www.researchgate.net/profile/Thomas-Spies-3

Instagram: @digital_stranger_ 





Rudolf Inderst

*1978 in München. Lebte in Kopenhagen und verliebte sich. Doppelt promoviert, übernimmt er Verantwortung als Ressortleiter für digitale Spiele hier bei nahaufnahmen.ch. Liebt Stanislaw Lem, Hörspiele und Podcasts. Spielt Videospiele seit etwa 40 Jahren. Lehrt als Professor für Game Design mit dem Schwerpunkt Game Studies / Spielanalyse / Game Business an der IU und krault sich gerne seinen Bart.

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