Interview mit Jaël

„Der Lockdown gab mir Raum zum Heilen“

Bild: © Mirjam Kluka

Jaël ist mit ihrem neuen Folk-Pop-Album „Midlife“, mit viel Liebe fürs Detail und Stilsicherheit von Cyrill Camenzind produziert, ihr persönlichstes, berührendstes, schönstes Werk gelungen. Ein Album als Standortbestimmung, das nach dem Hören lange nachhallt und aufgrund der wichtigen, aber oft tabuisierten Themen der Songs die volle Aufmerksamkeit erfordert, will man es in seiner ganzen Tiefe erfassen. Nahaufnahmen.ch traf die Berner Musikerin deshalb zu einem ausführlichen Gespräch über Panikattacken, depressive Phasen, Mobbing, Selbstsabotage und Selbstakzeptanz, das Vertrauen auf das Bauchgefühl, den Aufbruch in eine neue Ära sowie ihre Wiederbegegnung und erneute Zusammenarbeit mit Luk Zimmermann zehn Jahre nach dem Ende von Lunik.  

Von Christoph Aebi 

Dein neues Album „Midlife“ ist eine Standortbestimmung in der Lebensmitte, die in einem analysierenden Rückblick und in tiefer Dankbarkeit endet. In den Liner Notes zum Album schreibst du, dass die Geburt deines Sohnes Ende 2017 und die darauffolgende Zeit eine grosse Herausforderung für dich waren, weil dein Sohn ein High Need Baby war und zudem Ereignisse aus deinem früheren Leben wachgerüttelt wurden, die du lange verdrängt glaubtest. Welches Ereignis war das Einschneidendste?

Das waren die Panikattacken, die mich dazu brachten, gewisse Dinge aus meiner Vergangenheit nochmals anzuschauen. Als ich Mitte zwanzig war, litt ich zum ersten Mal an Panikattacken, nach einem sexuellen Übergriff, den ich erlebt hatte und den ich nun im Song „Paralyzed“ auf dem neuen Album thematisiere. Ich hatte mich über die Jahre immer wieder damit auseinandergesetzt und hatte deshalb eigentlich nicht das Gefühl, den Übergriff verdrängt zu haben. Und irgendwann, als die Panikattacken aufhörten, dachte ich, dass ich von diesem bösen Geist sozusagen befreit bin. Doch nach der Geburt meines Sohnes kamen die Panikattacken wieder. Ich deute es für mich so, dass plötzlich eine Diskrepanz bestand zwischen meinem Körper, der mir zu verstehen gab, dass er eigentlich aus dieser Situation nur noch weg möchte und dem Umstand, dass ich die Situation wegen des Babys nicht einfach verlassen konnte, sondern dableiben musste. Ich hatte das Gefühl, der Situation ausgeliefert, gefangen und nicht mehr Herrin meines Körpers zu sein. Damals beim Übergriff war es ähnlich, als ich dem Instinkt meines Körpers nicht folgen konnte, aus einer Situation rauszugehen, wenn es einem nicht wohl ist. Durch die Geburt meines Sohnes kam ich also in eine ähnliche Situation, mein Körper hatte ein Déjà-vu und ich erlebte eine Art Retraumatisierung. Die Panikattacken traten oft auch auf der Bühne auf, gerade bei den Konzerten nach den ersten Lockdown-Phasen. Als hochsensible Person spürte ich die Ängste und die Unsicherheiten der Konzertbesucher sehr stark. Allgemein war in der Zeit der Pandemie sehr viel Unsicherheit da. All diese Erlebnisse und auch die freie Zeit, die ich im Lockdown hatte, brachten mich schliesslich dazu, nochmals über die Bücher zu gehen, weil ich solche Panikattacken nicht bis ans Ende meiner Tage erleben möchte. Das ist sehr mühsam und anstrengend. Und dann nagte, was den sexuellen Übergriff betrifft, auch immer wieder das Gefühl der Mitschuld an mir. Für mich war es wichtig, dass ich dafür eine Erklärung finden und dieses Gefühl gehen lassen konnte.

Ich finde es sehr stark, dass du in „Paralyzed“ neben den Gefühlen des Ausgeliefertseins und der Schockstarre auch die Scham und die Selbstvorwürfe thematisierst, welche Opfer von sexuellen Übergriffen häufig haben, weil sie sich fragen, wieso es so weit kommen konnte und weshalb sie sich nicht aus dieser Situation befreit haben. Wie hast du es geschafft, dich von diesen Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu befreien

Für mich war es sehr wichtig, zu merken, dass ich mich eigentlich gut auf meine Intuition verlassen kann. Meine Intuition hatte mir damals, kurz bevor der sexuelle Übergriff geschah, schon recht schnell zu verstehen gegeben, dass ich in dieser Situation und mit dieser Person nicht sicher bin. Ich war damals aber noch jung und vertraute meiner Intuition leider nicht. Die Frage, wieso ich damals meiner Intuition nicht folgte, beschäftigte und schmerzte mich noch lange Zeit. Es war deshalb in den letzten Jahren eine gute Übung für mich, immer wieder zu spüren, was mir mein Bauchgefühl sagt und bei wichtigen Themen in meinem Leben meiner Intuition zu folgen, denn die ist richtig. Als junge Frau fühlte ich mich oft sehr unsicher, das hatte mit meinem mangelnden Selbstwertgefühl zu tun. Es half mir deshalb, zu verstehen, dass das Nichtvertrauen auf mein Bauchgefühl mit meiner damaligen Unsicherheit zusammenhing und dass ich heute anders reagieren könnte. Und wahrscheinlich reagierte ich in der Situation damals einfach so, wie ich reagieren musste. Im Nachhinein erfuhr ich, dass der Mann, der übergriffig geworden war, psychisch krank und gewalttätig war, dass eine ehemalige Partnerin von ihm mehrmals die Polizei kommen lassen musste. Für mich war es in jenem Moment, als der Übergriff geschah, wohl das kleinere Übel, aus Angst, was noch Schlimmeres geschehen könnte. Die Frage nach der Mitschuld oder danach, wie sehr man sich selber in eine Situation hineinmanövriert oder dabei mitgemacht hat, sind Themen, die man glaube ich nur nachempfinden kann, wenn man selber einmal in einer solchen Situation war. Als aussenstehende Person kann man gut sagen, man würde anders reagieren, nicht mitgehen oder die Situation wieder verlassen. Aber die Schockstarre in einem solchen Moment können andere oft nicht nachvollziehen. 

Du schreibst in den Liner Notes, dass du hoffst, dass der Song anderen Frauen mit ähnlichen Erfahrungen Mut gibt sowie die Gewissheit, mit dem Erlebten nicht allein zu sein. Ich denke, das ist auch bei Männern der Fall, denen so etwas schon einmal widerfahren ist. 

Ja, es gibt auch sehr viele Männer, die das erlebt haben. Mehrere Männer in meinem näheren Umfeld, sagten mir, dass sie die im Song beschriebene Situation ebenfalls kennen. Das hätte ich nicht gedacht. Es ist so wichtig, dass man die andere Person im Vorfeld fragt, wie weit man gehen darf, dass man Abmachungen trifft und weiss, dass nur ein Ja ein Ja bedeutet. 

Es ist mutig, dass du dieses Lied an den offiziellen Schluss des Albums gesetzt hast, einerseits wegen des Themas, andererseits auch weil es einen sehr langen, sphärischen Instrumentalteil mit etwas unheimlichen Synthesizer- und Streicherklängen beinhaltet, welcher an die frühen Lunik erinnert. Wie ist dieser Instrumentalteil entstanden?

Für die Vorbereitung der Produktion war ich zusammen mit meinem Pianisten Cédric Monnier, meinem Gitarristen Domi Schreiber und meinem Produzenten Cyrill Camenzind mitten im Winter im Grandhotel Giessbach, als dieses für die Öffentlichkeit geschlossen war. Irgendwann nahmen wir uns spätabends nach dem Essen noch einmal diesem Song an. Die Situation im Hotel fühlte sich an wie in einem Film von David Lynch. Wir suchten nach der Richtung, in die das Lied musikalisch gehen sollte und fanden, dass diese 80s-Synth-Sounds gut passen würden. Das Repetitive des Instrumentalteils, das fast eine Art Mantra ist, dünkte uns so stimmig, dass wir noch viel länger jammten, als das nun auf dem Album zu hören ist. Obwohl der Instrumentalteil ein bisschen wie ein Fremdkörper wirkt, musste er auf das Album, gerade weil er so abgefahren ist. Deshalb entschied ich auch, dass dieses Lied das Album offiziell abschliessen soll. Anschliessend folgen noch ein Remix von „To Miss You“ sowie ein Radio-Edit von „Untouched by Grey and Rain“. Dies haben wir erst im Nachhinein so entschieden. Zuerst wollten wir die beiden Tracks nur digital veröffentlichen. Ich fand jedoch, dass sie ebenfalls auf das Album gehören. Das Album hat musikalisch, aber insbesondere thematisch eine grosse Bandbreite. Es ist kein Konzeptalbum, sondern ich schreibe einfach darüber, was mich in meinem Leben bewegt und dann versuche ich, das richtige musikalische Kleid dafür zu finden.

Stand auch zur Diskussion, nicht nur die Demos, sondern das ganze Album im Grandhotel Giessbach einzuspielen? Sina hat ihr letztes Album „Ziitsammläri“ dort aufgenommen und erzählte mir in einem Interview, dass dies eine wunderbare Erfahrung gewesen sei, weil man dort im Gegensatz zu einem traditionellen Aufnahmestudio so richtig in die Musik eintauchen konnte, ohne abgelenkt zu werden. 

Wir spielten anlässlich eines Konzertes im Grandhotel Giessbach. Bei dieser Gelegenheit erzählte mir der Direktor Mark von Weissenfluh, welche Künstler in der Winterzeit schon im Hotel waren, um ungestört an Songs zu arbeiten. Sie nennen das „Record, Rehearse, Recreate“: Aufnehmen, Üben, Kraft tanken. Ich fand spontan, dass dies eine sehr gute Idee ist. Es war für mich jedoch auch klar, dass ich das neue Album mit Cyrill Camenzind als Produzenten machen wollte, der als Studio Manager in den Powerplay Studios in Maur beheimatet ist. Ich hatte deshalb das Gefühl, dass es Sinn machte, für die Aufnahmen in sein Arbeitsumfeld, seine Welt zu gehen. Er produzierte bereits mein letztes Album „Sensibeli“ mit Mundart-Kinderliedern, mir gefiel sein Sound und ich fand die Atmosphäre in seinem Studio sehr stimmig. Wir wussten auch, dass Sina und ihre Band ihr Album im Grandhotel Giessbach aufnehmen wollten, sie trafen gleich am Tag nach unserer Abreise im Hotel ein. Zum Üben und Entwickeln der Songs aber war das Hotel ein wunderbarer Ort. Wir hatten das zuvor schon einige Male gemacht, waren im Ideenhaus in Seelisberg oder einem Künstleratelier in Gockhausen. Es ist sehr schön, neue Songs in einer solchen Atmosphäre erarbeiten zu können. 

Ist deine Zusammenarbeit mit dem Produzenten Cyrill Camenzind durch deine Teilnahme bei „Sing meinen Song – Das Schweizer Tauschkonzert“ entstanden, bei der er Musical Supervisor war? 

Ich fragte Cyrill bereits für die Produktion meines Albums „Nothing to Hide“ an und wir sassen zusammen, um diese zu besprechen. Schliesslich musste ich die Zusammenarbeit aber wieder absagen, weil ich damals mit dem Baby so überfordert war und mir nicht vorstellen konnte, für die Aufnahmen jedes Mal von Bern nach Maur zu fahren. Als wir für „Sing meinen Song“ zusammengearbeitet haben, merkte ich, dass er für mein geplantes Mundart-Kinderalbum „Sensibeli“ der perfekte Produzent wäre. Ich wollte für das Album einen organischen, fein produzierten Sound mit vielen akustischen Gitarren und wusste, dass das sein Metier ist, da er auch oft in Nashville gearbeitet hatte. Bei der Arbeit an „Sensibeli“ merkten wir, dass wir sehr gut harmonieren und ihm machte die Arbeit ebenfalls sehr viel Spass. Deshalb fanden wir, dass es schön wäre, auch das nächste Album zusammen zu realisieren. Wir sind ein gut eingeschliffenes Team. Er nahm bei den neuen Songs zum Teil auch als Songwriter Einfluss, deshalb war er bei der Vorbereitungszeit im Grandhotel Giessbach ebenfalls bereits dabei. Zusammen mit meinem Pianisten Cédric Monnier und meinem Gitarristen Domi Schreiber ergab das einen sehr guten Mix. Alle brachten ihre eigenen Vorlieben ein, Cyrill beispielsweise einen sehr folkigen Sound, Domi mag Indie-Musik. Das ergab eine sehr schöne Mischung, die für mich durchaus drin liegt in meinem Verständnis der Musikwelt – einen farbenfrohen musikalischen Blumenstrauss sozusagen. 

Bild: © Mirjam Kluka

Mich erstaunte, dass das neue Album im Gegensatz zu deinen vorherigen Solo-Alben eher gitarren- als pianolastig ist. War dies ein bewusster Entscheid oder ist das bei den Aufnahmen einfach so passiert? 

Das war kein bewusster Entscheid, sondern ergab sich durch die Zusammenarbeit mit Cyrill, da er stark in diese Richtung zog. Wir bewegten uns etwas weg von den Synthesizer-Sounds, die bei Lunik und meinem ersten Solo-Album „Shuffle the Cards“ im Zentrum standen. Kürzlich aber bereiteten wir uns einige Tage für kommende Konzerte vor und es wird nun live bei gewissen Songs eher wieder in die atmosphärische Richtung gehen. Es ist alles offen, da ich sowohl die Folk-, Pop- als auch die sphärischen Klänge sehr gerne habe. Mir war auch relativ schnell klar, dass das Album mit „Aynone but Us“ beginnen und der Song eine grosse Klavierballade werden soll, wie beispielsweise „Slide“ von Lunik. Fast auf jedem meiner Alben hat es eine solche Ballade, weil sie gut mit meiner Stimme harmonieren.

„Anyone but Us“ ist ein sehr eindringlicher, atmosphärischer Einstieg, obwohl das Lied einen Tiefpunkt thematisiert. Es beginnt mit den Zeilen „No more strength, no more hope / Down down it goes“. In den Liner Notes schreibst du, dass die zwei ersten Jahre mit deinem Schreibaby so anstrengend waren, dass dadurch auch die Beziehung zu deinem Mann litt. Im Lied heisst es weiter: „I can’t believe we are stranded in this situation / We thought anybody could end up in but surely never us“. Wie habt ihr aus dieser Krisensituation wieder herausgefunden?

Für unsere Familie und unsere Partnerschaft kam der Lockdown genau zur richtigen Zeit. Wir verbrachten sehr viel Zeit zusammen. Mein Mann Roger war daheim im Home Office,  durch die gleitenden Arbeitszeiten haben mal er, mal ich gearbeitet und bei schönem Wetter gingen wir oft mit unserem Sohn nach draussen an die frische Luft. Es war für mich eigentlich die Idealvorstellung von Familienleben, wie ich es mir immer gewünscht hatte, immer war jemand da und es tat uns wahnsinnig gut, dass wir viel Zeit zum Schwatzen hatten. Eliah war damals auch bereits 2 ½ Jahre alt, es wurde wieder etwas leichter mit ihm und ich kam langsam wieder zu Kräften. Zuvor hatte ich noch zwei Bandscheibenvorfälle und eine aktivierte Osteochondrose gehabt, sowohl physisch als auch psychisch kam einfach alles zusammen. Ich hatte Angst, die nächsten 40 Jahre mit solchen schlimmen Schmerzen leben zu müssen. Der Lockdown und die vielen Spaziergänge gaben mir Raum zum Heilen. Es war sehr schön, zu merken, dass sich der Körper wieder regenerieren kann. Zwischendurch ging ich alleine in den Bandraum und dokterte an dem „Sensibeli“-Projekt herum. Das gab mir wieder Luft, um zu merken, dass ich nicht nur Mutter eines Schreibabys, sondern auch noch Musikerin bin. So habe ich meinen Weg zurück zu meinem Jaël-Dasein gefunden, in dem ich die Rollen als Ehefrau, Mutter, Tochter und Musikerin vereine. Vorher schob die Aufgabe als Mutter alles andere auf die Seite.

Nach dem „Sensibeli“-Album mit Mundart-Kinderliedern ist auf „Midlife“ nun der erste Mundart-Song für Erwachsene, „IiTii“, zu finden. In dem Song sind mehrere Thematiken verpackt. Einerseits geht es darum, sich als hochsensitive Person auf diesem Planeten oft ein bisschen fremd, falsch oder anders zu fühlen. Es ist aber auch eine relativ scharfe Analyse unserer aktuellen Gesellschaft, in der mit nichtigen Worten viel und laut geredet wird, auch wenn man keine Ahnung hat, und einer Welt, die schnell, laut und auf Leistung getrimmt ist und in der Geld das höchste Gut ist. Auf dem Album findet sich neben der fertigen Studio-Version ein Demo des Songs und mir fiel auf, dass es textlich einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen den beiden Versionen gibt. In der Studio-Version singst du „Verchouf di guet / zeig wo d überau scho bisch gsy / tue geng so aus chämtisch du drus / u wärsch vou derby“. In der Demo-Version heisst es hingegen „Verchouf di guet / und lueg zerscht mau für di / tue geng so / aus würdisch du glücklich si.“ Das ist fast noch ein bisschen schärfer. Wieso hast du dich entschieden, diese Zeilen noch zu ändern? 

Ja, die Zeilen in der Demo-Version sind härter. Jene in der fertigen Version sind nun eher ein Seitenhieb auf die sozialen Medien, in denen es oft darum geht, sich zu verkaufen und ständig zu zeigen, wo man gerade ist. Das ist für mich relativ schwierig. Sich selber zu präsentieren und in das beste Licht zu rücken, ist etwas, das Hochsensible generell nicht so gut können. An diesem Lied habe ich lange herumgedoktert. Es gab wohl etwa zehn verschiedene Versionen. Bei den Zeilen „Tue geng so / aus würdisch du glücklich si“ der Demo-Version hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich das schon mit „Done with Fake“ auf dem Album „Nothing to Hide“ thematisiert hatte. Und mir fehlte schliesslich in „IiTii“  noch der Aspekt des Sichselberverkaufens. Die Thematiken sind miteinander verwandt: Sich selber zu verkaufen geht in unserer Gesellschaft natürlich besser, wenn man immer lächelt und so tut, als wäre man jederzeit gut drauf. Auch wenn es falsch und aufgesetzt ist. Und dann finden sich auch noch Aspekte der Corona-Pandemie in dem Song. Es war eine Zeit, in der jeder meinte, alles besser zu wissen. Ich habe wahnsinnig gelitten, weil plötzlich jeder den anderen runtermachte und der Graben zwischen den Menschen, die sich für jeweils etwas anderes entschieden hatten, immer grösser wurde und dabei die Solidarität flöten ging. Mich machte das fix und fertig. Ich hatte den Eindruck, dass jedes Mal, wenn die Menschheit mit einer Herausforderung konfrontiert ist, die Angst macht, die Menschen mit einem Gefühl der Überlegenheit und Ablehnung gegenüber all jenen reagieren, die anders sind oder anders denken. Ich fragte mich: „Wieso lassen wir einander nicht einfach leben?“. Alle taten so, als hätten sie die Wahrheit gepachtet, dabei wusste niemand nichts. Ich musste mich aus diesen Diskussionen immer zurückziehen, weil ich merkte, dass es gar keine Rolle mehr spielt, auf welcher Seite man steht. Da dachte ich, dass jetzt der richtige Moment für den Song, der eine sehr lange Entstehungsgeschichte hat, gekommen ist.

Es war in jener Zeit oft kaum mehr möglich, die ideologischen Gräben zu überwinden. 

Seien wir ehrlich: Keiner wusste damals was in zehn Jahren sein wird, weder was das Virus noch was die Impfung betrifft. Und doch spielten sich auf beiden Seiten Leute auf, als wären sie Zeitreisende und hätten als Einzige die Wahrheit gepachtet.

Am Text von „IiTii“ schrieb auch Dodo mit, der in „Sing meinen Song“ in der gleichen Staffel wie du teilnahm. Welche Inputs gab dir Dodo als Mundartexperte für diesen Song? 

Dodo und ich könnten unterschiedlicher nicht sein und trotzdem schloss ich ihn während der Dreharbeiten zu „Sing meinen Song“ sehr ins Herz. Er ist einfach ein cooler Typ. Ich fand, es wäre ein Experiment, mit Dodo zu arbeiten, weil das niemand erwarten würde. Deshalb überlegten wir, den Song zusammen aufzunehmen oder einen Remix zu machen und wir waren effektiv gemeinsam bei ihm im Studio. Es wäre wohl der radiotauglichste Song und das Aushängeschild des Albums geworden. An einem gewissen Punkt machte ich jedoch einen Rückzieher, weil ich merkte, dass der Song in jener Version wohl eine breitere Masse angesprochen hätte, es aber nicht die musikalische Welt gewesen wäre, in der mein Publikum, das mich seit Jahren begleitet, zu Hause ist. Was hätte es genützt, wenn die breite Masse in meinem Publikum sitzen und eine Stunde warten würde, bis wir „IiTii“ in einer akustischen Trio-Version spielen? Diese hätte ihnen dann womöglich nicht gefallen, weil sie die R&B-Pop-Version erwartet hätten, die der musikalischen Welt von Dodo entspricht. Das war ein Entscheid, den wohl viele Leute nicht verstehen, weil sie denken, ich hätte damit einen Hit verschenkt. Aber ich habe in diesem Fall meiner Intuition vertraut, die mir sagte, es wäre zwar cool, das Lied in jener Version zu singen. Als ich sie mir aber anhörte, war es, wie wenn eine andere Künstlerin das Lied singen würde. Und mir ist wohl auch der Erfolg eines einzigen Songs zu wenig wichtig. Deshalb zog ich jene Version wieder zurück. Aber gewisse Zeilen daraus sind in der nun veröffentlichten Version geblieben, so sind beispielsweise „u glich wei sie geng meh, nähme geng meh / immer meh meh bis nümme meh“ ganz klar von Dodo. Die wären mir so nicht in den Sinn gekommen und ich finde sie super. Sie sagen alles, was gesagt werden muss. Dodo findet einfache Formulierungen für Dinge, die ich viel komplizierter sagen würde. Er ist sackstark darin, etwas sehr prägnant auszudrücken. Ich merkte, dass ich als Mundart-Texterin noch nicht so geübt bin. Vielleicht sind deshalb meine Mundart-Texte auch etwas anders, als man sie gemeinhin aus dem Genre kennt.

Du hast einmal in einem Interview gesagt, dass du dich aus Ehrfurcht vor Überfiguren wie Mani Matter oder Kuno Lauener lange gar nicht getraut hättest, Mundart-Songs für Erwachsene zu texten. „IiTii“ hat seinen Ursprung bereits im Jahr 2013, als du dir zu deinem ersten Soloalbum Gedanken machtest. Wie konntest du die Ehrfurcht nun überwinden?

Ich glaube, dass mich die Arbeit am „Sensibeli“-Album befreit hat. Ich machte mir dazu keine grossen Gedanken, sondern wollte einfach Musik für Kinder kreieren mittels jener Sprache, die ich im Alltag mit meinem Sohn verwende. Einer Sprache, die eine Mutter benutzt, wenn sie mit ihrem sensiblen Kind spricht oder dieses mit ihr. Ich merkte, dass das wunderbar funktioniert und dies ermutigte mich, auch einen Erwachsenen-Mundart-Song auf meine Art zu machen, ohne an allfällige Erwartungen von aussen zu denken.

Zum Lied gibt es ein sehr schönes Video, das du mit dem Regisseur Luki Frieden gedreht hast, in dem du in einem Astronautenanzug durch eine mystische Waldlandschaft läufst, auf eine Lichtung zu, in der ET seine Aufwartung macht. Wer hatte die Idee zu diesem Video-Clip? 

Luki hatte bereits beim Video zu „Done with Fake“ aus dem Album „Nothing to Hide“ Regie geführt. Ich wollte ihn für dieses neue Album wiederum für ein Video anfragen und hatte das Gefühl, „IiTii“ wäre perfekt für ihn. Deshalb schickte ich ihm den Song und fragte, ob er Zeit und Lust habe. Ich hatte das grosse Glück, dass er ein grosser Fan des ET-Films von Steven Spielberg ist und sogar einen ET bei sich zu Hause hat. Er sagte deshalb sofort zu. Ursprünglich hatten wir für den Videoclip eine andere Idee: Wir wollten die wilde, laute, leistungsorientierte Welt zeigen und mich mittendrin. Das hätte aber ein Casting mit vielen Schauspielern und Schauspielerinnen und einen komplizierteren Dreh bedingt und wäre finanziell eine Riesenkiste geworden. Dann kam uns die Idee, statt der wilden Welt einfach meine Innenwelt und meinen Wunsch, von hier wegzugehen, zu zeigen. Luki hat einen Hund, geht viel mit diesem spazieren und kannte deshalb die perfekte Location, wo wir das Video zusammen mit dem Kameramann Timon Rupp relativ schnell drehen konnten. Zu dritt ergab sich dadurch eine Intimität auf dem Set, die wir schon bei „Done with Fake“ hatten, was ein Glücksfall war. Das Video ist für mich so viel stärker, als wenn wir die ursprüngliche Idee umgesetzt hätten. 

Auch zu „Perfect to Me“, dem ersten Song, der aus diesem Album veröffentlicht wurde, gibt es ein visuell sehr starkes Video. Du verbindest in dem Song mehrere Themen: Einerseits schöpft das Lied aus deiner eigenen Geschichte und thematisiert depressive Phasen, die du in deinen jüngeren Jahren durchlebt hattest. In den Liner Notes schreibst du, dass der Songwriting-Prozess nach dem Schreiben der ersten Strophe und einer ersten Refrain-Version stockte. Einige Tage später erfuhrst du vom unerwarteten Selbstmord einer lieben Bekannten. Die zweite Strophe und der Refrain handeln nun von ihr. In der ersten Strophe finden sich die Zeilen „Ever since they called you names / it will always stay the same“. Ich musste beim Lesen dieser Zeilen sofort an Mobbing denken, ein wichtiges Thema, über welches man heute zum Glück offener spricht als früher. Hast du als Jugendliche Mobbing erlebt?

Heute würde man das, was ich erlebt hatte, wohl so bezeichnen. Damals war ich einfach eine Aussenseiterin. Auf dem „Sensibeli“-Album gibt es den Song „Mir sy drü“, der auf meiner Geschichte basiert und davon handelt, nicht so richtig dazu zu gehören und das Gefühl zu haben, falsch oder zumindest anders zu sein. Ich gehörte nie zu den Hippen und Trendigen, machte Ballett und war sehr lange flachbrüstig, was natürlich in der Pubertät schwierig war. Ich wuchs in Bern-West auf, einer Gegend mit einem sehr hohen Ausländeranteil. Dort gab es Gruppierungen, zu denen man entweder dazu gehörte oder nicht. Ich eher nicht. Ein Gefühl von Zugehörigkeit empfand ich erst, als ich anfing, in verschiedenen Bands zu singen. Zuvor hatte ich immer das Gefühl, etwas abseits zu stehen. Ob das der Grund für die depressiven Phasen in meinem Leben war, kann ich nicht sagen. Mit meinem heutigen Wissen, dass ich hochsensibel bin, denke ich, dass ich damals wohl einfach andere Bedürfnisse hatte, mich deshalb auch gerne ab und zu mit einem Buch zurückzog, was als nicht so cool galt. Es war mir vieles zu schnell, zu laut und ich fühlte mich wirklich oft fehl am Platz. Das geht für mich alles Hand in Hand. Das Thema beschäftigt mich jetzt gerade wieder sehr, weil mein Sohn nun in den Kindergarten geht. Ich war zweimal dabei, als sie mit dem Kindergarten einen Morgen im Wald verbrachten. Wenn man sich eine Kindergartengruppe anschaut, sieht man schnell, dass sich schon in diesem Alter Peergroups bilden: Es gibt die Grüppchen von jenen, die dazugehören, die vielleicht auch etwas lauter sind. Und es gibt jene, die eher etwas feiner sind und irgendwo am Rande stehen. Letztere waren mir eigentlich am sympathischsten. 

Im Song kommen auch die Vorwürfe zur Sprache, die sich die Zurückgebliebenen machen, wenn jemand im Umfeld Suizid begeht und die zermürbenden Fragen, die sie sich stellen, nach dem Warum und ob man etwas hätte tun können, um den Suizid zu verhindern. Welche Rückmeldungen hast du bisher zum Song erhalten?

Die Feedbacks, die ich bisher bekommen habe, haben mich sehr berührt. Viele Menschen sagten oder schrieben mir, dass ihnen das Lied sehr gut getan habe, auch Leute, von denen ich weiss, dass sie durch Suizid einen Elternteil oder einen Partner verloren haben. Im Moment, in denen ich die Songs schreibe, schreibe ich sie eigentlich nur für mich. Das tönt jetzt ein bisschen egoistisch, ist aber so. Aber wenn ein Song einmal veröffentlicht ist, ist es sehr schön, zu merken, dass sich andere Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, abgeholt, verstanden und einen Moment lang dadurch geborgen fühlen, dass ich mein Herz ausschütte. Es sagen mir auch oft Leute, dass sie bei gewissen Liedern von mir zwischendurch eine Pause einlegen müssen, weil ihnen die Tränen kommen, jedoch immer mit dem Nachsatz, dass dies eine gute Reaktion sei und die Tränen eine reinigende Wirkung hätten. Ich merke, dass ich offenbar einen Herzdraht zu Menschen habe, bei denen durch meine Musik etwas heilen darf. Das finde ich sehr schön und ist eigentlich der Grund, wieso ich Musik mache. Man kann zwar einwerfen, dass ich mit meinen Songs Seelen-Striptease betreibe, indem ich meine Gefühle mit der Öffentlichkeit teile. Aber dadurch, dass die Lieder anderen helfen, kann ich am Schluss des Tages, wenn ich ins Bett gehe, sagen, dass ich vielleicht heute für jemanden die Welt ein ganz kleines bisschen besser gemacht habe. Und dieses Gefühl ist mehr wert als alles andere.

Das sehr berührende Video zu „Perfect to Me“, in dem ein feines Tuch durch leere Räume gleitet und so die Abwesenheit eines Menschen symbolisiert, der gerade noch da war, hat der Regisseur Luzian Schlatter in Florenz gedreht. Wie kam es dazu? 

Luzian drehte vor 20 Jahren bereits das Video zum Lunik-Song „Through your Eyes“. Seither habe ich nicht mehr mit ihm gearbeitet, aber immer wieder verfolgt, was er macht. Für „Perfect to Me“ hatte ich einfach das Gefühl, dass ich ihn fragen sollte. Er fand den Song super und kam gleich mit einer Idee für das Video an. Diese handelte von einer Person, die ins Wasser geht. Irgendwie ging mir das aber zu nahe und fühlte sich für mich nicht gut an. Schliesslich hatte er die Idee mit dem Tuch, das durch die Räume gleitet und somit die Erinnerung, den Geist der Person und schliesslich die Abwesenheit dieses Menschen symbolisiert und all die Fragen und Überlegungen, die im Raum stehen. Alle Möbel und alle Gegenstände sind noch in den Räumen zu sehen und vermitteln das Gefühl, dass da bis vor kurzem noch jemand die Räume bewohnt hat und dann plötzlich nicht mehr. Luzian kannte die Location in Florenz und wollte unbedingt dort drehen. Da ich damals noch im Wochenbett lag, fuhr er ohne mich nach Florenz. Er schickte mir immer wieder Aufnahmen, um zu zeigen, woran er mit der Crew gearbeitet hatte. Ich liess ihm jedoch freie Hand. Schliesslich schickte er mir den fertigen Clip. Als ich ihn mir zum ersten Mal ansah, hatte ich Gänsehaut und die Tränen flossen. Der Clip war und ist schlicht und einfach perfekt.

Das auf dem Album an „Perfect to Me“ anschliessende Lied „To miss You“ birgt eine sehr schöne Überraschung. Zum ersten Mal seit dem Ende von Lunik vor 10 Jahren hast du wieder mit Luk Zimmermann einen Song geschrieben. In den Liner Notes erwähnst du, dass du einfach Lust hattest, wieder einmal mit ihm zusammenzuarbeiten und dir das gemeinsame Schreiben gefehlt hatte. Hast du die Initiative für die erneute Zusammenarbeit ergriffen und wieviel Überzeugungskraft hat es dafür gebraucht? 

Meine Mutter schickte mir eines Tages einen Screenshot eines Artikels der Berner Zeitung, in dem stand, dass Luk Zimmermann für ein Songwriting-Camp mit einer jungen Zürcher Sängerin zusammenarbeitet, die Yaël Zimmermann heisst. Ich schaute mir den Artikel an und musste wegen der Ähnlichkeit der Namen schmunzeln. Da ich zu jener Zeit ebenfalls mit dem Schreiben von Songs beschäftigt war, schickte ich ihm einfach eine Mail, und schrieb, falls er Interesse und per Zufall gerade einen Song rumliegen habe, solle er mir den doch schicken, ich sei ja schliesslich auch immer noch Sängerin. Das war die Initialzündung, dass wir uns wieder einmal persönlich getroffen und sehr lange geredet haben. Wir hatten quasi eine grosse Aussprache. Schliesslich schickte er mir zwei Instrumentals, wofür ich die Texte schrieb. Wir mailten uns die Songskizzen hin und her und hatten beide das Gefühl, dass es wunderschön und wie ein Heimkommen war. Die Lieder tönten wie Lunik und wir überlegten, allenfalls eine Mini-EP mit ein paar Songs zu machen, einfach weil wir beide wieder Lust bekommen hatten, gemeinsam Songs zu schreiben. Dann kam die Pandemie und es ergab sich irgendwie nicht. Als ich fürs neue Album mit Cyrill im Studio war, verspürte ich jedoch den Wunsch, „To miss You“ fürs Album aufzunehmen und fragte Cyrill, ob wir nicht eine neue Version dieses Songs kreieren könnten, die das Album abrunden würde. Das machten wir schliesslich und es passte. Die ursprüngliche Version mit Luk fand ich aber ebenfalls immer noch sehr schön und fragte deshalb Luk, ob er nicht die Demo-Version noch fertig produzieren könnte. So ist das Lied nun auch in dieser zweiten Version auf dem Album vertreten und wir haben beide sehr grosse Freude daran. Es ist wie eine Art Gruss aus der Vergangenheit – und vielleicht auch der Zukunft, wer weiss? Auf alle Fälle stiess diese Zusammenarbeit die Türen wieder auf und wir merkten, dass wir es noch können. Vielleicht entstehen noch mehr Lieder zusammen. 

Die Lyrics des Songs beinhalten eine Art Dualität: Sie beschreiben etwas, das glänzend schön ist, aber gefährlich, etwas wovon man angezogen ist, das aber schmerzt. Woher kam die Inspiration für diesen Song? 

Wenn ich früher Songs für Lunik geschrieben habe, ging es mir eigentlich meistens nicht so gut. Es war eine sehr stürmische Zeit: Ich war mit der Ablösung von meinen Eltern beschäftigt, führte eine verrückte Beziehung, litt an Depressionen und fügte mir selber Verletzungen zu. All dies und gleichzeitig der Erfolg mit Lunik waren zuviel für mich. Als ich „To miss You“ schrieb, fiel ich gedanklich wieder voll und ganz in jene Zeit meines Lebens zurück. Irgendwie war das sehr schön und wie ein Heimkommen, aber trotzdem merkte ich, dass ich dort nicht mehr hin will. In Songs wie „Slide“ und „Falling Again“ beschrieb ich bereits den Sog, sich im Leid zu suhlen. Ich merkte, dass diese Seite von mir immer noch da ist. Aber ich weiss heute ganz klar, dass ich das nicht mehr will und dass ich als Mutter in einem solchen Zustand auch nicht funktionieren könnte. Ich musste mich bewusst für jenes oder ein anderes, neues Leben entscheiden. Ich fällte die Entscheidung, mich gesund zu ernähren, gehaltvoll zu trinken, früh aufzustehen, zu meditieren und merkte, dass es durchaus geht, Musik zu machen, ohne zu leiden. Es war zwar schön, fast wie in einer Art Drogen-Flash in dieses Leid einzutauchen, aber ich merkte auch, dass ich einen Weg finden muss, solche Songs zu schreiben, ohne dass es nachher wieder Folgen hat – mich also nur fürs Songwriting in diese Stimmung zu begeben, ihr aber anschliessend auch wieder zu entrinnen. Für „To miss You“ setzte ich mich mit dem Instrumental von Luk hin, begann zu singen, fragte mich selber, was ich im Moment spüre und schrieb diese Gefühle sogleich auf. Der Song beschreibt quasi das, was ich gesucht habe. Er berührt mich sehr, wenn ich ihn höre, weil ich merke, dass das im Song Beschriebene ein Riesenthema in meinem Leben ist. Kürzlich sagte ein Bekannter zu mir, er glaube, sein Problem, dass er nie eine Partnerin finde, sei dadurch bedingt, dass er Verliebtsein irgendwie mit Leiden in Verbindung setze. Aus meinen jüngeren Jahren kenne ich das sehr gut, dass man eine gewisse Intensität sucht, nicht nur in der Liebe, sondern in allen Belangen des Lebens. Man will alles so intensiv erleben, dass man die krassen Hochs und Tiefs dabei in Kauf nimmt. Man kann sagen, dass nur dies das wahre Leben ist. Oder man kann die Meinung vertreten, dass es vielleicht längerfristig gesünder ist, wenn die Wellenbewegungen etwas weniger stark ausschlagen. Das mögen andere nun als bieder bezeichnen, aber ich bin lieber bieder, dafür gesund. Mein früheres, intensives Leben war einfach sehr selbstzerstörerisch. Die Hochs waren wunderbar, aber die Tiefs sehr destruktiv. 

„New Era“ ist für mich das Schlüssellied des neuen Albums. Es entlässt einen in eine sehr hoffnungsvolle Stimmung und der Refrain mit den Textzeilen „I’m leaving all the bad things behind / that doesn’t mean I’m turning a blind eye / but from now on light on feet / I feel shamelessly complete“ ist eine Art Mantra. Es geht in dem Lied um Selbstakzeptanz und darum, zu sagen, dass das, was im Leben geschehen ist, einen zu der Person gemacht hat, die man ist und dass es gut ist, so wie man ist. Wieso ist es so schwierig, an diesen Punkt zu gelangen, an dem man sich selber akzeptiert?

Es gibt Menschen, die sich schon sehr früh so akzeptieren, wie sie sind. Ich nehme an, dass es einerseits eine genetische Veranlagung dafür gibt, es andererseits auch damit zu tun hat, wie man aufwächst und durch das Elternhaus geprägt wird. Ich hegte lange einen kleinen Groll gegen meine Eltern, dass ich in Bern-West aufgewachsen bin, weil ich das Gefühl hatte, dass wir dort einfach nicht hinpassten. Als ich das Lehrerseminar besuchte und viele Leute kennenlernte, die in Dörfern aufgewachsen waren und Freunde hatten, die sie bereits seit Kindergartentagen kannten, merkte ich, dass mir das fehlte. Der Groll ist aber heute weg, weil ich das Gefühl habe, dass meine Kindheit und Jugend trotz der Umgebung auch anders hätte sein können. Für mich brauchte es einfach eine gewisse Zeit, da hinzukommen, wo ich jetzt stehe: den richtigen Mann sowie die richtigen Freunde zu finden und Kinder zu haben. Menschen, bei denen ich das Gefühl habe, richtig zu sein, so wie ich bin. Und auch zu erfahren, dass meine Musik ganz vielen Leuten Freude macht und gut tut. Wichtig war aber auch, zu merken, dass das Gefühl der Selbstakzeptanz in einem selber immer mehr wachsen kann und nicht von aussen abhängig sein muss. Es tut zwar gut, von aussen positives Feedback zu erhalten, um zu spüren, dass ich das Selbstwertgefühl bei mir wachsen lassen darf. Dafür reicht manchmal schon ein einziger Mensch, der einfach für einen da ist. Schliesslich muss man aber selber den entscheidenden Schritt machen und seinen Weg gehen. Ich habe heute das Gefühl, dass das, was ich mache, Bedeutung hat. Und zwar nicht nur mit meiner Musik, sondern auch mit meinen Kindern und den wenigen, aber sehr guten Freunden. Ich sehe meine Freunde zwar eher selten, aber dann ist es sehr intensiv. Es ist eine Art, Freundschaften zu pflegen, die für mich stimmt. Bei meinen Kindern versuche ich, für sie da zu sein und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie geliebt sind, damit sie ein gutes Selbstwertgefühl bekommen. Das gebe ich ihnen mit auf den Weg in der Hoffnung, dass sie, sollten sie im Kindergarten oder in der Schule gehänselt werden, trotzdem mit Überzeugung sagen können: „Ich bin gut, so wie ich bin.“ Das Gefühl, dass man nicht automatisch denkt, dass man selber falsch ist, sondern vielleicht auch der andere falsch liegen kann, muss ja von irgendwoher kommen. Und es ist natürlich ein bisschen schwierig, wenn man das selber nicht so empfindet. Deshalb ist es für mich jetzt schön, dass ich zumindest heute so fühle und das hoffentlich auch weitergeben kann. Ich bin immer noch jemand, der sehr selbstkritisch ist. Wenn es Meinungsverschiedenheiten oder Streit gibt, suche ich den Fehler als Erstes bei mir, nicht bei der anderen Person. Bei mir sitzt die Frage danach, was ich wohl wieder falsch gemacht habe, sehr tief. Aber man kann mit der Zeit lernen, zu sich selber lieb zu sein. Manchmal denke ich, so gemein wie zu mir selber würde ich sonst zu niemandem sein. Und das ist eigentlich falsch. Man sollte aufhören, sich selber zu sabotieren. Das Lied handelt davon und ist ein Aufbruch in eine neue Ära. Ich werde wohl nie so selbstbewusst sein wie beispielsweise Beatrice Egli oder Dodo, die einfach hinstehen und sagen können: „Hier bin ich!“. Das wäre auch nicht mein Wesen – aber ich würde mir gerne eine Scheibe davon abschneiden. 

Aktuelles Album:

„Midlife“ (Zealand Records / Phonag Records), erhältlich als Doppel-CD (mit 12 neuen Songs, Live-Aufnahmen der letzten akustischen Trio-Tournee und zwei Demo-Versionen) und als Doppel-Vinyl-Album (mit 11 neuen Songs sowie Live-Aufnahmen der letzten akustischen Trio-Tournee). 

Live:
https://jaelmusic.ch/tour





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