Digitale Spiele sind Erinnerungsmedien

Im Gespräch mit Tabea Widmann 

Bild von Tabea Widmann

Tabea Widmann widmet sich digitalen Spielen als Erinnerungsmedien um den Holocaust und untersucht sie als potenziell besonders wirkungsmächtige Medien der digitalisierten Erinnerungskulturen – über ihr Buch The Game is the Memory hat sich RUDOLF INDERST mit ihr unterhalten.

Rudolf Inderst (RI): Liebe Frau Widmann, schön, dass Sie die Zeit gefunden haben für einen kurzen Gedankenaustausch. Mögen Sie sich bitte unseren Leser:innen kurz vorstellen? 

Tabea Widmann (TW): Ich bin Tabea und bezeichne mich selbst gerne als „passionierte Kulturwissenschaftlerin“ – mich fasziniert sehr, welche verschiedenen Geschichten, Bilder und Objekte die menschliche Fantasie und Vorstellungskraft hervorbringen und immer schon hervorgebracht haben. Und zugleich finde ich es spannend, nachzuverfolgen, welche Vorstellungen und Überzeugungen über unsere Welt und unser Menschsein sich wieder aus diesen Geschichten und Objekten herauslesen lassen. Also vielleicht wäre „passionierte Kulturdetektivin“ die passendere Beschreibung? (lacht)

(RI): Vielleicht können wir nun ein wenig über Ihren bisherigen beruflichen Werdegang und das Zustandekommen dieses Buches sprechen?     

(TW): Während meines Studiums habe ich mich lange mit der Idee von „Europa“ beschäftigt, wofür diese Idee historisch gestanden hat, wofür sie heute steht und wofür sie potenziell stehen könnte; natürlich trifft die Auseinandersetzung mit europäischer Geschichte schnell auf den Zweiten Weltkrieg und die Erinnerungskulturen um die nationalsozialistischen Verbrechen. Zunehmend ist mir bewusst geworden, wie unmittelbar diese Vergangenheit in unseren geteilten Lebenssphären nach wie vor spürbar ist – sei es sprachlich, politisch, kulturell. Und da sich unser Alltag immer mehr über digitale Medien gestaltet, vertiefte sich entsprechend auch mein Fokus auf die Digital Memory Cultures. Während ich als Akademische Mitarbeiterin im Projekt „MEMOZE“, einem Projekt zu digital-medialer Zeug:innenschaft mit lokalem Fokus im Bodenseeraum, an der Uni Konstanz gearbeitet habe, bin ich schließlich über die vermeintliche Leerstelle „Games und Erinnerungskulturen“ gestolpert. Aus der Projektarbeit kommend und mit Fragen nach heutigen Formen von Zeug:innenschaft der nachgeborenen Generationen beschäftigt, entstand so die Idee zu meinem Dissertationsthema The Game is the Memory.

Cover

(RI): Was sind die zentralen Ideen und Thesen Ihres Buchs?

(TW): Letztlich versuche ich in The Game is the Memory eine fruchtbare Antwort auf die Frage zu geben, wie sich Erinnerungstransfer weiterhin lebendig und sinnstiftend vollziehen kann; wie also ein „how“ zu dem nach wie vor geltenden Gebot „Never again!“ gestaltet werden könnte. Meine These ist, dass digitale Spiele besonders wirkungsvolle Räume des Ausprobierens bilden, die sehr konkret nachvollziehbare Handlungsangebote geben. Sie erlauben den Spielenden scheinbar direkten wörtlichen Zugriff auf die repräsentierte Vergangenheit. Im Kontext der Darstellung nationalsozialistischer Verbrechen, so argumentiere ich, orientiert sich dieser Zugriff an Handlungen, Perspektiven und Narrativen, die sich in die bereits bestehende Praxis erinnerungskultureller Zeug:innenschaft einreihen lassen: Das eigene Spielen bringt zum Beispiel bereits symbolisch aufgeladene Erinnerungsikonen hervor, erzeugt Erinnerungsmedien oder ebenso symbolisch aufgeladene -orte; insbesondere auch die Figur der Zeitzeug:innen tritt in digitalen Spielen erneut in Erscheinung. Besonders ist dabei jedoch, dass sich die Spielenden selbst durch die interaktiven Freiräume in ein Verhältnis zu diesen bezeugenden Figuren und Erinnerungsbildern setzen. Diese Verhältnismäßigkeit habe ich unter dem Konzept des „Prosthetic Witnessing“ strukturiert konzeptioniert: Das Spielen kann also selbst zu einem Prozess medialisierter Zeug:innenschaft avancieren; freilich ein Prozess – daher die Zuschreibung „Prosthetic“ –, der sich völlig in der mediengemachten Sphäre des kulturellen Gedächtnisses bewegt, lediglich gestisch
die vorbildgebenden Prozesse der transgenerationellen Zeug:innenschaften nachvollzieht und sich zudem fragmentiert und mitunter disruptiv gestaltet.

Meine These ist, dass digitale Spiele besonders
wirkungsvolle Räume des Ausprobierens bilden, die sehr konkret nachvollziehbare
Handlungsangebote geben.

Dennoch kann der Spieleakt insofern sinnstiftend wirken, weil dieses prothetische Nachvollziehen von bereits aufgeladenen, kulturell geprägten Handlungen erinnerungskultureller Zeug:innenschaft ganz wörtlich in die Hände der Spielenden gelegt wird. Sie selbst erleben sich in einer Rolle der re-aktualisierenden, involvierten Teilhabe an den dargestellten Erinnerungsprozessen. Um diesen theoretischen Vorbau bereits in einem möglichst diversen Spektrum anzuwenden, umfasst die Arbeit zudem vier vergleichende Analysen von Games aus unterschiedlichen Ländern und Genres. Anhand der Schwerpunkte „Bezeugende Körper“, „Bezeugende Räume“ und „Bezeugende Medien“ habe ich dabei analysiert, wie sich Prosthetic Witnessing in Call of Duty World War 2, My Memory of Us, Through the Darkest of Times sowie Attentat 1942 gestaltet; welche bezeugenden Handlungsangebote die Spielenden also in diesen Spielen erhalten.

(RI): Am Ende unserer kurzen Gespräche ist es mittlerweile eine liebgewonnene Tradition, unsere Gesprächsgäste nach Ihrer Meinung zur aktuellen deutschsprachigen Digitalspielforschung zu befragen. Was meinen Sie – wo stehen wir hier aktuell in Forschung und Lehre?   

(TW): Ich glaube, dass es für beide Felder, Forschung wie Lehre, noch viele Entwicklungsmöglichkeiten gibt. Das Spannende an den Game Studies ist für mich, dass sich ja auch der Untersuchungsgegenstand konstant weiterentwickelt. Allein also, dass momentan stetig neue digitale Spielformen entstehen, verändern sich dementsprechend die Perspektiven der Forschung. Das macht Prognosen in meinen Augen sehr schwer, gleichzeitig stimmt es mich optimistisch, dass hier ein Feld entsteht, wo Forschung und praktizierte Lebenswelt vieler Menschen tatsächlich sehr nahe beieinander liegen und sich gegenseitig befruchten können.

(RI): Herzlichen Dank für das Gespräch und alles Gute für die Zukunft!

 

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Rudolf Inderst

*1978 in München. Lebte in Kopenhagen und verliebte sich. Doppelt promoviert, übernimmt er Verantwortung als Ressortleiter für digitale Spiele hier bei nahaufnahmen.ch. Liebt Stanislaw Lem, Hörspiele und Podcasts. Spielt Videospiele seit etwa 40 Jahren. Lehrt als Professor für Game Design mit dem Schwerpunkt Game Studies / Spielanalyse / Game Business an der IU und krault sich gerne seinen Bart.

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