Interview mit Annakin

„Das Monster, vor dem wir uns so fürchteten,
ist nun da“

Bild: © Christian Ammann

Die Badener Künstlerin Annakin hat ihr neustes Meisterwerk «Cocoon», ein Konzeptalbum zu den Themen Schutz und Ausbruch, abermals mit dem englischen Singer-Songwriter und Produzenten Ed Harcourt eingespielt. Entstanden ist ein emotionales, höchst berührendes Album, beeinflusst durch den Krieg in der Ukraine, die Auswirkungen der Klimakrise und den Tod von Menschen in Annakins Umfeld. Die Songs bestechen durch ihre Poesie sowie eine geschickte Kombination von organischer und elektronischer Instrumentierung. Nahaufnahmen.ch traf Annakin zu einem ausführlichen Gespräch, unter anderem über die kreative Umwandlung von Ängsten in etwas Schönes, ihr rebellisches Herz, Queen Elizabeth II, die Wucht und zerstörerische Kraft des Todes, das Gefühl des Nichtdazugehörens, mediale Verzerrungen sowie Geschichten aus dem Wilden Westen des Musikbusiness.

Von Christoph Aebi 

Der Titel deines neuen Albums «Cocoon» steht für das Intime, Zarte, das sich vor dem Bösen der Aussenwelt schützt, um dann mittels Musik diese Schutzzone durchbrechen zu können. Es ist eine Art Konzeptalbum über die Dualitäten Schutz und Ausbruch sowie Verletzlichkeit und Stärke. Was hat dazu geführt, dass sich die neuen Songs um diese Themen kreisen?

Das Album wurde durch Ereignisse in den letzten Jahren beeinflusst: Der Krieg in der Ukraine und die immer gravierenderen Auswirkungen der Klimakrise haben mich sehr beschäftigt. Zudem sind in meinem Umfeld Menschen gestorben. Ich versuchte, diese Stimmung in den Texten der neuen Songs zusammenzufassen und auch musikalisch umzusetzen, indem wir die entsprechenden Instrumente wählten. In den La Frette Studios in Paris, in denen wir arbeiteten, gab es sensationelle Instrumente: Zum Beispiel ein Bösendorfer Piano, das vom Klang her wie in Watte gehüllt tönt und das wir anstelle eines Grand Piano oft einsetzten, oder einen Oberheim Synthesizer. 

Diese beiden Instrumente klingen sehr gegensätzlich. War von Anfang an geplant, diese Instrumente zu verwenden oder hat sich das durch die Arbeit in den La Frette Studios spontan so ergeben?

Mein Produzent Ed Harcourt hatte bereits mit Nick Cave und Marianne Faithfull in den Studios gearbeitet und wusste darum, welche Instrumente dort zur Verfügung stehen. Er überlegte sich deshalb bereits vor den Aufnahmen, welche Instrumente musikalisch und thematisch zu den einzelnen Songs passen könnten. Wir hatten also einen Plan. Da wir die Lieder bereits in Eds Wolf Cabin Studio in England vorproduzierten, hatten wir schon im Vorfeld die Möglichkeit, die Songs zu analysieren. Wir sprachen sehr früh über mein Konzept fürs Album, deshalb wusste Ed, worum es für mich in den Songs geht und ging sehr darauf ein. Es ist immer schön, wenn man bereits während des Schreibens und dann auch während der Produktion mit einem Konzept das ganze Album zusammenfassend abrunden kann. Das Konzept des Albums sind diesmal die drei Stadien des Kokons. Zuerst ist es die Raupe, etwas Unfertiges, eine Geschichte, die noch nicht verarbeitet ist. Dann kommt der Kokon, der kreative Prozess, und schliesslich der Ausbruch als Schmetterling. Das kann dann der fertige Song sein. Wenn ich neue Songs veröffentliche, ist das immer auch ein etwas riskanter Moment, weil ich noch nicht weiss, wie die Reaktionen sein und wie die Songs ankommen werden.

Was hat dazu geführt, dass ihr das Album in den La Frette Studios aufgenommen habt?

Ich wollte schon lange einmal dorthin. Mein früherer Produzent Dimitri Tikovoï hatte mir immer wieder von diesen Studios erzählt und davon geschwärmt. La Frette ist ein sogenanntes Residential Studio, das heisst, man kann in dieser Villa aus dem 19. Jahrhundert auch wohnen. Lange Reisen zum Studio und zurück entfallen deshalb. Das ist super.

Wie hat sich die Atmosphäre in den Studios und die Möglichkeit, dort zu wohnen und in allen Räumen des Hauses aufnehmen zu können, auf die Songs ausgewirkt?

Einen Teil der Vocals und Drums nahmen wir im Wohnzimmer auf. Man musste einfach die Vorhänge ziehen, damit die Scheiben nicht klirrten. Jeder Raum hatte einen ganz spezifischen Sound. Man hörte manchmal auch die Vögel pfeifen. Das gehörte dazu. Es ist nicht der cleane Sound, wie man ihn in einem Studio hätte, das speziell für Tonaufnahmen gebaut ist. Das macht den Charme der La Frette Studios aus. Zudem gibt es dort viele Vintage-Instrumente und ein Neve-Mischpult aus den 70er-Jahren. Musik, die mit diesem Mischpult aufgenommen wird, tönt einfach fett. Der Mix von Dave Lynch ist auch wieder super, er ist einfach ein wunderbarer Tonmischer. Wenn man alle Stadien der Aufnahmen hört, merkt man, dass Welten dazwischen liegen

Bild: © Christian Ammann

In meinem letzten Interview mit dir hast du gesagt, dass du gerne auch Fehler ins Album einbeziehst, weil sich diese oft als wunderbar herausstellen. Wo gibt es auf dem neuen Album solche Fehler?

Bei «Blood Moon» sollte ich nach acht Takten Piano-Interlude mit dem Gesang einsetzen. Weil ich von Eds Pianospiel so mitgerissen war, verpasste ich meinen Einsatz und liess Ed einfach weiterspielen. Am Schluss fanden wir, dass es cool war, was er dort entwickelte und liessen es im fertigen Song drin. Wenn man wirklich in die Musik eintaucht, passieren solche schönen Fehler, die man dann sein lassen muss. So hat der Song nun ein ganz langes Piano-Zwischenspiel.

Das letzte Album «The Light Before Love Disappears» habt ihr nach der Vorproduktion schliesslich in einem Studio in Spanien innerhalb nur einer Woche aufgenommen. Wie lange habt ihr diesmal für die Aufnahmen gebraucht?

Beim letzten Mal war die Situation wegen Covid speziell. Wir hatten Mühe, uns überhaupt zu treffen, es war ein logistischer Albtraum. Diesmal hatten wir mehr Zeit. Ich habe zuhause schon viel vorproduziert und wir schickten viele Dateien hin und her. Dann waren wir eine Woche in Eds Wolf Cabin Studio in Oxfordshire und schliesslich eine Woche in den La Frette Studios. Den ersten Song für das Album, «Marian», schrieb ich im März 2022 kurz nach Kriegsausbruch in der Ukraine.

«Marian» sei, stand im Pressetext, Beichte und Gebet zugleich. Inwiefern?

Wenn man sich die vierzeiligen Strophen anschaut, dann erinnern diese vom Rhythmus her an eine Beichte oder ein Gebet. Die Bridge des Songs ist hingegen ein Ausbruch, gleichzeitig geprägt von einer Kraft und einer Unsicherheit.  «Marian» ist der klassische Anti-Kriegs-Song. Ich wollte die News zum Krieg in der Ukraine nicht hören, sondern in Ruhe gelassen werden. Aber man kann sich ja nicht ewig davor verstecken. Für mich ist der Song zentral für das Thema des Albums.

Ist «Marian», ein Name, der für beide Geschlechter gebraucht werden kann, an eine bestimmte Person adressiert? Oder tönte der Name einfach vom Klang her gut für den Song?

Ich hatte den Namen irgendwann einmal im Kopf, sang dazu und fand, dass er mit seinen zwei Silben perfekt ist und man sowohl einen Mann als auch eine Frau damit ansprechen kann. Natürlich hatte ich auch den gleichnamigen Song von The Sisters of Mercy im Hinterkopf, der mir sehr gut gefällt. Wenn ich konkret jemanden anspreche, was ich in meinen Songs selten mache, denke ich einfach an meinen Mann.

Im Lied gibt es die schönen Zeilen «I will hide here until my sweet Marian / I can be sure that two times two is four again». Etwas ist zerbrochen, hat sich verschoben, ergibt keinen Sinn mehr – und muss nun wieder zusammengefügt werden.

“It’s The End Of The World As We Know It”, wie R.E.M. schon so treffend sangen. Als nach der Covid-Pandemie und den ganzen klimatischen Veränderungen auch noch der Krieg dazu kam, fand ich, dass das jetzt ein bisschen gar viel ist. Für mich war und ist es das Ende von etwas. Vielleicht von der unbeschwerten Welt, in der wir aufwachsen durften. Es war ein harter Schnitt, so dass man das Gefühl hatte, es passe wirklich nichts mehr zusammen.

 

Du hast über «Blood Moon», das letzte Lied auf dem Album, auf Facebook geschrieben, dass es für dich das Ende von etwas bedeutet. Inwiefern?

«Blood Moon» ist eigentlich ein Verwandter, oder wie Ed Harcourt so schön sagte, ein entfernter Cousin von «Marian». In «Blood Moon» geht es um Umweltprobleme und die Ängste, die sie auslösen. Denn das Monster, vor dem wir uns so fürchteten, ist nun da. Das Eis bricht, weil es schmilzt. Und das ist nicht mehr reversibel. Ich versuche aber, diese Ängste in etwas Schönes und Kreatives umzuwandeln. Gerade lese ich das Buch «The Creative Act» des Musikproduzenten Rick Rubin. Er schreibt darin, wenn man wach durchs Leben laufe, könnten ganz viele Einflüsse eine Lösung fürs kreative Schaffen bieten. Wenn man zum Beispiel eine Blockade habe, müsse man nur schnell eine Pause machen und dann werde die Inspiration von alleine kommen. Das könnten Gesprächsfetzen sein, die man aufschnappe oder irgendwelche Dinge, die man in der Natur sehe. Und deshalb habe auch jeder Zugang zu Kreativität. Ich finde diesen Ansatz unglaublich spannend.

Was machst du, wenn du Blockaden hast?

Ich gehe spazieren, treffe mich mit Freunden oder versuche zumindest, eine kreative Pause einzulegen. Ich bin über die Jahre besser darin geworden, mich nicht mehr zu lange zu blockieren, sondern einfach loszulassen. Meistens reicht es, sich später wieder hinzusetzen, alles nochmals anzuhören und oft funktioniert es dann. Wenn nicht, hat das seinen Grund. Dann stimmt irgendetwas nicht und es gibt manchmal auch keinen fertigen Song daraus. Mittlerweile bin ich in solchen Situationen relativ radikal und lasse den Song einfach sein.

Gab es Lieder, die du erst auf die Seite gelegt, aber dann Jahre später wieder hervorgenommen hast?

Nein. Wenn meine Songs die erste Nacht überleben, ich sie dann immer noch gut finde und sie mich immer noch berühren, dann arbeite ich weiter daran. Und wenn das nicht geschieht, sind sie nicht gut genug.

Hast du das Lied «Blood Moon» geschrieben, nachdem im Mai 2022 dieses spezielle Phänomen der Kernschattenfinsternis, welches Blutmond genannt wird, bei uns am Himmel zu sehen war?

Ich habe den Blutmond leider verpasst. Aber ich finde das Bild sehr schön. Inspiriert wurde ich durch den Röyksopp-Song «If You Want Me», auf dem Susanne Sundfør singt: «Will you keep me hanging high – will you bleed me out to die?”, was sehr krass klingt. Dieses Bild des Mondes, der am Himmel hängt und irgendwie blutig ist, habe ich gesucht. Und manchmal benötigt man schlicht eine zusätzliche Silbe, damit es besser tönt. «There is a blood moon in the sky” tönt einfach schöner als «There is a moon in the sky”.

Das neue Album tönt sehr intim. Ich nehme an, der Grund dafür ist auch, dass du das Album zusammen mit Ed Harcourt im Duo eingespielt hast und keine anderen Musiker*innen daran beteiligt waren. War das von Anfang an geplant oder hat es sich so ergeben?

Ed Harcourt ist ein Multiinstrumentalist und darum braucht es eigentlich keine Session-Musiker. Er ist ein unglaublich guter Pianist, spielt zudem Gitarre und Bass, singt sehr schön und ist mittlerweile auch ein fantastischer Drummer. Er hat seine Covid-Lockdown-Zeit genutzt, um sein Schlagzeug-Spiel nochmals zu verbessern und das hört man beim neuen Album sehr gut.

War für dich nach dem letzten Album «The Light Before Love Disappears» klar, dass du auch das neue Album wieder zusammen mit Ed Harcourt realisieren möchtest?

Ja. Weil ich mit «The Light Before Love Disappears» sehr zufrieden war, stellte sich die Frage gar nicht, fürs neue Album den Produzenten zu wechseln. Und wenn man schon einmal zusammengearbeitet hat, geht alles auch etwas leichter von der Hand, weil man schon sehr gut weiss, wie die andere Person bei der Arbeit funktioniert.

Beim letzten Interview sagtest du mir: «Für mich ist die Musik heilsam und ich betrachte sie als Katharsis.» Ich habe das Gefühl, dass diese Aussage für das neue Album ganz besonders stimmt.

Ja, absolut. Dadurch, dass im Konzept für das Album «Cocoon» die Verwandlung so wichtig ist, spielt das Thema Katharsis natürlich ebenfalls eine Rolle. In Songs wie «Want You», «Hero» und «Beautiful Illusions» ist die Kraft enthalten, die es braucht, um den Kokon zu verlassen und als Schmetterling in einer Welt, die gefährlich ist, zu bestehen. Ich greife für die Songs immer Themen auf, die mich stark beschäftigen. «Hero» ist zum Beispiel entstanden, nachdem ich an einem Tag mit zwei mir sehr nahestehenden Leuten ganz eigenartige Telefongespräche hatte. Beide hallten in mir lange nach. Das Schreiben von «Hero» war für mich ein Mittel, diese Gespräche zu verarbeiten und in etwas Schöneres zu verwandeln. Der Text von «Hero» enthält sogar eine gewisse Ironie.

Bild: © Christian Ammann

Diese ist vor allem im Refrain zu erkennen, in dem es heisst: «You are a hero / You have no fear no / You have no tears to roll down your face.” Wie sehr hilft es, sich in schwierigen Situationen wie ein Mantra einzureden, dass man ein Held oder eine Heldin ist und keine Ängste hat?

Es ist eher eine Art Schutzschild und ein Sichzurückziehen in den Kokon. Ich bin ziemlich stolz auf den Song. Einerseits ist er selbstironisch, andererseits verwandelte ich damit etwas, das sehr hart war und sich ungut anfühlte, in etwas Schönes und Kreatives. Der Song ist eingängig, trotz allem positiv und hat eine Message.

Bei welchen Songs des neuen Albums war die Kathartis für dich am grössten?

Bei «Hero» sowie bei «The Cradle Man». Dort geht es um den Tod. Ich habe ihn geschrieben, nachdem meine Tante gestorben ist. Und in «6:32» verarbeite ich den 8. September 2022, an dem Queen Elizabeth starb und ich zufällig in London war. Es war so beeindruckend, was in der Stadt an jenem Tag geschah, wie die Leute sowie die Medien reagierten und wie sich innerhalb von ein paar Minuten alles veränderte.

Ist «06:32» der Zeitpunkt, an dem du erfahren hast, dass Queen Elizabeth gestorben ist?

Ja. Ich war in einem Bus unterwegs nach Soho und traf dort auf zwei schon ziemlich betrunkene Teenager. Eine sagte zu mir: «Just that you know: The Queen has just died». Alle im Bus schauten sie an und dann sagt ihre Freundin zu ihr, sie könne das doch nicht einfach so Knall auf Fall mitteilen. Aber sie entgegnete: «They might wanna know». Ich und mein Sitznachbar schauten uns an, nahmen aber trotzdem das Telefon hervor, um zu verifizieren, ob das stimmt, was wir eben gehört hatten. Erste Berichte waren schon online und kurz darauf war am Trafalgar Square ein grosses Bild von Queen Elizabeth zu sehen. Als ich etwas später aus dem Bus stieg und Richtung Soho House lief, um jemanden zu treffen, stiessen vor den Pubs alle auf die Königin an, manche hatten Tränen in den Augen. Eine halbe Stunde später sass ich selber in einem Pub und es war total wirr: Die Queen war soeben gestorben und im Fernsehen lief ein Fussballmatch zwischen dem FCZ und Arsenal. Rick Rubin würde dies wohl als unglaublich kreativen Moment bezeichnen. Schliesslich wechselten sie im Pub den Sender und zeigten Bilder aus dem Buckingham Palace. Das waren total beeindruckende, auch schräge Momente, die alle im Song vorkommen, weil ich sie verarbeiten musste.

Das Lied beginnt mit den Zeilen “The news come flying in like little bombs / Blowing off one by one”. Sind diese Zeilen auch als Medienkritik gemeint?

Ja, es ist vielleicht eine ganz feine, leichte Kritik. Wenn ein solches Riesenereignis passiert, geht es sehr schnell, bis die News sich in einem unglaublichen Tempo verbreiten. Mir kam es so vor, als sei eine Bombe geplatzt, obwohl der Tod der Queen ja erst nach drei Stunden offiziell kommuniziert wurde. Es war wirklich beeindruckend.

In der ersten Strophe kommt auch die Zeile «London Bridge is Down wings folded» vor. «Operation London Bridge» war der Codename des Plans, der die Angelegenheiten nach dem Tod von Queen Elizabeth II regeln sollte.

Ganz genau. Ich wollte aber im Song nicht konkret schreiben, dass es um den Tod der Queen geht, sondern wollte es irgendwie verpacken. Ich fand den Code sehr schön und poetisch. Möglicherweise haben beim Hören des Songs nicht alle im ersten Moment verstanden, worum es geht. Das macht aber nichts. Man darf immer auch seine eigene Geschichte in den Song reinpacken. Es wäre spannend zu hören, was der Song für andere bedeutet und welche Assoziationen sie damit verbinden.

In der zweiten Strophe schreibst du: «I’ll go home now and write a song or two / I will save a special place in there for you / And in my rebel heart.” Ist es nicht ein Widerspruch, ein rebellisches Herz zu haben und gleichzeitig einen Song über eine verstorbene Monarchin zu komponieren? Oder wie stehst du zur Monarchie?

Mein Herz schlägt quasi irisch, weil ich wegen meinem Mann ganz viele irische Verwandte habe. Und ich singe den Song auch immer mit einem irischen Akzent (lacht). Ich war immer ein Fan von Queen Elizabeth, vielleicht auch vom Königshaus, möglicherweise weil für mich als Schweizerin die Monarchie so exotisch anmutet. Eigentlich ist sie obsolet. In Anbetracht dessen, wie es den Engländern momentan wirtschaftlich geht, war der Pomp anlässlich der Krönung von King Charles total verrückt. Ich bin ein sehr kritischer Mensch, habe ein rebellisches Herz, bin weder eine gläubige Person noch eine Royalistin. Ich bin eher jemand, der gerne Dinge hinterfragt und gegen den Strom schwimmt.

Du hast vorhin «The Cradle Man» angesprochen, den du für deine verstorbene Tante geschrieben hast. Du beschreibst darin den Tod nicht als etwas Böses, sondern der Song strahlt, zumindest zu Beginn, eine grosse Ruhe aus. Du vergleichst das Meer mit einem Mann, der eine Wiege in der Hand hält und angerollt kommt, um wie das Meer mit seinen Wellen das Land zu streicheln. Deine Tante schläft in den Armen des Meeres, umarmt von der Liebe, die sie gefühlt hat und du bist dir sicher, dass der Wiegenmann über sie wachen wird. Hast du diesen Ansatz gewählt, um dem Tod etwas von seiner Schwere zu nehmen?

Für sie war es gut, zu sterben. Denn sie wollte sterben, weil sie schwer krank war. In diesem Kontext hatte der Tod eigentlich seinen Schrecken verloren. Weil sie zumindest in ihrem Denken sehr buddhistisch war, fand ich das Bild stimmig und legte es darum auch in die Natur. Ich wollte die Wucht des Todes eher in die Musik als in den Text legen, vor allem am Ende, wo mit den rhythmisch vertrackten Drums alles ausfranst und auch die Stimme fragmentiert wird.

Du singst dort immer wieder «I wish you could stay here». Wird am Schluss des Songs die Stimme fragmentiert, um zu betonen, dass der geäusserte Wunsch nicht erfüllt wird?

Das war meine Intention. Ich hatte vor langer Zeit einmal einen Traum, als jemand anderes starb. Im Traum rief mich die Person von ganz weit her an. Die Verbindung war sehr schlecht und ziemlich verzerrt. In diesem Anruf und insbesondere in der schlechten Verbindung lag aber eine grosse, auch zerstörerische Kraft. Diese wollte ich unbedingt im Song drin haben. Das ist uns mit den Klängen des Oberheim Synthesizers und den Scratches am Schluss gut gelungen. Und trotzdem hat der Song eine ganz feine Melodie, die den Unterschied herausstreicht zwischen dem Leben und der zerstörerischen Kraft, die der Tod mit sich bringt.

Das Lied «Silenceland» handelt von der Funkstille zwischen zwei sich eigentlich nahe stehenden Menschen, ihren alten Verhaltensmustern und der Schwierigkeit, diese zu durchbrechen. Darin finden sich die Zeilen «Reverse every word page by page / Rehearse forever what to say” und “We must have turned deaf and blind / And I think we have lost our minds / To believe our world would not shake / And one of us would not break”. Diese Zeilen erinnerten mich an die Covid-Zeit, als man oft jedes Wort auf die Goldwaage legen musste, um ja nichts Falsches zu sagen. Manchmal kam es gar nicht mehr darauf an, was man sagte, weil gewisse Leute schlicht taub und blind waren für andere Meinungen. Darunter litten auch langjährige Freundschaften.

Das kann man so interpretieren und ich finde, es passt sehr gut. Das Thema des Songs ist aber eher die Unsicherheit, die ich jeweils verspüre, wenn ich mit jemandem eine Auseinandersetzung hatte und dann versuche, nach diesem vorangegangenen Streit die Wogen zu glätten. Wenn ich die Person das nächste Mal wieder treffe, überlege ich mir, was ich sagen oder nicht sagen soll. Ich bin ein sehr harmoniebedürftiger Mensch. Andere sind dies nicht und wollen nach einem Streit nicht reden. Dieses Nichtreden, die Funkstille ist für mich ganz schwierig auszuhalten. Deshalb heisst das Lied «Silenceland».

Zusammen mit deinem Mann, dem Fotografen Christian Ammann, hast du ein sehr schönes Video gedreht, an einem einsamen, mystischen Ort mit viel Wind und einzigartigen Felsformationen. Wo fanden die Dreharbeiten statt?

In «Silenceland» (lacht). Wir haben beschlossen, dass wir den Ort der Dreharbeiten nicht verraten. Es gab an diesem Ort viele Influencer. Ich trug mein Kostüm für den Dreh und es kamen viele Leute mit ihren Handys, die ein Bild machen wollten. Wir fanden, uns gehört dieser Ort nicht. Sie durften selbstverständlich ein Bild machen, wir nahmen uns kurz Zeit, das war alles fein. Nicht so toll war aber, dass sich in den Felsformationen bereits viele Menschen mit Markierungen verewigt hatten. Irgendwann hatten wir das Gefühl, wenn wir zu viel Aufmerksamkeit auf diesen Ort legen, der so schön ist, und der Ort dann wegen uns kaputt gehen würde, dann wäre das nicht so toll. Für viele schöne Orte hatte der ganze Instagram-Hype bereits einen zerstörerischen Aspekt, beispielsweise für den Cauma-See in Flims.

Im Song «Want You», der an «Silenceland» anschliesst, geht es um das Gefühl, nicht dazu zu gehören und dieses Gefühl nicht verstecken zu können, sondern es mit seinem Gesichtsausdruck preiszugeben. «Here it comes again / This feeling from the bottom of my heart / That I don’t fit in / And I can’t hide it / It will rise to my face / A place where I give myself away / So I am smiling just in case / You want me to stay”. Ist das etwas, das du ganz persönlich kennst?

Ja. Ich habe den Song nach den Swiss Music Awards 2022 geschrieben. Ich merkte, dass ich dort eigentlich nicht hinpasse. Ein Musiker, dem es ähnlich erging, sagte mir, an solchen Events habe er immer das Gefühl, er sei alt. Bei mir war es nicht das Alter, sondern einfach das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Und trotzdem finde ich es wichtig, dass man als Indie-Act dort präsent ist und zeigt, dass wir auch da sind und es nicht nur die Bestselling-Acts gibt. Das war der Hintergrund für den Song: Einerseits das Gefühl des Nichtdazugehörens und des Nichtwillkommenseins, andererseits der Wunsch, trotzdem dabei sein zu wollen.

Inwiefern hattest du das Gefühl, dass du nicht willkommen bist?

Es fängt schon damit an, dass alle nach denjenigen zehn Acts schreien, die immer im Fernsehen zu sehen sind. Medial wird alles verzerrt dargestellt und in ein falsches Licht gerückt. Ich finde es ziemlich schrecklich, wenn die Leute das Gefühl haben, das seien jetzt wirklich die besten Music-Acts unseres Landes. Dabei gibt es viele andere wunderbare Künstler und Künstlerinnen, die nicht so sehr im Rampenlicht stehen. Aber es ist natürlich alles Geschmackssache.

Das stimmt. An den Swiss Music Awards sind immer wieder die gleichen Acts präsent. Meistens sind es jene, die mich kalt lassen.

Eigentlich geht es bei den Swiss Music Awards nur um Verkaufszahlen. Und man sollte Verkäufe und Qualität nicht vermischen, das sind zwei Paar Schuhe. Dieses Jahr war ich wieder an der Veranstaltung, weil ich fand, dass es wegen der anstehenden Album-Veröffentlichung vielleicht gut wäre, trotz allem dort präsent zu sein. Und dann hatte ich tatsächlich einen fantastischen Abend, weil ich fand, ich mache jetzt einfach das Beste daraus. Vielleicht hatte ich diesmal auch eine andere Ausstrahlung, ich weiss es nicht. Ich traf viele spannende Leute. Aber es ist für viele Musiker und Musikerinnen kein einfacher Event. Das M4music beispielsweise ist meines Erachtens wichtiger für die Branche, weil es die verschiedenen Musiksparten breiter abdeckt und vertritt.

Folgende Zeilen im Song sind mir besonders aufgefallen: «Here is to the bruises the abusers / Who never show themselves”. Wer ist mit den Tätern gemeint, die sich selber nicht zeigen?

Diese Zeilen sind an jene Personen im Musikbusiness adressiert, die beschissen oder Verträge nicht eingehalten haben. Da gibt es Geschichten aus dem Musikbusiness, die glaubt man kaum. Es geht dort wirklich oft zu wie im wilden Westen. Der Song ist aus meiner Perspektive geschrieben und es ist immer auch meine Entscheidung, weiter im Business dabei zu sein. Ich glaube aber, dass ich mutiger geworden bin, meine Sicht der Dinge zu platzieren oder auch einmal Nein und Stopp zu sagen.

Du bist schon lange im Musikbusiness dabei, hast zwei Alben mit Swandive und acht Alben als Solo-Künstlerin veröffentlicht. Was war das Schlimmste, das du erlebt hast oder das dich am meisten enttäuscht hat?

Was mich immer wieder stört ist, wenn in meiner Gegenwart in einem negativen Ton über mich geschwatzt wird und diejenigen Personen nicht begreifen, was das bedeutet und wie destruktiv das für eine Karriere sein kann. Das geschieht immer wieder. Ich war einmal in einem Studio für die Aufnahmen einer Filmmusik. Der Regisseur merkte nicht, dass die Aufnahme immer noch lief und sagte zum Toningenieur: «Sie ist halt keine Céline Dion und hat nicht diese Kraft in der Stimme». Das sollte man in einem Studio nicht oder wenn, dann anders sagen. Oder man erhält 50-seitige Verträge zu einem Projekt, das dann schliesslich trotzdem nie stattfindet. Kürzlich erhielt ich aufgrund eines geplanten Konzerts in der Westschweiz von den Veranstaltern ganz viele Fragen zu der Anzahl Klicks meiner Songs auf den Musikplattformen. Ich musste viel Zeit investieren, um alle Daten zu sammeln. Ich sagte den Veranstaltern zudem, dass ich in der Westschweiz viel Airplay im Radio habe und schon lange im Geschäft bin. Sie kamen aber immer wieder mit neuen Fragen auf mich zu, deren Beantwortung für mich einen grossen Aufwand bedeutete. Schliesslich sagte ich zu meinem Mann, dass ich mich wohl auf eine Absage gefasst machen müsse. Und so war es dann auch. Der Song «Taken by you» beispielsweise handelt von einem ähnlichen Erlebnis.  

In dem Song geht es um die Anziehungskraft zwischen zwei Polen: «You’re magnetized / I am pulled to your pole / Are you my ally / Or will you swallow me whole». Wer ist das Ich und wer das Du in diesem Lied?

Das Ich bin ich und das Du ist die Stadt Basel. Vor einem Jahr gab es zwei Anfragen für grosse Konzerte in Basel, eines mit Band und das andere mit Orchester. Aus meiner Erfahrung wusste ich, dass beide wahrscheinlich nicht stattfinden würden und der Aufwand vor allem auf meiner Seite sein würde. Es ist einfacher, wenn man sich darauf einstellt, dass etwas wahrscheinlich nicht passieren wird.  Während des Prozesses habe ich den Song geschrieben, um mich quasi selber vorzuwarnen, dass eine Enttäuschung droht. Und so war es dann auch. Dafür ist ein guter Song dabei entstanden. Die Orgelklänge zu Beginn erinnern daran, dass man etwas zu Grabe trägt.

In «Beautiful Illusions» geht es darum, wie leicht wir verführbar sind und auf Illusionen hereinfallen. Welches sind die grössten Illusionen, denen du erlegen bist?

Zu meinen, dass sich jemand ändern wird. Man muss aufpassen, dass man nicht jemanden so formt, wie man ihn gerne hätte, sondern dass man ihn so nimmt, wie er ist. Ich habe mit meiner verstorbenen Tante, die auch Künstlerin war, viel über solche Themen gesprochen. Sie hat mir einmal einen Brief geschrieben, der das wunderschön beschrieben hat und das war die Inspiration für «Beautiful Illusions».

In diesem Song fand ich folgende Strophe besonders schön:  “My heart is full of / Different kinds of lights / Most of them are burning / Are burning really bright / And those that aren’t / Ready yet to shine / Keep a small flame to guard the night”. Was ist mit diesen verschiedenartigen Lichtern im Herzen genau gemeint?

Damit ist gemeint, dass in einem Leben alles noch wachsen muss oder wachsen darf. Und dass ich noch nicht so gut darin bin, einen Menschen anzunehmen, wie er ist, mir dies aber bewusst ist und ich daran arbeite.

Über den längsten Song auf dem Album, «Leeside», der auch einer der schönsten ist, haben wir noch nicht gesprochen. Die Leeseite ist jene Seite, die beispielsweise vor Wind, Regen, Wellen am meisten Schutz bietet. Es geht im Lied darum, das eigene Herz vor Täuschungen zu schützen:  «You’re moving away from deception / For the protection of your heart». Woher kam die Inspiration für dieses Lied?

Es geht in dem Lied darum, sich zurückzuziehen und zu schützen, vor dem, was in jenem Moment gerade in der Welt vor sich geht, den Kriegen und weiteren grossen Katastrophen. Als Demo tönte der Song sehr technoid, aber die jetzige Version fanden wir schliesslich subtiler, weil die Kraft des Songs in der Aussage liegen soll. Was mir an dem Song besonders gefällt, ist der Refrain: «Words are deceiving / The blues of the evening will last / Until we tear down the sky / Nomore hurtings and nomore grievings/ The beauty of the evening will last / Until we tear down the sky / Oh leeside». Mir gefällt das Bild vom Himmel, den man niederreissen kann, unglaublich gut. Man kann ja ein wenig mitbestimmen, was einem im Leben passiert und was nicht. Es ist quasi eine Weiterentwicklung, wenn man etwas nicht nur passieren lässt, sondern auch mal sagen kann: «Jetzt ist genug». Live ist es einer meiner Lieblingssongs. Das habe ich bereits bei meinem Duo-Konzert mit Ed Harcourt, das wir im Mai in den Powerplay Studios in Maur gegeben haben, gemerkt.

Dort habt ihr noch vor der Veröffentlichung zum ersten Mal das neue Album live gespielt. Wie waren die Reaktionen der Zuhörer:innen?

Es herrschte eine unglaubliche Stimmung und die Reaktionen waren sehr positiv, schon nur weil es in den Studios einfach sensationell tönt und die Location so intim ist. Für mich und Ed war das Konzert allerdings etwas stressig. Wir kamen gerade von der Arbeit im Studio und hatten nur etwa drei Stunden, um die neuen Arrangements zu proben. Ich war zudem wegen einer Halsinfektion noch etwas angeschlagen. Und wir hatten natürlich auch im Hinterkopf, dass das Konzert aufgenommen wurde. Aber es war ein gutes Konzert und wir konnten es schliesslich doch geniessen. Es war unglaublich schön, mit Ed im Duo zu performen, das hatte ich schon lange vor und ich freute mich sehr, dass er zusagte.

Welcher Song kam beim Premièrenpublikum am besten an?

Bei «Silenceland» merkte man, dass er bereits einen Monat vorher als erster Song des Albums veröffentlicht worden war. «Leeside» und «Blood Moon» kamen ebenfalls sehr gut an. Und dann natürlich «Parachute», das Duett mit Ed Harcourt aus meinem letzten Album «The Light Before Love Disappears», da wir dieses zum ersten Mal live spielten. Das war sehr speziell.

Nun gehst du mit dem neuen Album «Cocoon» auf Tour. In welchem Setting wirst du das Album live präsentieren?

Ich bin wieder im Akustik-Trio unterwegs, mit Ambrosius Huber am Cello und Simon Rupp an den Gitarren. Je nachdem ändern wir das Setup vielleicht auch einmal. Ich kann mir schon vorstellen, irgendwann wieder elektronischer unterwegs zu sein. Aber im Moment ist es mit Ambrosius und Simon super cool.  

Aktuelles Album:

„Cocoon“ (Akin Records / Phonag Records), erhältlich als Vinyl-Album. 
„Powerplay Sessions“, erhältlich als Vinyl-Live-Album. 
https://annakin.net/shop/

Live:

https://annakin.net/tour-2/





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