Heterotopia

Heterotopia

Von anderen Orten

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Heterotopien, so schrieb der französische Philosoph Michel Foucault, sind Orte der Andersartigkeit; Orte ausserhalb der normalen Gesellschaft. Doch das Andersartige ist nicht nur ein Ort der Abschottung, es erfüllt auch einen Zweck. Was Heterotopien sind und warum wir sie brauchen.

 

Von Magdalena Pfaffl

Als Gesellschaft stehen wir dem Andersartigen oft kritisch, wenn nicht sogar mit Furcht gegenüber. Der französische Philosoph Michel Foucault – fasziniert von extremen Orten der Andersartigkeit wie Gefängnissen und Nervenheilanstalten – sah in ihnen Heterotopien, also schlicht «Andere Orte». Den Begriff Heterotopia borgte er sich dabei von der Medizin, wo er jenes Gewebe beschreibt, das zwar am falschen Ort ist, jedoch schadlos mit dem normalen Gewebe koexistiert. Heterotopien in all ihrer Andersartigkeit sind also Orte, die neben und mit unserer Gesellschaft bestehen und, so sagt Foucault, sogar eine Funktion für sie erfüllen. Wir brauchen Heterotopien um als Gesellschaft zu funktionieren. Foucault unterscheidet dabei zwischen zwei grundlegenden Typen von Heterotopien: Die Heterotopie der Abweichung (heterotopia of deviation), und die Heterotopie der Krise (heterotopia of crisis). Beide sind Orte der Andersartigkeit, doch erfüllen sie einen unterschiedlichen Zweck.

 

Heterotopien der Abweichung

Es gibt in unseren Städten und Dörfern jene Orte, an denen Menschen leben, die durch ihre Andersartigkeit scheinbar keinen Platz in der Gesellschaft haben – also etwa Gefängnisse oder Heime für chronisch psychisch Kranke oder Alte. An solchen Orten gelten eigene Regeln, die oft ihre Andersartigkeit nur noch unterstreichen. Soziale Normen, wie wir sie kennen, sind ausser Kraft gesetzt und Bewohner in ihren Rechten oft deutlich beschnitten.

Was ausserdem die Abgeschnittenheit jener Orte von unserer normalen Gesellschaft unterstreicht, ist die Beschränkung des Zuganges: Ihre Bewohner können nicht einfach kommen und gehen, wie sie wollen. Während sie zum Betreten gezwungen wurden, benötigen sie nun eine Genehmigung, um diese Institution wieder zu verlassen. Auch für Angestellte und Besucher ist der Zugang reglementiert. Sie benötigen Schlüssel und Ausweise oder zumindest die Genehmigung durch die Institution oder eine institutionalisierte Macht, bevor sie diesen Ort betreten dürfen.

Von aussen betrachtet werden wir oft staunen, wie solche Orte der scheinbaren Rechtslosigkeit in einer Rechtsgesellschaft wie der unsrigen überhaupt existieren können. Die Gesellschaft sanktioniert sie als Orte des Schutzes. Solche Heterotopien der Abweichung schützen nicht nur die Gesellschaft vor ihren Bewohnern, die nicht gemäss gesellschaftlicher Normen agieren – oder agieren können, sie schützen auch ihre Bewohner vor einer Gesellschaft, in die sie nicht im Stande sind sich einzufügen.

 

Heterotopien der Krise

Ein anderer Typ von Heterotopie ist jener, den Foucault als Heterotopie der Krise (heterotopia of crisis) bezeichnet. Während Heterotopien der Andersartigkeit Menschen oft für eine lange Zeit vor der Gesellschaft «wegsperren», sind Heterotopien der Krise jene Orte, die wir aufsuchen, um in Zeiten persönlicher Krise Abstand von der Normalität zu gewinnen. Heterotopien der Krise, behauptet Foucault, sind die ursprünglichen Heterotopien unserer Vergangenheit. Es sind die Orte spiritueller Verehrung und Orte, an denen Menschen Übergangsriten zelebrieren. Später waren es die Internate, in denen Teenager in sicherer, von der Gesellschaft abgeschnittener Umgebung ihre Pubertät erlebten. Heute erleben junge Männer im Militärdienst das Leben in einer Heterotopie.

Andere postmoderne Heterotopien treffen wir an unerwarteten Orten an: Im Cluburlaub und auf Festivals etwa. Doch auch der Rückzug auf eine Zeit im Kloster gibt so manchem die Gelegenheit, der Normalität für eine Zeit zu entfliehen um «sich selbst zu finden». Heterotopien der Krise sind so ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft und unseres Lebens, wie es die Krisenzeiten sind. Sie sind ein vitaler Rückzugsort.

Anders als bei Heterotopien der Abweichung sind Heterotopien der Krise Orte des temporären Verbleibs. Sie erlauben eine Auszeit von der gesellschaftlichen Norm und ein sicheres Umfeld in Zeiten, in denen wir ihr nicht entsprechen können. Aber ansonsten sind auch Heterotopien der Krise klassische Heterotopien: Es sind Orte mit einer fest definierten Barriere zur Gesellschaft, die man oft nicht ohne weiteres betreten und verlassen kann – man denke an jene bunten Armbänder im Cluburlaub oder auf Festivals. Ist man erst einmal drin, gelten andere Regeln, denen man sich mehr oder weniger freiwillig zu fügen hat. Und wie Heterotopien der Abweichung auch existieren Heterotopien der Krise parallel mit unserer normalen Gesellschaft, ohne dabei mit ihr in Konkurrenz zu treten.

 

Die Funktion der Andersartigkeit

Es ist diese Parallelität von Heterotopien, die sie interessant macht, jedoch leicht übersehen werden kann. Heterotopien – obwohl so grundlegend anders und mit ihren eigenen Regeln – existieren parallel zur normalen Gesellschaft, ohne dass wir sie deswegen als Bedrohung betrachten würden. Heterotopien erzeugen kein Konkurrenzdenken – im Gegenteil begrüssen wir sie wegen der Funktion, die sie für unsere Gesellschaft erfüllen. Heterotopien gewähren Schutz für jene, die den Normen unsere Gesellschaft nicht entsprechen oder entsprechen können. Sie sind ein sicherer Raum, in dem Andersartigkeit gelebt werden kann. In manchen Heterotopien, wie etwa in den Kaffeehäusern der industriellen Revolution, wurde gar unserer Gesellschaft neu geordnet.

Heterotopie ist ein Konzept, dem wir uns oft nicht bewusst sind. Heterotopien sind seit Urzeiten Bestandteil unserer Gesellschaft. Und doch sind sie der Beweis, dass radikale Andersartigkeit gleich am Rand unserer Städte und unserer Gesellschaft möglich und sogar für unsere Gesellschaft wichtig ist. Und wenn es die «richtige» Andersartigkeit – also eine echte Heterotopie –  ist, fühlen wir uns davon noch nicht einmal bedroht. Gerade weil der Mensch die ihm eigene Andersartigkeit fürchtet, schafft er deshalb Heterotopien (Orte des Anderen) – um sie in friedlichem Nebeneinander koexistieren zu lassen. Ohne diesen anderen Orte – wie auch ein Blick in die Biographie von Michel Foucault zeigt – schaffen so Sicherheit dem eigenen Selbst gegenüber und sind wesentlicher Bestandteil vergangener, aber auch unserer heutigen Gesellschaft.

Im Netz:

http://www.heterotopiastudies.com/

Ein Blog der sich dem Studium von Foucaults Heterotopia widmet. Hier gibt es viele weiterführende Informationen und Literaturtipps. (in Englisch)

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