„Yo, También“ von Álvaro Pastor und Antonio Naharro

Wie normal ist normal genug?

„Yo, También“ von Álvaro Pastor und Antonio Naharro

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Mit einem ungewöhnlichen Liebespaar fordern Álvaro Pastor und Antonio Naharro unsere Vorstellungen von Normalität heraus. „Yo, También“ hinterlässt die Zuschauer hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung für das schauspielerische Talent der Protagonisten, der Zustimmung zum Anliegen der Beteiligten und dem Verdacht, dass eine wichtige Frage unbeantwortet bleibt.

Von Sandra Despont.

Daniel kann stolz auf sich sein: er hat ein Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen und soeben seinen ersten Arbeitstag im staatlichen Büro für behinderte Menschen hinter sich – und das trotz Down-Syndrom. Nur noch heiraten müsse er nun, meint er scherzhaft, als er mit seinen Eltern auf seinen Erfolg anstösst. Doch zu den üblichen Liebesnöten gesellt sich bei Daniel die Frage, ob eine normale Frau bereit ist, sich mit seinem zusätzlichen Chromosom zu arrangieren.

Ein Chromosom von der Normalität entfernt

Bald konkretisieren sich Daniels amouröse Absichten: Seine Arbeitskollegin Laura hat es ihm angetan. Die lebensfrohe Laura, die öfters mal einen Mann von ihren Streifzügen durch das Nachtleben Sevillas mit nach Hause nimmt, fühlt sich in der Gesellschaft Daniels äusserst wohl. Mit ihm kann sie lachen, geschmacklose Scherze machen, unbeschwerten Spass haben. Die beiden werden unzertrennlich. Und obwohl sein Bruder Santi ihn vor einer herben Enttäuschung warnt, möchte Daniel Laura bald nicht nur als eine, sondern als seine Freundin. Doch als er sie bei einem Betriebsfest zu küssen versucht, stösst sie ihn von sich. Schafft es nicht einmal die unkonventionelle Laura, darüber hinwegzusehen, dass Daniel ein Chromosom von der Normalität entfernt ist?

Zielsicher läuft „Yo, También“ auf diesen Knackpunkt zu, nämlich die Frage, ob an Daniel trotz Studium und Arbeit der Makel des Down Syndroms kleben bleibt oder ob der Grad an Normalität, den er erreicht hat, genügt, um eine von ihm geliebte „normale“ Frau für sich zu gewinnen. Und schon darf man sich mit einem ganzen Rattenschwanz an Fragen beschäftigen: Was ist normal? Was ist normal genug? Und wie tolerant sind wir wirklich? Inwiefern sind Nachsicht und Schutz bloss Versuche, das Abnormale zu kontrollieren? Wer darf überhaupt darüber entscheiden, wer normal ist, was nicht, und was geistig Behinderten zu tun ge- und verboten werden soll?

„Yo, También“ fordert wirkungsvoll Vorurteile heraus, die auch in einer noch so toleranten Gesellschaft bestehen bleiben. In Daniels Umfeld gibt es keine handfeste Benachteiligung, keine offenen Angriffe auf Menschen mit Behinderung. Es geht um viel feinere Fragen, um Fragen vom Umgang mit Menschen, die anders sind, in einer Gesellschaft, die sich viel auf ihre Toleranz einbildet und doch ihre blinden Flecke hat. Die Spannung zwischen freundlicher Nachsicht und wahrer Akzeptanz werden beispielhaft vorgeführt, ohne dass dem Film ein pädagogischer Ton anhaftet. Ganz im Gegenteil: „Yo, También“ ist über weite Strecken ein fröhlicher, ausgelassener Sommerfilm.

Liebe mit Down-Syndrom? Und wenn ja, wie viel?

Nicht zuletzt die überzeugenden SchauspielerInnen verleihen „Yo, También“ grosse Authentizität. Pablo Pineda, dessen Lebensgeschichte die Grundlage für das Drehbuch bildete, verkörpert Daniel mit sehr viel Hingabe und Sensibilität, während Lola Dueñas sich einmal mehr als starke Charakterdarstellerin erweist, die der Figur der Laura durch ein facettenreiches Spiel ungeahnte Tiefe verleiht. Bis in kleine Nebenfiguren hinein sind zudem die weiteren Rollen wenn auch nicht prominent, so doch sorgfältig besetzt. Alle Beteiligten zeichnen sich durch eine grosse Präsenz vor der Kamera aus, so dass man als Zuschauer auch die etwas mutwilligeren Abweichungen in der Handlung nicht ungern nachvollzieht. Zu diesen gehören etwa die Familiengeschichte Lauras oder der verzweifelte Fluchtversuch Pedros und Luisas, deren Liebe, die sie sich immer dringender auch körperlich zeigen wollen, aufgrund ihres Down-Syndroms von Luisas Mutter mit Misstrauen gesehen wird.

© Studio / Produzent
© Studio / Produzent

Während sich darüber streiten liesse, ob die Familiengeschichte der Figur von Laura die notwendige Tiefendimension gibt, oder ob sie den Film durch die Andeutung eines Missbrauchs durch ihren eigenen Vater zu sehr überlädt, dient das Liebespaar Pedro und Luisa sehr effektiv dazu, das Spektrum der Liebe mit Down-Syndrom zu erweitern und auch hier noch einmal die Frage nach Grenzen der Toleranz zu stellen. Natürlich sollen auch Menschen mit Down-Syndrom lieben dürfen – doch liegt auch eine sexuelle Beziehung drin? Unter welchen Voraussetzungen? Mit welchen Folgen?

Eine starke Stimme für eine faire Gesellschaft

Und endlich tut sich im Kreise all dieser Fragen eine weitere, entscheidende auf, die „Yo, También“ stellt, stellen muss – bei deren Beantwortung der Film aber kläglich versagt. Warum, so fragt man sich, wirkt Daniel trotz Down-Syndrom abgesehen von seinem Äusseren so normal? Wieso konnte ausgerechnet er es schaffen, ein Studium zu absolvieren, während die allermeisten Menschen mit Down-Syndrom in Pflegeinstitutionen untergebracht sind und dort wie geistig Behinderte behandelt werden? Diese Frage, die einen von Beginn des Films weg begleitet und im Kopf herumspukt, wird endlich von Laura gestellt. Seine Mutter habe halt, als er noch ein Baby war, immer viel mit ihm gesprochen und ihn auf jede erdenkliche Art gefördert, so sinngemäss die Antwort Daniels. Diese Antwort erscheint so plausibel wie beunruhigend. Ist in ihr nicht der implizite Vorwurf an alle Mütter von Kindern mit Down-Syndrom enthalten, die geistig nie auch nur annähernd an das, das wir als Normalität bezeichnen, herankommen? Würde diese Aussage stimmen, dann müsste es doch möglich sein, Menschen mit Down-Syndrom bei entsprechender Aufmerksamkeit durch ihr Umfeld eine Schul- oder sogar eine Berufskarriere zu ermöglichen. Leisten die Pflegeeinrichtungen für geistig Behinderte also schlechte Arbeit, weil sie ihre Schützlinge nicht annähernd so lebenstüchtig machen können wie Daniel?

Trotz dieser unbefriedigenden Erklärung für Daniels Erfolg ist „Yo, También“ ein sehenswertes Plädoyer für eine Gesellschaft, die weiss, dass sie nur dann ganz und heil genannt werden kann, wenn sie allen Menschen faire Lebenschancen bietet. Der Film verleiht den Menschen mit Down-Syndrom eine starke Stimme, indem er konsequent auf ihre Fähigkeiten hinweist. Eindrucksvollstes Beispiel dafür ist vielleicht die Tanztruppe „Danza Mobile“. Die Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich mit so viel Sicherheit, Energie und Ausdruckskraft, dass man als körperlich lediglich normal begabter Mensch nur staunen kann.

„Yo, También“ ist ein engagierter, warmherziger und humorvoller Film, der sich für die selbstverständliche Integration aller Menschen in unsere Gesellschaft stark macht. Manchmal sind die Figuren etwas überfrachtet, manchmal bleiben drängende Fragen offen, doch meistens schaut man, staunt man und fühlt mit.


Ab dem 5. August 2010 im Kino.

Originaltitel: Yo, También (Spanien 2009)            
Regie: Álvaro Pastor und Antonio Naharro
Darsteller: Lola Dueñas, Pablo Pineda, Isabel García Lorca, Antonio Naharro, Joaquín Perles, Teresa Arbolí
Genre: Drama
Dauer: 103 Minuten
CH-Verleih: Filmcoopi

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4 thoughts on “„Yo, También“ von Álvaro Pastor und Antonio Naharro

  • 06.08.2010 um 11:47 Uhr
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    Es kann bestimmt ein interessanter Film sein, obwohl der Film in die Ansage des Filmes ein bisschen idealistisch klingt. Er zwingt bestimmt zum Nachdenken über Normalitätet vs. Behindert-Sein, über die Stellung der behinderten Menschen in der Gesellschaft. Und wir brauchen solche Anregungen um über das Leben mit allen seinen Aspekten zu reflektieren.

  • 06.08.2010 um 17:14 Uhr
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    Ich stimme dir zu. Auch wenn im Film einiges arg vereinfacht und idealisiert wird, konfrontiert er einen doch auch klug mit den eigenen Vorurteilen. Kein filmisches Meisterwerk, aber ein Denkanstoss.

  • 11.08.2010 um 09:44 Uhr
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    Ich denke, man sollte mehr über Behindert-Sein sprechen. Die gesunden Menschen leben in ihrer eigenen Welt, die sehr verschlossen ist. Auch wenn die Menschen offen und hilfsbereit sind, wissen oft nicht, wie sie sich für andere engagieren sollen. Vielleicht wenn wir über diese Probleme sprechen, wird unsere Gesellschaft viel offener und freundlicher. Der Film eröffnet auf jeden Fall ein Diskussionsthema.

  • 05.12.2010 um 13:12 Uhr
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    Dieser Film hat mich berührt und sehr nachdenklich gestimmt. Er ist subtil, direkt und witzig-frech.
    Denke die beiden Filmemacher haben das heikle Thema mit viel Fingerspitzengefühl auf den Punkt gebracht. Tabuthemen zu durchleuchten, ist das eine, die präsentation das andere.
    Ich selber habe auch ein „persönliches Merkmal“ (Zitat von Pablo Pineda) nicht als Down Syndrom, sondern Körperlich. Wie Daniel hier im Film musste auch ich diese bittere Erfahrungen machen, in Sache Liebe. Es ist deshalb von grossem Wert so ein Film zu zeigen, damit die Menscheit erfährt das wir sogenannten „Anderen“ unsere normalen Bedürfnisse genau so ausleben wollen/dürfen/können, wie Jedermann und Jedefrau auch!
    Dieser Film ist nicht „härzig“ sondern enspricht ganz und gar der Realität. Mein Kompliment!!!

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