Roland Schimmelpfennig „Der goldene Drache“ (Stadttheater Bern, Vidmar 2)

Von Zahn- und anderen Schmerzen

Roland Schimmelpfennig „Der goldene Drache“ | Stadttheater Bern, Vidmar 2  | 4. November 2009 (Schweizer Erstaufführung)

Henriette Cejpek, Andri Schenardi, Stefano Wenk, Milva Stark und Diego Valsecchi (v.l.)Bild|Copyright: Philipp Zinniker
Henriette Cejpek, Andri Schenardi, Stefano Wenk, Milva Stark und Diego Valsecchi (v.l.) - Bild|Copyright: Philipp Zinniker

„Es isch emol en Maa gsi, dä het e hohle Zahn gha…“ Dieser Kindervers wird in Roland Schimmelpfennigs „Der goldene Drache“ wahr und zentriert die Geschichte rund um enttäuschte Sehnsüchte und Erwartungen, die sich allesamt im Mikrokosmos eines Mietshauses ballen. Die Schweizer Uraufführung in der Regie von Matthias Kaschig überzeugt durch das harmonische Ensemble und die schlichte Inszenierung.

Wenn nicht bloss ein dünnes Haar in der Suppe ist, sondern ein dicker, schmerzender Zahn, dann ist Schimmelpfennig. Der Deutsche Autor, aktuell als meistgespielter Gegenwartsdramatiker Deutschlands bewertet, zeigt die Dinge gerne in einer substantiellen Symbolik. So auch in seinem Stück über den bedrückenden Mikrokosmos eines Mietshauses, irgendwo in irgendeiner europäischen Stadt. In diesem Haus befindet sich das titelgebende asiatische Schnellrestaurant „Der goldene Drache“, in dem der besagte, verfaulte Zahn in einer Thai- und die Sehnsüchte und Erwartungen der Protagonisten in einer Gefühlssuppe landen. Wie es soweit kommt, wird in der Inszenierung von Regisseur Matthias Kaschig von Beginn weg temporeich und in einer dichten Abfolge verschiedenster Situationsausschnitten erzählt. Die Darsteller Henriette Cejpek, Milva Stark, Andri Schenardi, Diego Valsecchi und Stefano Wenk haben viel zu tun an diesem Abend, müssen sie doch in insgesamt 17 verschiedene Rollen schlüpfen und ständig von der einen zur anderen hin und her switchen, unabhängig von Alter und Geschlecht. Gleich als Vorwegnahme: Sie machen dies sehr überzeugend.

Geballte Gefühlsleiden
Schon ganz zu Beginn zeigt sich nämlich die Harmonie des Ensembles: Die Schauspieler drängen sich auf der schlichten Bühne aus weissen Wänden (Stefanie Liniger) auf einer Erhöhung perfekt choreografiert eng aneinander. In dieser Anfangsszene sind sie fünf Asiaten, alle in die gleichen Arbeitskleidung gesteckt (Kostüme: Romy Springsguth) die im “Goldenen Drachen“ kochen und Gemüse hacken – letzteres wird indiziert durch heftigstes, synchrones Auf- und Abbewegen der Arme, was angesichts des wohl unvermeidbar folgenden Muskelkaters sehr beeindruckt. Einer von ihnen (herrlich jammernd: Milva Stark) hat “stalke“ Zahnschmerzen – “der Kleine“, der neu in der Küchencrew und eigentlich auf der Suche nach seiner Schwester ist, hat aber keine gültigen Aufenthaltspapiere und kann deshalb nicht zum Zahnarzt. Die Asiaten ziehen den Zahn kurzerhand mittels Rohrzange selbst, was Stefano Wenk mit schaurig authentischen Knackgeräuschen begleitet. Dieses Ereignis umrahmend lässt sich in zig anderen Szenen einiges erfahren über die gefühlschaotischen Probleme der Stammkunden des Restaurants und die Bewohner des Hauses erfahren: Da wohnt ein junges Paar (Cejpek und Wenk) über dem “Goldenen Drachen“, dessen Verliebtheit durch die ungewollte Schwangerschaft der Frau auf die Probe gestellt wird. Da ist der Grossvater (Schenardi) ebendieser Frau, der seiner vergangenen Jugend nachtrauert. Da ist ein weiteres Paar (Stark und Valsecchi), das kurz vor der Trennung steht, weil die Frau einen andern Mann kennen gelernt hat. Da sind die beiden Flugbegleiterinnen Eva und Inga, die nach einem “anstrengenden Flug über die Anden“ Erholung in einem Thaigericht suchen – vergebens, denn dummerweise ist in der Suppe von Inga der gezogene Zahn gelandet. Sie nimmt ihn mit nach Hause, denn in diesem kariösen Zahn verbirgt sich weitaus mehr exotisch-mystisches Abenteuer, als sie auf ihren Flügen rund um die Welt je erfahren hat.

Milva Stark, Diego Valsecchi und  Stefano Wenk (v.l.)  Bild|Copyright: Philiip Zinniker
Milva Stark, Diego Valsecchi und Stefano Wenk (v.l.) – Bild|Copyright: Philiip Zinniker

La Fontaine als Inspiration
Und ausserdem ist da noch der Lebensmittelhändler Hans (wienerisch umgesetzt von Henriette Cejpek), der neben dem Imbiss eine junge Asiatin (hervorragend fragil gezeigt von Andri Schenardi) als Prostituierte gefangen hält. Diese beklemmendste aller Teilhandlungen des Stücks wird zunächst behutsam als Abwandlung von La Fontaines bekannter Tierfabel von der geschäftigen Ameise und der hungrigen Grille eingeführt; dadurch wird der Prostitutionsthematik zuerst an Tragik genommen, dafür aber später anhand der Missbrauchsszenen körperlich und deshalb unbequem plastisch expliziert.

Die Asiatin wird darin als Projektions- und vor allem als Missbrauchsfläche für alle enttäuschten Männer des Mietshauses dargestellt. Sie wird von allen aufs Übelste behandelt und schliesslich “kaputt gemacht“, wie es Hans ausdrückt. Ihr Bruder und potentieller Retter wäre nur eine Wand von ihr entfernt gewesen, allerdings verblutet er – der durch die ärmliche Herkunft faul gewordene Zahl hat eine noch faulere, weil leere Stelle mit ebenso leeren Hoffnungen hinterlassen. Der Chinese wird von seinen Kollegen in einen Fluss geworfen, in dem er durch alle Gewässer bis zu seiner Heimat metaphorisch “zurückfliesst.“

Regisseur Kaschig ist mit seinem Team eine sehr in sich stimmige Inszenierung gelungen, die mit einfachen, aber wirkungsvollen Einfällen arbeitet: durch den Wechsel von Requisiten und Kostümteilen wie Sonnenbrillen, Perücken, Bierdosen etc. werden Figurenwechsel angezeigt, durch die sprachlichen, durch passende Mimik und Gestik unterstrichene Realisierungen von Regieanweisungen wie “kurze Pause“ werden Gefühlszustande signalisiert. Die weisse, schlichte Bühne hilft optimal, die vielen Cuts und Wechsel in Szenen und Rollen nicht zusätzlich zu beladen. Schliesslich lebt die Inszenierung gerade von diesen vielen Perspektiven- und Ebenenewechseln, und bei aller Tragik stechen gerade die humorvollen Szenen hervor: Wie Stefano Wenk und Diego Valsecchi die gelangweilten und etwas dümmlich anmutenden Flugbegleiterinnen geben, ist Situationskomik as its best.

Besprechung der Premiere vom 4. November 2009 (Schweizer Erstaufführung).
Weitere Vorstellungen: 15. und 24. November 2009, 13. Dezember 2009, 9. und 27. Januar 2010, 21. Februar 2010.

Besetzung
Henriette Cejpek, Milva Stark, Andri Schenardi, Diego Valsecchi, Stefano Wenk

Inszenierung: Matthias Kaschig
Kostüme: Romy Springsguth
Bühne: Stefanie Liniger

Dauer: ca. 1 Stunde 30Minuten. Keine Pause

Im Netz
www.stadttheaterbern.ch


Zum Autor
Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit grossem Erfolg gespielt.
Quelle: fischerverlage.de

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