„The Tree“ von Julie Bertuccelli

Der Fall des Unerschütterlichen

„The Tree“ von Julie Bertuccelli

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Kann ein Film, dessen Hauptdarsteller ein Baum ist, berühren und überzeugen? Ja, er kann. Julie Bertuccelli bezaubert mit ihrem zweiten Spielfilm. Im Mittelpunkt steht die Natur mit all ihren wundervollen aber auch unheildrohenden Facetten und die tröstliche Kraft der Phantasie im Umgang mit dem Tod.

Von Aylin Tutel

Die Natur und das Leben sind voll von kleinen und grossen Wundern, die wir Menschen kaum zu verstehen vermögen. Müssen wir aber auch nicht. Wir können höchstens versuchen mit diesen umzugehen, jeder auf seine Art und Weise. So wie die Protagonisten in Julie Bertuccellis Film, einer Adaption des Buches „Our Father who art in the Tree“ von Judy Pascoe. „The Tree“ erzählt die Geschichte einer Familie, die versucht, nach dem Tod des geliebten Vaters wieder ins Leben zurückzufinden.

Den Rahmen für die Handlung bildet die weitläufige und eindrückliche Landschaft Australiens. Darin teilen sich Peter und Dawn (eine glänzende Charlotte Gainsbourg) mit ihren vier Kindern ein Haus, das neben einem riesigen Feigenbaum steht. Nach der Rückkehr Peters von einer Geschäftsreise (herrlich, wie ein Fertighaus ans andere Ende des Landes gefahren wird) erliegt er plötzlich einem Herzinfarkt.

© Studio / Produzent
© Studio / Produzent

Jedes der Familienmitglieder geht anders um mit dem Tod des Vaters. Ab hier fokussiert der Film vor allem auf die Mutter Dawn und die achtjährige Tochter Simone (grossartiges Debut von Morgana Davies). Während Dawn den unermesslichen Schmerz kaum verarbeiten kann, bis weit in den Tag hinein im Bett liegt und soziale Kontakte meidet, entscheidet sich Simone für das Glücklichsein. Zuflucht findet die Achtjährige in ihrer Phantasie: Sie ist überzeugt davon, dass ihr Vater im mächtigen Feigenbaum weiterlebt. Als sie ihre Mutter in ihr Geheimnis einweiht, wird auch Dawn in den Bann des Baumes gezogen – der Baum als Sinnbild für die Verwurzelung mit der Erde und dem Unergründlichen.

Aufsässige Wurzeln

Acht Monate vergehen. Auf der Suche nach Wasser dehnen sich die Wurzeln des Baums immer weiter aus und blockieren die Wasserrohre auf dem Grundstück. Dawn wendet sich an einen Klempner, George (Marton Csokas), der nicht nur die Verstopfung der Leitungen, sondern auch die Traurigkeit Dawns’ löst. In seinem Geschäft für Sanitäranlagen kann Dawn zusätzlich die Stelle als Buchhalterin und Verkaufskraft antreten. Schüchtern tasten sich die beiden Erwachsenen einander an. An dieser neu entstandenen Liaison zwischen George und Dawn scheint sich, abgesehen von der eifersüchtigen Simone, nur noch der Baum zu stören: Eines Nachts bricht plötzlich einer der gewaltigen Äste in das Schlafzimmer von Dawn. Diese ist aber kaum verängstigt, im Gegenteil, sie schläft noch tagelang mit dem Ast im Bett, als ob sie in den behutsamen starken Armen ihres Mannes liegen würde.

Mit diesem einstürzenden Geäst steigt die Dramaturgie allmählich an. Die riesigen, sich stetig ausbreitenden Wurzeln rütteln am Fundament des Hauses. Das Kräftemessen zwischen Natur und Mensch spitzt sich weiter zu.

Neue Vergabelungen

Wie geht das Leben nach dem Tod eines geliebten Menschen weiter? Die Regisseurin bettet diese Frage in eine umwerfende Naturkulisse ein und setzt sich mit ihr besinnlich und phantasievoll auseinander. „The Tree“ besticht vor allem dadurch, nie ins Esoterische auszuarten, obwohl der Baum mit einem Toten assoziiert wird. Während Dawn und Simone mit dem Baum reden, hört dieser bloss zu. Antworten erhalten die beiden durch einen Windhauch, durch raschelnde Blätter oder knackende Äste. Diese Einbildungskraft gibt der Mutter und der Tochter Halt, die sich allein durch die Präsenz der mächtigen Pflanze geborgen und sicher fühlen. Die in warmen Farben gehaltenen Bilder unterstreichen diese behagliche Stimmung zusätzlich.

„Trauer, die sich verflüchtigt und sich in Wasser verwandelt“ – ein Zitat aus Milan Kunderas’ „Das Leben ist anderswo“, welches das Filmende andeutet. Die Naturkatastrophe, einem (ohn-)mächtigen Gefühlsausbruch gleich, scheint den Verlust und Schmerz ein wenig wegzuspülen. So fest verwurzelt der Baum auch sein mag, selbst dieser Bindung kann man sich nicht hundertprozentig sicher sein. Alles kann einstürzen, das Leben kann aus der Bahn geworfen werden. Aber umgeworfene Strukturen können neue Weggabelungen öffnen und das Schlagen von neuen Wurzeln ermöglichen.


Seit dem 10. März 2011 im Kino.

Originaltitel: The Tree (Frankreich, Australien, Deutschland, Italien 2010)
Regie: Julie Bertuccelli
Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Morgana Davies, Marton Csokas
Genre: Drama
Dauer: 92 Minuten
CH-Verleih: Filmcoopi

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